Afghanin rettet als Mann ihr Leben
Nadia Ghulam ist in Sicherheit. Sie lebt nicht mehr in Afghanistan, sie lebt in Spanien. Nadia muss nicht mehr um ihr Leben fürchten, wie zurzeit Tausende von Afghaninnen und Afghanen. Das Land, das heute, nach jahrzehntelanger Besatzung durch fremde Streitkräfte, wieder sich selbst überlassen ist. Das Land, in dem sich die Taliban wieder an die Macht morden. Das Land, das gerade zurückfällt in die Steinzeit.
Nadia Ghulam hat lange dort gelebt. Als sie es verließ, war sie noch der Junge Zelmai. „Das Geheimnis meines Turbans“ erzählt die wahre Geschichte des Mädchens Nadia, das nach einem Bombenangriff im Afghanistan der 1990er Jahre schwer verletzt wird. Nadia, die schwere Verbrennungen am ganzen Körper und im Gesicht hat, überlebt nur knapp, ihr älterer Bruder stirbt. Von der Mutter gepflegt und betreut, verbringt sie drei Jahre lang in Krankenhäusern.
Als sie entlassen wird, wird ihr Leben nicht einfacher. Denn der Vater, über dem Tod seines Sohnes depressiv geworden, fällt als Ernährer der Familie weg, die Familie hungert. Also entscheidet Nadia, dass sie fortan als Mann leben wird. Sie schlüpft in die Identität ihres toten Bruders Zelmai und geht nun arbeiten, um für die Familie Geld zu verdienen.
Zehn Jahre lang arbeitet Nadia-Zelmai als Tagelöhner auf Feldern, hebt Brunnen aus und geht in die Koranschule. Anfangs muss sie sich das Mannsein noch hart erarbeiten: ruppig sein, sich prügeln, nicht lächeln. Irgendwann ist sie drin in der anderen Rolle. Kinobesuche mit ihrer Jungenclique, Fußball-Spielen im Dorf. Aber Nadia geht noch weiter. Sie assistiert dem Mullah in der Moschee, und spricht eines Tages vor den ehrfürchtigen Männern sogar selber das Gebet. Und sie treibt es – zu ihrem rückblickenden Entsetzen – auf die Spitze: Im Auftrag der Taliban zieht sie, zusammen mit der Religionspolizei, mit einem Stock in der Faust von Haus zu Haus und treibt die Menschen in die Moschee.
Atemlos verfolgt man ihre Geschichte. Ihr immer dreisteres Leben als Mann. Aber auch ihre ständige Angst, aufzufliegen. Sie verliebt sich in ein Mädchen, sie verliebt sich in einen Jungen. Es scheint ihr zunehmend über den Kopf zu wachsen. Und dann, eines Tages, beginnt Nadia ihren langen und schweren Ausstieg.
Irgendwann offenbart Nadia sich der Schuldirektorin einer Mädchenschule und darf fortan in Männerkleidung am Unterricht teilnehmen. Allmählich nimmt sie Abschied vom Mannsein. Doch die einmal erlernten „männlichen“ Fähigkeiten kann sie weiterhin gut gebrauchen. Nadia boxt sich durch zu NGO-Organisationen, die ihr finanzielle und psychische Hilfe geben können. Und erreicht es schließlich, dass sie das Land verlassen kann.
Heute lebt Nadia in Spanien, hat studiert und engagiert sich in einer NGO für Kinder in Afghanistan, für geflüchtete Menschen im Mittelmeerraum und für die Rechte von Frauen und Mädchen weltweit. Die Stärke von Zelmai hilft ihr dabei.
Nadia Ghulam, Agnès Rotger: Das Geheimnis meines Turbans. Übersetzung: Silke Kleemann (cbt, 10 €)
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