Agatha Christie: Die Krimi-Queen
Im Jahre 1962 fand im Londoner Savoy-Hotel ein besonderes Ereignis statt. Zum zehnjährigen Premierenjubiläum des im Londoner Westend en suite gespielten Stücks „Die Mausefalle“ gab der Produzent Peter Saunders eine große Party; alles, was im Theatermilieu Rang und Namen hatte, war geladen. Etwa eine halbe Stunde vor Beginn bewegte sich eine alte Dame schnaufend die Treppen empor und auf die Saaltür zu, der Saaldiener trat ihr entgegen und rief: „Stop! Bitte, Madam, ziehen Sie sich zurück. Einlass ist erst in 20 Minuten.“ Die Dame machte erschrocken kehrt. Und dies hat sie später aufgeschrieben: „Warum ich den Satz: ‚Ich bin Mrs. Agatha Christie, und man hat mich gebeten, schon früher zu kommen‘, nicht über die Lippen brachte, weiß ich nicht. Es war meine entsetzliche Schüchternheit, gegen die ich machtlos war.“
Unten im Foyer traf sie auf ihren Produzenten Saunders und seine Sekretärin und erzählte, was passiert war. Die beiden lachten schallend. „Typisch Agatha!“ Sie führten ihren Stargast die Treppe wieder empor. Heute wird „Die Mausefalle“ im 71. Jahr aufgeführt. Für Touristen aus aller Welt ist der Theaterbesuch ein Muss. Bei vielen Pauschalreisen gehört er ins Paket.
Dass die weltberühmte Schriftstellerin Agatha Christie, Schöpferin der wunderbaren Miss Marple, zu schüchtern war, um sich Zugang zu ihrer eigenen Party zu verschaffen, klingt überraschend. Aber so war Agatha. Sie war in den 1960er Jahren die umsatzstärkste Autorin der Welt, nur die Bibel und Shakespeare lagen noch vor ihr auf der Topseller-Liste. Am Ende ihres Lebens hatte sie 66 Kriminalromane, 23 Theaterstücke, sechs Romane (unter dem Pseudonym Mary Westmacott), eine Autobiografie und eine unübersehbare Menge von Short Stories verfasst. In England wurde sie geadelt, im Ausland mit Preisen geehrt, ihr Werk in die Sprachen der Welt übersetzt. Mehr als zwei Milliarden Bücher hat Agatha Christie schätzungsweise verkauft.
Nur die Kritik war ihr oft nicht grün. Man hielt ihre Romane für „trivial“, ein Verdikt, dass sich bei näherem Hinsehen nicht aufrecht erhalten lässt; schon die pure Dimension ihres Erfolges gebietet Zweifel.
Obschon also Christie nach und nach zu einer weltberühmten Figur wurde, deren Namen jeder kannte, scheute sie doch die Öffentlichkeit wie der Teufel das Weihwasser, gab fast nie Interviews, ließ keine Homestories schreiben, sondern die Journalisten und Fotografen vom Hof jagen. So hatte denn auch der arme Saaldiener vom Savoy Hotel Agathas Konterfei nicht vor Augen, er konnte nicht wissen, dass es Christie in Person war, die er verscheuchte.
Geboren wurde Agatha Miller 1890 im Modebad Torquay. Die Familie war wohlhabend, Agathas Geschwister sehr viel älter. Also spielte sie meist allein, betreut von ihrer Nurse, an der sie sehr hing. „Nursie“ war es auch, die ihrer Herrin eine schlimme Nachricht überbringen musste, als Agatha gerade fünf geworden war: „Ich fürchte, Madam, Miss Agatha kann lesen.“ Zu viel Lesen galt insbesondere für Mädchen als pädagogisch bedenklich, es sei denn, die Lektüre beschränkte sich auf die Bibel. Die Millers waren gläubig, aber sonst eher liberal. Agatha durfte lesen, was sie wollte.
Der Frauenhaushalt, in dem das Mädchen groß wurde: die geistvolle Mama Clara, die ehrgeizige große Schwester Madge, die beiden Großmütter, Jane, die beleibte Köchin und die herzensgute Nursie – sie alle förderten die Jüngste und forderten sie heraus. Agatha wurde zu Hause unterrichtet, ging nur kurz in ein Institut für Töchter und zur Abrundung der Erziehung nach Paris. Inzwischen war Mr. Miller gestorben, er hinterließ leider nur Schulden. Die Frauen mussten sich einschränken und das prächtige Anwesen Ashfield in der Saison vermieten. Die Familie zog dann in den Süden, etwa nach Ägypten, wo das Leben billiger war.
Agatha Christie hat von sich selbst behauptet, nur einen Zukunftsplan gekannt zu haben: zu heiraten, Kinder zu bekommen und einem Hauswesen vorzustehen, möglichst einem Landsitz wie Ashfield. Und dass sie sich eigentlich nie als Berufsschriftstellerin sehen konnte. Das stimmt aber nur halb. Schwester Madge schrieb Theaterstücke – und war durchaus ein Vorbild. In Paris nahm Agatha Gesangstunden, weil sie unbedingt zur Opernbühne wollte; auch am Klavier war sie so gut, dass sie eine Laufbahn als Pianistin anvisierte. Aber es wurde nichts draus, und daran war ihre enorme Schüchternheit schuld. Beim Gesang kam eine Schwäche in der Mittellage hinzu, die es ihrer Stimme erschwerte, einen Saal zu füllen. Also steckte Agatha ihre Karrierepläne auf – und heiratete: den Flieger Archie Christie, der keinen hohen Sold bezog, aber sehr gut aussah. Das war es, was sie sich vorgestellt hatte, und sie war sehr zufrieden, als sie endlich Mrs. Christie hieß und Archie nach dem Ersten Weltkrieg einen guten Posten bei einer Bank erhielt.
Doch es blieb ein Sehnen in ihrer Seele: der künstlerische Ehrgeiz. Schon vor der Hochzeit hatte Agatha angefangen zu schreiben: einen Roman, der in Ägypten spielte, aber niemand wollte ihn herausbringen. Mit ihrem nächsten Buch hatte sie Glück: Der Verlag Bodley Head nahm ihn an. Das war vor genau hundert Jahren, 1920, und es war ihr erster Krimi: „Das fehlende Glied in der Kette“. Man bot ihr einen Knebelvertrag: Weitere fünf Romane für Bodley Head und Tantiemen erst, wenn 2.000 Stück verkauft waren. Agatha war das alles egal. Sie war überglücklich, dass aus dem „Fehlenden Glied“ jetzt ein richtiges Buch werden würde.
Der schrullige kleine Detektiv aus Belgien mit dem scharfen, analytischen Verstand namens Hercule Poirot, den sie erfunden hatte, erblickte das Licht der Welt. Er war eitel genug, es zu genießen. Sie selbst, Agatha Christie, würde im Hintergrund bleiben und sich um ihre kleine Tochter Rosalind kümmern. Wie angenehm.
Ihr Mann Archie hatte nichts dagegen, dass seine Frau schrieb und dann auch noch für Geld. Er fand das gut und beriet sie in geschäftlichen Dingen. Es dauerte noch eine Weile, bis Agatha erkannte, dass auch sie Ehrgeiz besaß und den Erfolg wollte. Sie fand einen Agenten, der ein Freund wurde und einen neuen Verlag, dem sie treu blieb: Collins.
Im Jahre 1926 veröffentlichte sie einen ihrer umstrittensten Krimis: „Alibi“. Dieser Roman hat ein so überraschendes Ende, dass er Agatha schlagartig über die Szene der Krimi-Liebhaber hinaus berühmt machte.
Aber sie konnte mit diesem Ruhm nichts anfangen, ja, sie nahm ihn gar nicht recht wahr, weil sie in jenem Jahr so niedergeschlagen und verzweifelt war, dass sie ständig weinte. Grund: Archie verlangte die Scheidung, weil er eine Andere liebte. Lange weigerte sich Agatha, ihn frei zu geben. „Denk doch an Rosalind!“ In diesem Unglücksjahr starb auch noch Agathas geliebte Mutter.
Agatha setzte sich in ihr Auto und fuhr weg. Elf Tage lang war sie verschollen. Die Polizei und die halbe Nation suchten nach ihr. Man fürchtete, der untreue Ehemann habe sie in den Freitod getrieben, es gab sogar den Verdacht, er habe sie ermordet! Als Agatha endlich wieder auftauchte, glaubte man, sie habe einen Christie-Krimi mit sich selbst als Opfer und ihrem Mann als Täter inszeniert, also eine Art Werbe-Coup landen wollen. Aber Agatha hatte nur entlang der Frage: To be or not to be? über ihr Leben nachgedacht. (Shakespeare war ihr Lieblingsdichter und „Hamlet“ ihr Lieblingsstück.) Sie sprach nie über diese elf Tage. Und sie ließ Archie ziehen.
Ihr neues Leben war, abgesehen vom nächsten großen Krieg, unbeschwert, erfüllt von Arbeit, Reisen und der Familie gewidmet. Im Orient, wohin sie aus lauter Neugier allein gefahren war, lernte sie ihren zweiten Mann kennen: Max Mallowan, einen 14 Jahre jüngeren Altertumsforscher, mit dem sie große Reisen unternahm und von dem sie das Handwerk der archäologischen Grabung lernte. Etliche ihrer Romane spielten nun in Syrien und dem Irak, bzw. „Mesopotamien“, wie man damals sagte.
Agathas Ruhm wuchs, sie wurde sehr reich, kaufte gern heruntergekommene alte Villen, und ließ sie mit viel Sorgfalt restaurieren. Pro Jahr schrieb sie zwei Krimis und erfand als Gegenpol zu Poirot die Hobby-Detektivin Miss Marple, eine alte Lady mit scharfer Beobachtungsgabe und genialer Intuition, die ihren Mitmenschen stets das Schlimmste zutraut – und damit fast immer richtig liegt. Nicht zuletzt durch die Filmversionen mit der genial-schrulligen Margaret Rutherford als Miss Marple eroberte Christie bis heute ein Fan-Publikum.
Dabei hatte die Autorin ihre weibliche Detektivfigur als eine typisch englische „Spinster“ entworfen: eine feinnervige, spindeldürre Dame, genau das Gegenteil der korpulenten, lauten Rutherford. So war sie über diese Besetzung anfangs ziemlich ungehalten – der Erfolg stimmte sie allerdings um, zumal sie Rutherford persönlich und als Schauspielerin sehr schätzte.
In späteren Jahren war es dann doch noch die Bühne, für die Christie arbeiten und deren Luft sie bei den Proben schnuppern durfte. „Die Zeugin der Anklage“ wurde auf der Bühne und im Kino mit Marlene Dietrich und Charles Laughton ein Hit, die „Mausefalle“ das erfolgreichste Theaterstück aller Zeiten weltweit.
Agatha Christie starb 85-jährig in ihrem Lieblingshaus Winterbrook in Wallingford. Eine große Schar von Journalisten und Fotografen belagerten das Haus, um Einzelheiten über ihr Ende zu erfahren. Agathas Witwer Max und Tochter Rosalind jagten sie vom Hof. Was immer Agatha zu sagen hatte, über die weite Welt und die menschliche Natur, es steht in ihren Büchern.
Weiterlesen: Barbara Sichtermann: Agatha Christie. (Osburg Verlag)
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