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Die Berliner Schriftstellerin war im Land des Lächelns. Doch dasselbe ist ihr dort vergangen. Fragt sich nur, warum.

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Ich bin froh, endlich im Land des Lächelns gewesen zu sein. Besonders, seit das im Plusquamperfekt steht. Das Lächeln ist bloßer Mythos. Pure Schönrederei. Was sicher mit der Sprache zu tun hat in einem Land, in dem, wer einen Film sehen will, nicht ins Kino geht, sondern ins ‚Institut der elektrischen Schatten‘.
Ich will nicht sagen, dass überhaupt nicht gelächelt wird. Es passiert überall, an der Rezeption, im Taxi, auf dem Markt, auf einer Konferenz. An der Rezeption des Nobelhotels für westliche Touristen hatte man gelächelt, als man mir ausrichtete, dass es im ganzen Haus keine Vase gebe. Taxifahrer lächelten, wenn sie, ohne anzuhalten, stundenlang auf einer der Hauptstraßen vorbeifuhren, die Taxis leer. Auf dem Markt gaben sie mir lächelnd einen Haufen Scheine raus. Jede Menge Falschgeld, wie sich hinterher herausstellte. Sie lächelten auch auf der Konferenz.
Man hatte uns in ein Sprachinstitut in Peking gesetzt, um uns herum die führenden Schriftsteller des Landes, hinter uns ein rotes Banner mit einem Willkommensgruß, aber das konnte von uns niemand lesen. Wir stellten unsere Bücher vor, jemand fragte sofort: „Wie fühlen Sie sich denn so beim Schreiben als Frau?“ Ich sagte: „Gar nicht.“
Was wahrscheinlich nicht korrekt übersetzt worden ist. Ich sagte: „Schreiben ist eine der wenigen Möglichkeiten, festen Identitäts-Modellen zu entkommen, weshalb ich es vorziehe, beim Schreiben nicht ich zu sein, solange dieses Ich eine von außen an mich herangetragene Eingrenzung nach Alter, Rasse, Gewicht und Geschlecht darstellt. Übrigens muss ich bei solchen Fragen kotzen, das übersetzen Sie bitte nicht.“ Ich holte Luft.
Über die führenden Schriftsteller brach ein kapuzenhaftes Lächeln herein. Es stülpte sich über ihre Gesichter, als sei ein bisschen Fahnenstoff heruntergerutscht. In der Mitte saß eine Frau. Sie war das erklärte Jung-Genie. Sie hatte mit zwanzig vier Bücher geschrieben, aber noch kein Wort gesagt, während die führenden Schriftsteller von ihr als dem schönen jungen Mädchen sprachen: „Das schöne junge Mädchen hier kann vielleicht bestätigen, dass die weiblichen Autoren in unserem Land nicht viel von Politik verstehen, sie schreiben auch nicht davon.“
Das schöne junge Mädchen betrachtete jetzt mich. Aufmerksam. Interessanterweise ohne zu lächeln. Vielleicht sah sie die Konkubinen des Kaisers hinter mir vorüberziehen. Vielleicht dachte sie daran, dass der Kommunismus zu einem leeren Versprechen geworden war.
„Nicht alles Geschriebene wird auch publiziert“, sagte das Jung-Genie plötzlich, dann dachte es nach. Sofort sprang einer der führenden Schriftsteller ein. „Weißt du denn nicht, wie unsereiner fühlt?“ sagte er zu ihr. Und mir fiel das milde Lächeln ein im Gesicht jenes Mannes, den ich am Tag zuvor seine Frau über die Straße hatte führen sehen. Sie hielt den Kopf gesenkt, so dass für seine Faust viel Platz auf ihrem Nacken war; ihr Haar hatte er um seine Finger gewickelt, er zog es stramm. „Mein Sohn hat die ganze Nacht geweint. Weil er sich unglücklich in ein Mädchen verliebt hat“, sagte der führende Schriftsteller. „Siehst du: Wir lieben euch doch!“
Es ging dann nicht mehr viel um Bücher, wir erwähnten noch, dass politisches Interesse unter deutschen Autoren nicht unbedingt geschlechtsabhängig sei, die führenden Schriftsteller behielten ihr Lächeln auf. „Na“, rief uns einer von ihnen strahlend zu, „die deutsche Literatur hat ja seit der Klassik auch nichts Nennenswertes mehr hervorgebracht!“ Er war Doktor der Germanistik.
Am Mittagstisch saß er neben mir. Ich war dem getrockneten Blut in Öl und den eingelegten Quallen knapp entkommen, als ein vielversprechender Teller auf der Drehplatte auf uns zu kam: aufgetürmte rosa Blüten, mein Nachbar nahm sich einen Löffel davon. Ich tat es ihm nach. Er vermied es allerdings, sie zu essen. Was ich leider erst sah, als mir bereits der Mund explodierte. Die Blüten fingen an zu summen, im Gaumen, im Rachen, im Hals-Nasen-Ohren-Bereich sirrte es, als hätte ich in einen Ameisenhaufen gebissen. Was ungefähr der hundertfachen Wirkung von Brausepulver entsprach.
„Oh, das dürfen Sie doch nicht essen“, richtete mir der Doktor freundlich via Dolmetscherin aus. Er konnte deutsch, aber so musste er nicht direkt mit mir sprechen. Er saß tief über seine Schüssel gebeugt. Wahrscheinlich lächelnd. Und wahrscheinlich hätte er am liebsten gefragt: Wie fühlen Sie sich denn so beim Sterben als Frau? Aber es war schon zu spät.
Ich war in Ohnmacht gefallen. Genauer: Hinter meinen Augen blühten unzählige Blumen in unendlicher Pracht, wie Ohnmacht so schön auf Chinesisch heißt.

Antje Strubel, EMMA 4/2005
Dieser Artikel gehört zum

Dossier: China

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