Claudine Gay: Räumt auf in Harvard

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In Harvard wird oft Geschichte geschrieben. Die Universität an der Ostküste der USA ist das Flaggschiff der US-amerikanischen Bildungselite, eine Wiege der Macht. John F. Kennedy, Henry Kissinger, Bill Gates, Mark Zuckerberg, Michelle und Barack Obama sind Harvard-AbsolventInnen.

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Ab Juli wird der 1636 gegründeten Universität die erste schwarze Frau vorstehen, Claudine Gay. Bis dahin ist sie noch die Dekanin für Geisteswissenschaften, der größten Fakultät von Harvard. US-Medien wie die New York Times überschlagen sich, bewerten die Ernennung Gays als „historisch“. In der Geschichte aller acht Ivy-League-Universitäten gab es bislang nur eine Frau an der Spitze, Ruth Simmons, die elf Jahre lang der Brown-Universität in Rhode Island vorstand. Nun also die erste schwarze Frau.

Seit 2006 ist Claudine Gay Professorin für Regierungslehre, Politikwissenschaften und afrikanische Geschichte. Ihre Forschung zu Auswirkungen von sozialer Ungleichheit auf die politische Teilhabe gilt als bahnbrechend, ebenso die der Auswirkungen von Kinderarmut auf Bildungschancen. Das ist nicht so weit von ihr selbst entfernt. Bekanntheit erlangte sie dadurch, dass sie 2019 den Ausschuss in Harvard leitete, der den hochrenommierten Wirtschaftsprofessor Roland Fryer wegen sexueller Belästigung suspendierte.

Gegen mehr als 600 Mitbewerber hat sich die New Yorkerin nun durchgesetzt und wird in Kürze als Präsidentin einer der reichsten Universitäten der Welt über ein Stiftungsvermögen von 52 Milliarden Dollar verfügen.

Eine ihrer Hauptaufgaben wird sein, den „Elfenbeinturm“, den Ort der geistigen Unberührtheit, den Harvard wie wohl keine andere Uni verkörpert, auf den Boden der Tatsachen zu holen. Die Studierendenvertretung forderte Gay bereits auf, Konsequenzen aus einem kürzlich veröffentlichten Bericht über Harvards Rolle in der Sklaverei zu ziehen. Der Aufstieg der Hochschule hänge untrennbar mit der Arbeit versklavter Menschen zusammen, so das Ergebnis der WissenschaftlerInnen. Außerdem soll Claudine Gay für mehr Frauen und mehr Vielfalt – sowohl unter den DozentInnen als auch unter den StudentInnen – sorgen.

Bislang stammt das Gros der StudentInnen aus reichen, weißen Kreisen. Seit Jahren wird das elitäre Vergabesystem für Studienplätze kritisiert. Klar im Vorteil ist, dessen Eltern selbst in Harvard studiert haben. Wohlhabende, einflussreiche Familien gehören zu den großen Geldgebern der Uni und wollen mit ihren großzügigen Spenden die eigenen Sprösslinge in das Netzwerk eingespeist wissen. Wer aus einer solchen Familie kommt, hat eine fünfmal größere Chance, in Harvard angenommen zu werden.

Der Oberste Gerichtshof könnte im Juni 2023 eine Entscheidung fällen, mit der die Universität zu einer Überarbeitung ihrer Zulassungsverfahren gezwungen wäre. Mit der Bevorzugung von StudentInnen, deren Mutter oder Vater selbst in Harvard studierte, wäre dann Schluss. Claudine Gay übernimmt das Flaggschiff in stürmischen Zeiten.

Claudine Gay mit ihrem Ehemann Christopher Afendulis bei ihrer Ernennung zur Präsidentin. - Foto: Getty Images
Claudine Gay mit ihrem Ehemann Christopher Afendulis bei ihrer Ernennung zur Präsidentin. - Foto: Getty Images

Die neue Harvard-Präsidentin kommt auch aus einer anderen Welt – aus der Bronx, dem ärmsten der fünf New Yorker Stadtteile. Die 52-Jährige ist die Tochter haitianischer Einwanderer. Ihre Mutter war Krankenschwester, ihr Vater Bauingenieur. Die designierte Präsidentin wuchs teilweise in Saudi-Arabien auf, wo ihr Vater zum Ingenieurkorps der US-Armee gehörte.

Gay ist verheiratet und Mutter eines Sohnes. Eine Cousine von ihr ist die Schriftstellerin und Feministin Roxane Gay. Gay hat sich ihren Zugang zur Bildungselite mit ihrer Brillanz erkämpft. „Meine Eltern haben sich hochgearbeitet und mit wenig Geld mein Studium finanziert. Für sie war Bildung der Schlüssel für ein gutes Leben, der Schlüssel für alles“, sagt sie. Drei Berufe haben die Eltern der Tochter zur Wahl gestellt: Ingenieurin, Ärztin, Anwältin. Mit dem Amt der Präsidentin von Harvard hätten selbst diese ehrgeizigen Eltern nicht gerechnet.

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