Freiheit & Lust? Das Sex-Drama
Wir kommen gleich zum Höhepunkt. Denn der ist zwar nicht der einzige, aber doch ein ziemlich wichtiger Indikator dafür, wie es zwischen Frauen und Männern mit der Sexualität läuft. Und wir sehen: Es könnte besser laufen.
Auch im Jahr 2025, also im Jahr 50 nach dem „Kleinen Unterschied“, gibt es zwischen den Geschlechtern immer noch einen großen Unterschied bei der sogenannten „Orgasmus-Frequenz“. Während nahezu alle Männer, nämlich 95 Prozent, beim Sexualakt zum Höhepunkt kommen, ist das nur bei drei von vier Frauen der Fall.
Das hat das renommierte Hamburger „Institut für Sexualforschung“ gerade in seiner Studie „Gesundheit und Sexualität in Deutschland“ (GeSiD) ermittelt, für die knapp 5.000 Frauen und Männer befragt wurden. Und die ForscherInnen liefern auch gleich einen entscheidenden Grund dafür, dass jede vierte Frau nicht kommt: Das, was Frauen zum Orgasmus bringen könnte, kommt beim Hetero-Sex kaum vor. Stattdessen: „Die mit Abstand häufigste Sexualpraktik ist der vaginale Geschlechtsverkehr.“
Genauer: Auf die Frage, welche Sexualpraktiken beim heterosexuellen Geschlechtsakt „im letzten Jahr“ angewandt wurden, antworteten 92 Prozent der 26- bis 35-jährigen Frauen: Vaginalsex. Bei den 36- bis 45-Jährigen waren es 89 Prozent. Oralsex hatten drei von vier Frauen. Leider haben es die ForscherInnen versäumt nachzufragen, ob da der Frau Vergnügen bereitet wurde, oder ob womöglich sie dem Mann einen „Blowjob“ gegeben hat – was nicht zufällig eher nach Arbeit als nach Vergnügen klingt.
Analsex hatte in den Altersgruppen bis 45 jede fünfte bis sechste Frau (Frauen über 45 praktizieren ihn so gut wie gar nicht) und der bereitet Frauen, wie Studien zeigen, oft eher Schmerz als Freude. Bleibt die manuelle Stimulation, die in der Studie unter „andere genitale Kontakte“ subsumiert ist. Die gibt es nur bei der Hälfte der Frauen zwischen 18 und 45, bei den älteren noch seltener.
Dabei hat sich doch inzwischen durchaus herumgesprochen, dass das Zentrum der weiblichen Lust nicht die Vagina ist. Denn die ist weitgehend nervenfrei, was die Natur schlauerweise so eingerichtet hat, weil eine Geburt ansonsten noch schmerzhafter wäre, als sie sowieso schon ist. Die „Königin der Lust“ (siehe S. 39) ist die Klitoris. Dass sie stimuliert werden muss, damit Frauen zum Orgasmus kommen, ist heutzutage zwar – mehr oder weniger – Allgemeinwissen. Und auch, dass das kleine Wunderorgan in Wahrheit ziemlich groß ist. Dass es – wie der Penis – bis zu elf Zentimeter lange Schwellkörper hat, die bei der Frau im Körperinneren liegen, wird nun – endlich! – auch in Schulbüchern abgebildet.
Aber: Das bedeutet nicht automatisch sexuelle Erfüllung für Frauen. Denn: Wissen bedeutet noch nicht handeln.
Aus den Studien geht hervor, dass Frauen Sex weniger positiv erleben als Männer
„Dass ich weiß, dass ich eine Klitoris habe und da so und so berührt werden muss, heißt nicht, dass ich das dann auch durchsetze“, sagt Sexualtherapeutin Bettina Kirchmann (siehe S. 48). „Da sind Frauen oft sehr gefangen in dem Glauben: Ich darf nicht zu hohe Ansprüche stellen, denn dann bin ich kompliziert.“
Dabei sind die Frauen, die die Düsseldorfer Therapeutin wegen „Lustlosigkeit“ konsultieren, schon diejenigen, die die Beachtung ihrer Klitoris beim Sex durchaus durchsetzen könnten: Berufstätige, gut situierte Frauen, die mit ihren Männern auf Augenhöhe über Sex kommunizieren könnten – theoretisch.
Wenn schon die es nicht wagen, was ist dann erst mit denen, die es sich aufgrund finanzieller Abhängigkeit buchstäblich nicht leisten können, Sex-Praktiken einzufordern oder abzulehnen? Von denen, die in Gewaltbeziehungen leben, ganz zu schweigen.
Und dabei geht es keineswegs nur um fehlende Orgasmen. Die Hamburger ForscherInnen formulieren es, nach umfassender Sichtung der Studienlage, so: „In den meisten modernen Gesellschaften ist das sexuelle Vergnügen von Frauen im Allgemeinen immer noch dem Vergnügen von Männern untergeordnet. Es gibt Hinweise darauf, dass Frauen im heterosexuellen Kontext Sex anders und wesentlich weniger positiv erleben als Männer. Die Forschung zeigt, dass Frauen viel seltener einen Orgasmus erleben als Männer, dass Schmerzen beim Sex bei Frauen viel häufiger vorkommen und dass Frauen bei heterosexuellen Begegnungen viel mehr Gewalt ausgesetzt sind als Männer.“
In den USA hat das Phänomen seit einigen Jahren einen Namen: „The Pleasure Gap“ – die Lust-Kluft. „Untersuchungen zeigen, dass 30 Prozent der Frauen über Schmerzen beim vaginalen Sex berichten, 72 Prozent haben Schmerzen beim analen Sex und eine ‚riesige Menge‘ von ihnen sagt ihren Partnern nicht, wenn ihnen Sex weh tut“, schreibt Lili Loofbourow in ihrem Buch „The Female Price of Male Pleasure“ (Der Frauen-Preis für die Männer-Lust). Die US-Journalistin zitiert Professorin Debbie Herbenick, die an der „National Survey of Sexual Health and Behavior“ mitgewirkt hat, mit einem Satz, der zeigt wie tief der sexuelle Geschlechtergraben ist: „Wenn es darum geht, was ‚guter Sex‘ ist, meinen Männer oft Sex, bei dem sie zum Orgasmus gekommen sind. Frauen meinen oft Sex, bei dem sie keine Schmerzen hatten.“
„Die amerikanische Kultur ist sexuell so liberal wie noch nie. Aber im Vergleich zu den Männern ist das sexuelle Vergnügen von Frauen nicht gewachsen“, schreibt die Journalistin Katherine Rowland in „The Pleasure Gap“. Für ihr Buch hat die Journalistin mit Hunderten Frauen und Dutzenden ForscherInnen gesprochen. 40 Prozent der Amerikanerinnen seien sexuell unzufrieden. „Bei all der abwesenden weiblichen Lust, den Schmerzen, der Scham, der Schuld, dem Selbsthass und der Tatsache, dass Sex für Frauen oft mehr Arbeit als Vergnügen ist, scheint es so, dass wir die sexuelle Quantität erhöht haben, ohne die sexuelle Qualität zu verbessern“, schreibt Rowland. Sie plädiert dafür, dass „Frauen die Ungleichheit im Schlafzimmer genauso ernst nehmen wie die am Arbeitsplatz“. Untertitel ihres Buches: „American Women and the Unfinished Sexual Revolution“ (Amerikanische Frauen und die unvollendete sexuelle Revolution).
Ganz klar, die sexuelle Revolution ist unvollendet. Die hatte bekanntermaßen ohnehin vor allem den Männern genutzt. Doch seit kurzem scheint es so, dass sich bei den Frauen eine kleine Revolution vollzieht, wenngleich eine eher stille.
Doch zunächst noch ein paar aufschlussreiche Zahlen aus der Hamburger Sexual-Studie: Männer gehen fast doppelt so häufig fremd wie Frauen, nämlich 23 Prozent (Frauen: 13 Prozent). Sie haben doppelt so häufig One-Night-Stands, nämlich 42 Prozent (Frauen: 22 Prozent). Sie haben mehr Sexualpartnerinnen als Frauen Sexualpartner, was sich die ForscherInnen unter anderem damit erklären, dass Männer zu Prostituierten gehen.
Der größte Geschlechtergraben aber tut sich, wenig überraschend, beim Konsum von Pornografie auf. 90 Prozent der befragten Männer zwischen 18 und 35 Jahren haben vor ihrem 16. Lebensjahr Pornos geschaut (aber nur jedes zweite Mädchen). Bei den heute 66- bis 75-jährigen Männern war es noch „nur“ jeder vierte (bei den älteren Frauen jede 50.!) Grundsätzlich gilt: Je jünger die befragten Männer, desto mehr haben sie Pornos vor ihrem 16. Lebensjahr konsumiert – und damit für die meisten vor eigenen sexuellen Erfahrungen. Das hat Folgen. Für beide Geschlechter.
Nicht wenige Männer finden "rough sex" interessant, bei dem gewürgt wird
Jede neunte junge Frau zwischen 18 und 35 gibt an, schon mal BDSM (Bondage, Dominanz, Sado-Masochismus) praktiziert zu haben. Das sind dreimal so viele wie Frauen über 35, und der Verdacht liegt nahe, dass die allgegenwärtige Pornografisierung auch bei den jungen Frauen nicht ohne Wirkung geblieben ist. „Kinky“ ist cool. Dass gerade Frauen damit (frühe) schmerzvolle (sexuelle) Erfahrungen reinszenieren, das ist in der Debatte eher selten Thema. Zumal nicht wenige Männer sogenannten „rough sex“, bei dem gewürgt, geschlagen und ins Gesicht gespritzt wird, durchaus interessant finden.
Eine Studie der Technischen Universität Ilmenau unter 1.100 Männern und Frauen zwischen 18 und 69 Jahren ergab: Fast jedeR dritte (29 Prozent) hatte mindestens einmal „rough sex“, bei Befragten unter 40 waren es sogar 43 Prozent. Wenig überraschend nahmen Männer dabei weitaus häufiger die „aktive Rolle“ ein, Frauen die „passive“. Sie ließen sich an den Haaren ziehen, Ohrfeigen verpassen oder gewaltsam festhalten. Fazit der ForscherInnen: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass rough sex weit verbreitet ist.“
Aber die Folgen der Pornografisierung gehen noch weiter: Immer mehr Männer können mit realen Frauen im Bett nichts mehr anfangen. „Die Partnerin kann mit den Pornos einfach nicht konkurrieren“, sagt die Münchner Sexualtherapeutin Heike Melzer (siehe S. 50). In ihrer Praxis steigt die Zahl der Männer mit Erektionsstörungen ebenso wie die der Pornosüchtigen. Und die Frauen be-kommen es mit Männern zu tun, deren Fantasien schon vor dem ersten Sex von Frauenverachtung und Brutalität geprägt sind.
Doch es scheint so, als ob zumindest ein Teil der jungen Frauen nicht gewillt sei, das mitzumachen. Zwar gibt es in Deutschland keine 4B-Bewegung (sprich: Four Bi) wie in Südkorea. „Bi“ heißt auf Koreanisch Nein. Immer mehr Südkoreanerinnen begegnen dem omnipräsenten Frauenhass in ihrem Land mit Verweigerung: Nein zu Dating! Nein zu Sex! Nein zu Heirat! Nein zu Kindern!
Auch in Deutschland scheinen sich die jüngeren Frauen zusehends zu verweigern. Jede fünfte junge Frau zwischen 18 und 35 (aber nur jeder zehnte junge Mann) antwortete in der Hamburger Sexualitäts-Studie auf die Frage, ob sie einen Wunsch nach einer festen Beziehung habe, mit Nein. „Zwiespältig“ antworteten 36 Prozent der jungen Frauen, aber nur 27 Prozent der jungen Männer.
Der Trend bei jungen Frauen geht zur Frau - keine Überraschung
„Männer, nein danke!“ betitelte jüngst der österreichische Falter eine Geschichte über Paarbeziehungen und zitiert die Psychologin Juliane Burghardt, die an der Karl-Landsteiner-Universität für Gesundheitswissenschaften in Krems aktuell dieselben untersucht. Die Generation Z, also die zwischen 1995 und 2010 Geborenen, hätten weniger Sex und weniger Beziehungen als ihre Eltern, sagt Burghardt. 38 Prozent der 18- bis 30-Jährigen hatten „noch nie“ eine Beziehung, hat auch die Universität Wien ermittelt. Das liege „auch daran, dass junge Frauen das Angebot an verfügbaren Männern am Markt nicht mehr annehmen“, sagt Burghardt.
Was tun die Frauen stattdessen? Nun ja. Einige wenden sich denjenigen zu, mit denen sie, statistisch verbrieft, erfüllenderen Sex haben: den Frauen. 86 Prozent aller lesbisch lebenden Frauen kommen „regelmäßig zum Höhepunkt“, hat das Archives of Sexual Behaviour ermittelt, verglichen mit 65 Prozent der heterosexuellen Frauen. Zwar definierten sich in der Hamburger Studie nur ein Prozent der befragten Frauen als homosexuell (Männer: 1,8 %) und 1,8 Prozent als bisexuell (Männer: 0,9 %). Das ist, verglichen mit früheren Studien und Umfragen, sehr wenig. Die ermittelten konstant einen Anteil „nicht ausschließlich heterosexuell lebender“ Frauen und Männer zwischen fünf und zehn Prozent. Gibt es einen Rückgang? Ist die angeblich so hippe Queerness womöglich doch nur auf Großstadt-Bubbles beschränkt und geht außerhalb der Blase die Toleranz zurück? Macht das das „Bekenntnis“ schwieriger? Denn in der Praxis sieht es so aus: Jede sechste junge Frau zwischen 18 und 35 „hatte schon mindestens einmal ein sexuelles Erlebnis mit einer anderen Frau“. Doppelt so viele wie junge Männer mit einem Mann. Früher war das umgekehrt. Bei den älteren über 35 halten sich Männer und Frauen in Sachen gleichgeschlechtliches Erlebnis die Waage. Der Trend bei den jungen Frauen geht also zur Frau. Keine Überraschung.
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