Irmgard Keun: Glamour & Elend
Jetzt sitze ich hier in einem Lokal und habe furchtbar viel Leberwurst gegessen trotzdem jeder Bissen mir im Hals würgte, aber ist dann doch runtergegangen, und hoffentlich schadet es mir nicht auf die entsetzliche Aufregung. Denn ich bin aus meiner Stellung entlassen und zittre in den Gliedern. Und nach Hause gehen habe ich geradezu Angst, ich kenne meinen Vater als ausgesprochen unangenehmen Mensch ohne Humor, wenn er zu Hause ist. Man kennt das – dass Männer, die am Stammtisch und in der Wirtschaft italienische Sonne markieren und immer die Schnauze vorneweg und alles unterhalten – dass die zu Haus in der Familie so sauer sind, dass man sie am Morgen nach einer versoffenen Nacht nur ansehn braucht und spart einen Rollmops.
Und alles kam so: ich hatte zu wenig Briefe geschrieben wegen an Hubert denken und musste auf einmal mit Dampf loslegen, um noch was fertig zu kriegen – natürlich weit und breit kein Komma in den Briefen, was aber ein System von mir ist: denn lieber gar keine Kommas als falsche, weil welche reinstricheln unauffälliger geht als falsche fortmachen. Und hatte auch sonst Fehler in den Briefen und dunkle Ahnungen daraufhin. Und guck schon gleich beim Reinbringen wie Marlene Dietrich so mit Klappaugen-Marke: husch ins Bett.
Und das Pickelgesicht sagt, alle könnten gehn, nur ich sollt noch bleiben und Briefe neu schreiben, was mich anekelt und wozu ich nie Lust habe, denn es waren Akten mit furchtbarem Quatsch von Blasewitz, dem ein Zahnarzt eine Goldkrone rausgemurkst hatte und richtig gestohlen und dann auf der Rechnung nochmal angerechnet – kein Schwein wird draus klug, und wochenlang schreib ich schon von Blasewitz seine Backzähne, was einem eines Tages auf die Nerven geht. Und geh zum Pickelgesicht ins Büro – alle sind fort – nur er und ich sind noch da. Und er sieht meine Briefe durch und macht Kommas mit Tinte – ich denke: was bleibt dir übrig! und lehne mich aus Versehen leicht an ihn. Und malt immer mehr Kommas und streicht und verbessert, und will auf einmal bei einem Brief sagen: der muss nochmal geschrieben werden. Aber bei „nochmal“ gebe ich mit meinem Busen einen Druck gegen seine Schulter, und wie er aufguckt, zittre ich noch für alle Fälle wild mit den Nasenflügeln, weil ich doch fort wollte und nichts mehr von Blasewitz seine Backzähne schreiben und von der Frau Grumpel ihre Raten für das stinkige Milchlädchen auch nicht. Und musste das Pickelgesicht darum ablenken und machte ein Nasenflügelbeben wie: ein belgisches Riesenkaninchen beim Kohlfressen.
Und will gerade sinnlich hauchen, dass ich so müde bin und mein armer alter Vater mit Rheumatismus wartet, dass ich ihm „Das Glück auf der Schwelle“ vorlese – will ich gerade sagen, da passiert es, und ich merke zu spät, dass ich mit meinen Nasenflügeln zu weit gegangen bin. Springt doch der Kerl auf und umklammert mich und atmet wie eine Lokomotive kurz vor der Abfahrt. Ich sage nur: aber – und versuche, seine widerlichen langen Knochenfinger von mir loszumachen, und war wirklich verwirrt, denn ich hatte mit dem allen doch erst vier Wochen später gerechnet und sehe wieder, dass man nie auslernt. Und er sagt: „Kind, verstell dich doch nicht, ich weiß doch seit langem, wie es mit dir steht und wie dein Blut nach mir drängt.“
Also ich kann nur sagen, ich wunderte mich von neuem, wie ein Mann, der doch studiert hat und schlau wird aus Blasewitz seine Backzähne, derartig dumm sein kann. Und Hubert war schuld und mein leerer Magen und alles so plötzlich und die Pickel und dass er einen Mund machte wie ein Kletterfisch – war alles schuld, dass ich die Situation verlor. Und flüsterte so albernes Zeug – so das übliche – und will zu dem kalten Ledersofa mit mir – und noch nicht mal zu Abend gegessen und womöglich hinterher doch noch die Briefe neu schreiben – Zutrauen kann man so einem Rechtsanwalt alles – also das war mir zu dumm. Ich sag nur ganz ruhig: „Wie können Sie mein Kleid so zerknautschen, wo ich ohnehin nichts anzuziehen habe!“ Und das war ein Wink und eine Prüfung, und von seiner Antwort hing es ab, ob ich ihn sanft und anständig abweisen würde oder gemein werden. Natürlich kam, was ich erwartet hatte: „Kind, wie kannst du jetzt an so was denken, und nackt ohne Kleider bist du mir am liebsten.“
Da blieb mir glatt der Verstand stehen. Ich trete ihn gegens Schienbein von wegen Loslassen und frage: „Nun sagen Sie mal, Sie blödsinniger Rechtsanwalt, was denken Sie sich eigentlich? Wie kann ein Studierter wie Sie so schafsdämlich sein und glauben, ein junges hübsches Mädchen wäre wild auf ihn. Haben Sie noch nie in den Spiegel gesehn? Ich frage Sie nur, was für Reize haben Sie?“
Es wäre mir interessant gewesen, eine logische Antwort zu kriegen: denn ein Mann muss doch schließlich was denken. Sagt er nur stattdessen: „Also so eine bist du!“ Und zieht das „so“ wie ein Gummi-Arabicum.
Ich nur: „So oder nicht so – es ist mir ein Naturereignis, zu sehen, wie Sie blau anlaufen vor Wut, und ich hätte nie gedacht, dass Sie noch mieser werden könnten, als Sie ohnehin schon sind – und haben eine Frau, was sich die Haare gelb färbt wie ein hartgekochtes Eidotter und für viel Geld Kosmetik macht und in einem Auto rumsaust und nichts tut den ganzen Tag an solider Arbeit – und ich soll mit Ihnen für nichts und wieder nichts – nur aus Liebe — „ Und hau ihm den Brief mit Blasewitz Backzähnen in seine Pickel, denn wo nun schon alles verdorben war, wollte ich auch meinem Temperament mal ganz freie Bahn lassen. Natürlich kündigte er mir zum nächsten Ersten. Ich sag nur: „Ich hab‘s auch satt bei Ihnen, und geben Sie mir noch ein Monatsgehalt, dann komme ich morgen schon nicht mehr wieder.“
Und ging kess mit Drohungen vor – dass die Männer bei Gericht nur seine miese Visage sehen brauchen und mir sofort glauben, dass ich nie sinnliche Blicke geworfen habe, und mir vollkommen recht geben würden – und ob es ihm lieb wäre, wenn ich morgen den Mädchen hier alles erzähle, wo er noch dazu so unanständige Worte gebraucht hat wie nackt und mein Blut drängte – und wenn mich was furchtbar aufgeregt hat, muss ich es leider erzählen. Und jetzt sitze ich hier mit 120 und überlege mir eine neue Existenz und warte auf Therese, der ich telephoniert habe, damit sie mich tröstet und beruhigt, denn schließlich habe ich eine Sensation durchgemacht.
IRMGARD KEUN
Auszug aus Irmgard Keun: "Das kunstseidene Mädchen" (Ullstein Buchverlage)