Helga, die Unerschrockene
"Das war zu erwarten", kommentierte Helga Schoeller den Freispruch der Mannesmann-Manager. Nur Dank des Mutes der Vorstandssekretärin war die Sache überhaupt ruchbar geworden.
Am Tag des Urteils sitzt Helga Anna Schoeller in der letzten Reihe des Gerichtsaals L 111. Sie wirkt konzentriert, das Kinn hat sie auf die rechte Hand gestützt. Die Freisprüche für die sechs Angeklagten im Mannesmann-Prozess vor dem Düsseldorfer Landgericht scheinen sie kein bisschen zu erschüttern. „Das war doch zu erwarten“, sagt die ehemalige Sachbearbeiterin des untergegangenen Weltkonzerns lakonisch. Und es hört sich so an, als meine sie: Denen ist einfach nicht beizukommen.
Helga Anna Schoeller hatte selber als Zeugin vor Gericht ausgesagt. Dass ihre Aussage wenig bewirkte, schreibt sie der Fragetechnik der Staatsanwälte zu. Nach dem Urteil lässt sie es sich nicht nehmen, das Pressespektakel vor dem Gerichtssaal zu beobachten. Dutzende Kameraleute und Fotografen haben sich dort postiert, um die Freigesprochenen abzufangen. Und tatsächlich tritt dann einer nach dem anderen mit einem strahlenden Lächeln vor die Journalisten.
Dass es sich nur um Freisprüche „zweiter Klasse“ handelt, scheint die Angeklagten nicht zu stören. Das Gericht entschied, dass sie zwar gegen das Aktienrecht verstießen, dies aber juristisch gesehen „schuldlos“ taten und deshalb freizusprechen sind. Freispruch ist Freispruch, sagen die Angeklagten hinterher.
Über die Feinheiten des Strafrechts muss man nachdenken können. Helga Anna Schoeller tut es, zieht sich nach dem Urteil zurück, schläft schlecht. Eine Woche vergeht, bis sie sagt, dass sie froh sei, dass nun alles vorbei ist. Denn wenn die Bilder von damals wieder auftauchen, steigt der 66-jährigen Pensionärin noch immer die Zornesröte ins Gesicht.
Sie erinnert sich genau, wie ihr Vorgesetzter damals in ihr Büo im Behrensbau am Mannesmann-Ufer kam und ihr ein zweiseitiges Beschluss-Protokoll des Aufsichtsratspräsidiums reichte. Schoeller war damals Mitarbeiterin in der Direktionsabteilung und dem Vorstand direkt unterstellt. Die größte Übernahmeschlacht aller Zeiten war gerade gelaufen, Vodafone hatte Mannesmann auf dem Höhepunkt des Börsenbooms übernommen, Aktien im Wert von 180 Milliarden Euro sollten den Besitzer wechseln. Und die Angestellte Schoeller sollte nun ausführen, was auf dem Papier stand – insgesamt 30 Millionen Euro als „Anerkennungsprämien“ an den Vorstandschef Klaus Esser und sein Team überweisen. Das war ihr Job.
25 Jahre lang hatte Schoeller jedes Protokoll des Präsidiums geschrieben. Sie erkannte auf den ersten Blick, dass das Schriftstück Formfehler aufwies. Es fehlten Unterschriften, und einer der Unterschreibenden begünstigte sich selber. „Das geht so nicht“, sagte sie zu ihrem Vorgesetzten. Der entgegnete: „Da kommt noch was.“ – „Das hilft nichts, weil Herr Dr. Funk sich selber Geld genehmigt“, antwortete sie.
Joachim Funk war damals Aufsichtsratsvorsitzender von Mannesmann. Dass er ohne Strafe davon kam, das versteht Schoeller bis heute nicht. Damals, in der zweiten Februarwoche, saß ein Wirtschaftsprüfer im Büro von Schoeller, um die Vorstandsbezüge und die Protokolle des Aufsichtsratspräsidiums für das Jahr 1999 zu prüfen. Schoeller sammelte all ihren Mut und zeigte ihm den Beschluss. Eine folgenreiche Handlung. Hätte sie das nicht getan, wäre es vielleicht nie zum Mannesmann-Prozess gekommen, der die Glaubwürdigkeit der gesamten deutschen Wirtschaft erschüttert hat.
Die Strafanzeige, die zum Prozess führte, hatten zwar zwei Stuttgarter Anwälte gestellt, nachdem der Verdacht aufgekommen war, Esser habe sich die Zustimmung zur Übernahme abkaufen lassen. Aber die Anklageschrift der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft bezog sich in weiten Teilen auf die protokollierten Gespräche der Wirtschaftsprüfer, die diese wegen der von Schoeller reklamierten Formfehler des Beschlusses mit Esser und Funk führen mussten.
Bis zu diesem Tag im Februar 2000 war Mannesmann Helga Anna Schoellers Leben. Ihr Großvater war bei Mannesmann, ihr Vater war bei Mannesmann. Sie hat die Fußball-Weltmeisterschaft 1954 im Radio bei Mannesmann erlebt, als Lehrling. Sie ist die Verkörperung von Loyalität und Pflichtbewusstsein. Und dann sollte sie einen Monat vor ihrer Pensionierung ausgerechnet denjenigen, die das Ende des 110 Jahre alten Konzerns besiegelten, als Dankeschön Millionensummen überweisen.
Erst als anderthalb Jahre nach der Übernahme zwei Kriminalbeamte morgens um zehn Uhr bei ihr zu Hause klingelten, wurde der loyalen Sachbearbeiterin klar, was sie ausgelöst hatte. Sieben Stunden lang wurde sie verhört – beim ersten Mal. 16 Stunden insgesamt. Bis zuletzt wünschte sie sich, dass es nicht zum Prozess kommen würde.
Ihr Wunsch ging nicht in Erfüllung. Sechs Monate sollten ihre ehemaligen Chefs auf der Anklagebank des Düsseldorfer Landgerichts sitzen: Klaus Esser, Joachim Funk und ihr ehemaliger direkter Vorgesetzter Dietmar Droste. Außerdem: der heutige Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, der mit Funk das Protokoll direkt unterzeichnete, sowie Ex-IG-Metallchef Klaus Zwickel und Gesamtbetriebsratschef Jürgen Ladberg, die im Präsidium des Aufsichtsrats saßen, das die Prämien bewilligen musste. Ihnen allen wurde vorgeworfen, das Vermögen der Düsseldorfer Mannesmann AG geschädigt und umgerechnet 57 Millionen Euro veruntreut zu haben. Schließlich stellte das Gericht fest, dass ihnen „schwere Untreue“ oder „Beihilfe“ dazu nicht nachgewiesen werden konnten.
Helga Anna Schoeller hat fast jedem Prozesstag beigewohnt. Und immer setzte sie sich in die letzte Reihe, wie am Tag des Urteils.
Michael Kläsgen, EMMA September/Oktober 2004