Meine beste Freundin

Foto: Kiki Kogelnik: Die Raucherinnen, 1973
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Ich war Mitte zwanzig und hatte meinen ersten Termin in einem großen Verlagshaus. Aufgeregt und erwartungsvoll meldete ich mich am Em­p­fang. Da saß eine blonde Frau, etwa doppelt so alt wie ich, schwarze Flecken auf den Wangen, rot geäderte Augen. Aber sie lächelte, wie es sich für ihre Position gehörte, griff zum Telefon und meldete mich an.

„Haben Sie eine schlechte Nachricht erhalten?“, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Es überkommt mich eben manchmal. Da kann man nichts machen. Es ist wie Liebeskummer.“ – „Ja, Liebeskummer ist scheiße“, sagte ich. – „Es ist kein Liebeskummer. Es ist viel furchtbarer als Liebeskummer. Es ist wegen meiner besten Freundin.“ – „Ist sie tot?“ – „Schlimmer.“ – „Schlimmer?“, fragte ich perplex. – „Wir sind keine besten Freundinnen mehr.“

In den nächsten fünf Minuten erfuhr ich, dass der Grund der Trennung eine Tasse Kaffee war, zu der die Empfangsdame ihre Freundin nicht eingeladen hatte. Ich sagte ihr, dass diese Tasse Kaffee vermutlich nicht der Grund, sondern nur der Anlass gewesen sei. Immerhin kannten sich die beiden über dreißig Jahre, da konnte einiges vorgefallen sein. Und mit meinen weisen 25 Jahren fand ich die alte Frau ein bisschen albern. Wegen einer Tasse Kaffee!

Ich erzählte damals meiner BF davon. Wir kannten uns seit meiner Volljährigkeit; jemand hatte sie zu meiner Geburtstagsparty mitgebracht, und es war Liebe auf den ersten Blick. Später habe ich oft gedacht, dass Inger mein größtes Geburtstagsgeschenk war. Wir zogen Hals über Kopf in eine WG, wir fuhren gemeinsam in den Urlaub, Männer und Frauen kamen und gingen, Inger und ich blieben unzertrennlich. Wir wurden oft beneidet und hin und wieder versuchte man, uns ein krankhaftes Verhältnis unterzuschieben.

Das war mir egal und ich stand dazu: Ohne meine BF gab es mich beziehungstechnisch nicht. Das war so klar wie die Knödel zum Schweinsbraten, so klar, dass keiner, der es ernst meinte, jemals ein Wort gegen sie sagte. Und das war auch klug. Erstens hätte ich mich immer für sie entschieden, was mir auch katastrophale Beziehungen ersparte, und zweitens entlastete meine BF meine Lebenspartner, die oft weniger gut zuhören konnten und niemals so tabulos, schwarzhumorig, scharfsinnig argumentierten.

Mit Inger besprach ich meine geheimsten Gedanken, ihr erzählte ich als erstes von meinen neuen Buchideen, sie kannte sich in meiner Biografie aus wie niemand sonst, und sie durfte mir auch schonungslos den Kopf waschen, wenn sich dort Gedankenflöhe verirrt hatten. Keine war so ehrlich – manchmal bis zur Schmerzgrenze; niemandem vertraute ich mehr, sie stärkte mir den Rücken. Es gab Zeiten, in denen sahen wir uns selten, je älter wir wurden, desto öfter verlegten wir uns aufs Telefonieren. Aber einmal im Monat trafen wir uns, auch als Inger wegzog. Und wenn etwas Schlimmes passierte, standen wir auf der Matte. Es gab Krisen, Krankheiten, Todesfälle. Mit der BF an meiner Seite war ich stark – und sie mit mir hoffentlich auch.

Wir wurden älter. Andere Freundinnen wurden komisch. Wir nicht, nein, wir ganz bestimmt nicht. Aber wir merkten, dass Freundschaften sich veränderten. Wir waren nicht mehr die einzigen füreinander, wir pflegten beide auch andere Freundschaften. Doch eine BF ist einzigartig. In unserer Jugend wurden Frauenfreundschaften von der Wissenschaft entdeckt, natürlich häufig unter dem Vorzeichen des Mankos. Frauenthemen trugen ein Minus. Man stellte unter anderem fest, dass viele Frauen der geburtenstarken Jahrgänge einen Muttermangel erlitten hätten und die beste Freundin stille diesen Mangel. Wenn der Mangel so aussah, wie meine Lachanfälle mit Inger, dann bitte mehr davon. Und auch von ihren Matschnudeln, ein eigentlich ungenießbares Gericht. Und dass sie mich tausendmal fragte, wie man eine Tabelle formatiert. Und kaum hatte sie das Bad benutzt, musste ich das Haus renovieren. Inger, du bist unmöglich – und ich liebe dich.

Wann immer ich etwas Besonderes erlebte, dachte ich: Das muss ich Inger erzählen. Irgendwie wurde es dadurch erst wahr. Und wenn ich eine Entscheidung zu treffen hatte, gab Ingers Meinung oft den Ausschlag. Geriet ihr Leben in Schräglage, schlingerte meines auch, dann erwuchsen mir überirdische Kräfte, und ich versuchte das Gleichgewicht wiederherzustellen. Gleichgewicht, ja – es gab bei uns keine Stärkere und Schwächere. Aber natürlich nutzten wir unsere verschiedenen Fähigkeiten. Mit Inger lernte ich eine neue Perspektive auf die Welt kennen, und sie profitierte von meiner. Öfter hörten wir „Ihr seid wie ein altes Ehepaar.“

Andere Freundinnen verlor ich zwischendurch. Einige, weil sie Kinder bekamen, sie orientierten sich lieber an Müttern, mit denen sie sich Themen und Kinderbetreuung teilten. Als die Kinder selbstständiger wurden, meldete sich die eine oder andere Freundin zurück. Hatten wir uns im Guten getrennt, war ein Neubeginn leicht. Und kam es nicht gerade darauf an im Alter? Zwischen 20 und 50 werkeln wir am Haus unseres Lebens. Mit 50 betrachten wir es mit Abstand und begreifen allmählich, dass wir eines Tages ausziehen werden, vielleicht auf eigenen Füßen stehend, vielleicht auf einer Trage liegend.

Aber vorher wird es noch mal ganz toll! Wir werden alles genießen, was wir ein Leben lang aufgeschoben haben. Ist das Alter nicht die beste Zeit für Freundschaft? So ähnlich wie damals zur Schulzeit. Nach dem Mittag­essen und den Hausaufgaben nix wie raus, die Freunde treffen. So würde es jenseits der 70 sein. Endlich wieder Zeit, Verabredungen mit open end. Nicht immer etwas vorhaben. Einfach gemeinsam Zeit verbringen. Inger, das wird wunderbar!

Doch anstatt, dass wir alle näher zusammenrückten, wurden die Ab­stände größer. Lag es an den Wechseljahren? Die habe ich davor immer groß­artig gefunden, jawoll! Haare auf den Zähnen! Ich dachte blöderweise nicht daran, dass Frauen auch ruppig zu anderen Frauen sein können.

„Musst du so nen Wasserglasrand auf dem Tisch machen?“, ranzte mich Bea an.

Sabine wollte sich nur noch bei Tageslicht treffen. Auf keinen Fall in der Dämmerung Auto fahren. Aber immerhin, sie fuhr noch. Petra, Anfang 60, verkaufte ihr Auto. Und Isi traute sich nicht mehr Fahrradfahren, weil die ja alle wie bekloppt herumrasen. Wenn ich fragte, ob mich jemand zu einer Veranstaltung begleiten wollte, hörte ich nun oft: Nein, danke. Abends bin ich meistens müde. Mein Job schafft mich total – das war bei vielen die Überschrift im sechsten Lebensjahrzehnt.

„Inger, so werden wir bestimmt nie!“, sagte ich und Inger bestätigte „Nein, so werden wir nie.“

Stella macht sich ständig Sorgen, dass sie krank werden könnte. Claudi ist seit einiger Zeit unterschwellig aggressiv. Sie redet nicht mehr, sie schießt. Monika erzählt nur von den Krankheiten ihres Mannes. Und Christines Welt ist auf die ihrer Enkelin geschrumpft. Deshalb kann sie sich auch nicht verabreden. Es könnte ja sein, dass ihre Tochter anruft und sie sofort los muss, auf die Kleine aufzupassen.

„Inger, so werden wir bestimmt nie!“ – „Nein, so werden wir nie!“

Was auch immer kommen sollte: Mit Inger war ich gut aufgestellt. Sie war allerdings nur eine, wenn auch tragende Säule meines sozialen Netzwerks. Ich habe keine Kinder und das auch nie bereut. Und ich halte es für fatal, sich im Alter auf die Kinder zu verlassen, wie ich es manchmal erlebe. Da kannst du ganz schön einsam werden – und das soziale Klima wird uns bald genauso beschäftigen wie das Wetter. 42 Prozent der Deutschen wohnen in einem Singlehaushalt, ein Fünftel der Frauen hat keine Kinder, ein Drittel der Ehen wird geschieden. Hoffentlich haben sie wenigstens gute Freunde! Aber es sieht so aus als würden die geburtenstarken Jahrgänge im Alter eine sehr einsame Generation sein – ein Preis für ihre individualistische Lebensgestaltung? Heute leiden zehn bis fünfzehn Prozent der Deutschen zeitweise unter Einsamkeit, und je älter, desto schlimmer. Bei den über 85-Jährigen sind es zwanzig Prozent. In der Politik ist das auch schon angekommen. Der aktuelle Koalitions­vertrag verspricht, der „Einsamkeit in allen Altersgruppen vorzubeugen“ und „die Vereinsamung zu bekämpfen“ – mutmaßlich nicht aus Nächstenliebe, sondern um die hohen Kosten zu minimieren, die Einsamkeitsschäden hervorrufen. Erst ein Land hat darauf mit einem Ministerium reagiert: Seit 2018 gibt es in England ein Ministerium für Einsamkeit. Früher dachte man, sie sei eine Folge von Armut und Krankheit. Heute weiß man, dass Einsamkeit umgekehrt Armut und Krankheit auslösen kann.

Freundschaft lindert Einsamkeit. Und so sah ich mich – nicht nur mit Inger, aber am liebsten mit ihr – auf Parkbänken sitzen, zu denen wir mit Rollatoren statt Motorrädern gefahren waren, beide mit schlohweißem Haar und uns erinnern. Also vor allem ich, weil Inger ja heute schon das Vorgestern vergessen hatte. Was ich immer bewundernswert fand. Inger kann in der Gegenwart leben – was einer Schriftstellerin wie mir die Existenzgrundlage entzöge, da mein Stoff in der Gegenwart die Vergangenheit ist.

Dann starb die beste Freundin einer Bekannten. In Gedanken spielte ich eine solche Katastrophe mit Inger und mir durch. Nein, ich kehrte sofort um. Ich, die ich sonst alles bis in die kleinste Unmöglichkeit durchdenke, rannte weg. Leben ohne Inger – das war unmöglich. Als Inger sich aus einer unglücklichen Beziehung befreite, hatte sie mehr Zeit für mich und besuchte mich auch übers Wochenende, am besten, wenn mein Freund nicht zu Hause war: sturmfreie Bude.

So hätte es immer weitergehen können. Kein Wölkchen am Freundschaftshimmel in Sicht. Doch dann schlug ein Blitz ein, aus heiterem Himmel. Meine schicksalhafte Tasse Kaffee sozusagen. Inger verliebte sich. Inger verkaufte ihr Haus, das auch für mich ein Stück Heimat geworden war in den Jahren, und zog zu ihrer Freundin. Inger kümmerte sich um die juristischen Probleme der Söhne ihrer Freundin. Inger half ihrer Freundin in deren Firma. Inger hatte keine Zeit mehr für mich. Das Unvorstellbare geschah: Inger gehörte nicht mehr zu meinem Leben, obwohl sie am Leben war.

Verdammt ja, das war schlimmer als Liebeskummer. Es dauerte viel, viel länger. Vielleicht, weil ich sie kein bisschen hassen konnte, wie es nach einer großen Leidenschaft den Abnabelungsprozess beschleunigen kann.

„Es ist nur der Wechsel. Wenn alles mal wieder in gewohnten Bahnen läuft ...“, hörte ich zwei lange dunkle Jahre von Inger. Aber der Wechsel etablierte sich. Es war nicht so wie früher, wenn Freundinnen Mutter geworden waren. Da hatte es auch mal ganz schön gerappelt in unserer Freundschaftskiste, dann hatten wir uns wiedergefunden. Die Freundschaft mit Inger erkrankte ernsthaft und landete schließlich auf der Intensivstation. Aus einem Infekt war eine Blutvergiftung geworden. Und das merkte ich auch physisch, es war nicht bloß meine Seele, die schmerzte. – Und ich fragte mich: Wäre ich auch so abgehängt gewesen, wenn sie zu einem Freund gezogen wäre, statt zu einer Freundin? Brauchte Inger nun keine BF mehr?

„Alles hat seine Zeit“, tröstete Iris. „Auch Freundschaften.“ Sie schickte mir Ansichtskärtchen und eines Tages sagte sie „An dich ist man früher ja nie rangekommen. Da war ja immer Inger.“

Ich mochte Iris sehr gern. Es war schön, wieder mehr Zeit mit ihr zu verbringen.

Beim Sport lernte ich Susa kennen. Früher hätte ich mich im Fitness­studio nicht unterhalten, ich war ja nicht zum Spaß hier. Jetzt saß ich an der Theke und lud Susa zu einem Eiweißshake ein. Beim nächsten Mal bezahlte sie. Es fühlte sich an, als würde ich eine neue Freundin gewinnen. Ich war offener geworden für andere Menschen.

Auch mit Christine und Sandra, ich kannte sie seit Jahrzehnten, veränderte sich etwas. Gina, eine ehemalige Klassenkameradin, die ich zu Schulzeiten blöd gefunden hatte, stellte sich als wunderbare Gesprächspartnerin heraus. Und Lachen klappte auch zusammen. Mit Diana wollte ich ein Buch schreiben und Doro war ja gar nicht so unterkühlt, wie ich geglaubt hatte. Ich ging häufiger zu Veranstaltungen und fuhr mit Katja zum Wellness. Wie schön das war, einfach mal ein paar Tage mit einer Freundin.

Und siehe da, es musste nicht Inger sein! Irgendwie war das sogar spannender, denn Inger kannte ich doch schon. Also die alte. Die neue, die ich gern kennengelernt hätte, entzog sich. Oder wurde mir entzogen? Egal, für mich war das Resultat gleich. Inger war wie meine Familie gewesen, meine Wahlverwandtschaft. Ich musste meine Werte neu überdenken, auch meine Einstellung zu meinen Freundinnen. Und zu mir selbst. Kommt es vielleicht darauf an, sich selbst eine BF zu sein? Könnte das die Freiheit sein, die eine ganz neue Qualität von Freundschaft ermöglicht? Nicht so viel erwarten, nicht kleben bleiben an dem Zustand, wie er immer war. Und ­verzeihen. Schließlich sprechen wir hier von einer ganz großen Liebes­geschichte.

Heute weiß ich: Die Frau vom Empfang hatte recht. Es ist schlimmer als Liebeskummer. Viel, viel schlimmer.

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