Beauty & Bloodshed: Profit vom Schmerz

Nan Goldin bei ihrer Aktion im "MET".
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Das Wachpersonal im „Met“ wird nervös. Irgendetwas stimmt nicht in der alt-ägyptischen Abteilung, dem „Sackler-Wing“ des New Yorker Metropolitan Museum of Art. Für einen gewöhnlichen Wochentag sind viele Menschen da, sie tuscheln miteinander, stecken die Köpfe zusammen. Dann geht’s los. Plötzlich fliegen hunderte orangene Pillendosen in das Wasserbecken hinter den Pharaonen. Transparente und Schilder werden hochgestreckt. Angeführt von einer kleinen Frau mit wilden roten Locken beginnen die Menschen in Sprechchören zu rufen: „Tempel des Todes! Tempel des Geldes! Tempel der Gier! Tempel von Oxycontin!“

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Oxycontin, das ist das „bahnbrechende“ Opiumderivat, ein Schmerzmittel, das 1996 von Purdue Pharma, dem Pharmakonzern der Familie Sackler, auf den Markt gebracht und als „revolutionär“ gegen chronische Schmerzen angepriesen wurde. Oxycontin entwickelte sich zu einem der größten Verkaufsschlager in der Geschichte der Pharmaindustrie und brachte den Sacklers Einnahmen von rund 35 Milliarden Dollar.

Das Schmerzmittel ist vergleichbar mit Heroin, nur eben auf Rezept

450.000 AmerikanerInnen brachte das Schmerzmittel in den letzten 25 Jahren den Tod. Oxycontin macht süchtig. Das Schmerzmittel ist vergleichbar mit Heroin, nur eben auf Rezept. Eine, die auch süchtig von Oxycontin war, ist Nan Goldin, die bekannte US-Fotografin. Und die kleine Frau mit den wilden roten Locken, die den Pillendosen-Protest im Met angezettelt hat.

Nan Goldin hat die Sacklers da angegriffen, wo es ihnen wehtut: in der Kunstwelt. Denn dort inszenieren sich die diversen Familienmitglieder seit Jahrzehnten mit üppigen Spenden als philanthropische Kunstmäzene. Ihr Name taucht in Museen der ganzen Welt auf: Met, Guggenheim, Louvre. Forbes listet die Sacklers unter den zwanzig reichsten Familien der Vereinigten Staaten, mit einem geschätzten Vermögen von etwa 14 Milliarden Dollar. Reicher als die Rockefellers.

Die US-Dokumentarfilmerin und Oscar‑Preisträgerin Laura Poitras (für „Citizenfour“ über den Whistleblower Edward Snowden) hat 2019 angefangen, den Kreuzzug von Nan Goldin zu dokumentieren. „All the Beauty and the Bloodshed“
(„All die Schönheit und das Blutvergießen“) heißt der Film, der Goldins Kampf gegen die Sacklers mit dem gegen die eigene Sucht verwebt. Der Film ist gleichsam eine Studie über die Kultur der Straflosigkeit der Superreichen, ihrer entfesselten Gier und Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid. Bei Nan Goldin fing es 2013 mit simplen Schmerzen im Handgelenk an. Sie bekam Oxycontin verschrieben und fühlte sich bereits nach nur einem Tag abhängig. Als sie ihre Hand operieren ließ, war sie bei acht Pillen am Tag, daraus wurden 18.

Diese Abhängigkeit beschreibt sie so: „Es war wie eine totale Seelenfinsternis, die jede Zelle im Körper erfasst. Ein Gefühl der tiefsten Verzweiflung, ja der Folter.“ Goldin hat ihre Schmerzmittelsucht überlebt – und sich entschieden, gegen die Sacklers zu Felde zu ziehen. Mit Erfolg. Die Fotografin hat eine Welle des Protests ausgelöst. Bei weiteren Aktionen, etwa im Guggenheim Museum, in dem sie Rezepte von den Emporen regnen ließ, stimmten die BesucherInnen des Museums spontan in die Sprechchöre mit ein. Ihr zur Seite gesprungen ist der Journalist Patrick Radden Keefe von The New Yorker, der in seinem vielfach ausgezeichneten Buch „Imperium der Schmerzen“ die mafiösen und skrupellosen Machenschaften der Sacklers enthüllte und Goldins Kampf mit Zahlen und Fakten unterfütterte.

Über dreißig amerikanische Bundesstaaten haben das Unternehmen mittlerweile verklagt. 635 Millionen Dollar musste es schon an Strafe zahlen. Oxycontin wird von der Generalstaatsanwaltschaft des Bundesstaates New York als „Wurzel der Opioid-Epidemie“ der USA benannt. Immer mehr Institutionen gehen auf Distanz, zuletzt kündigte das New Yorker Guggenheim-Museum an, künftig kein Geld mehr von der Familie Sackler annehmen zu wollen. Die Sacklers sind zu Geächteten geworden. Und genauso sollte es nach Goldins Auffassung auch sein. Sie sagt: „Das sind Dealer in weißen Kitteln!“

Die Opioid-Krise jedoch, die ist geblieben. Opioide sind günstig herzustellen und haben die höchsten Profite der Pharma-Geschichte. Inzwischen stellen Überdosen von Schmerzmitteln die häufigste unnatürliche Todesursache in den USA dar und fordern mehr Opfer als Autounfälle – ja sogar mehr Opfer als die uramerikanischste aller Sterbearten: Schussverletzungen. Nach Schätzungen gibt es fünf Millionen Süchtige in den USA und bisher 700.000 Tote, 65.000 sterben jährlich daran. Die jeweilige Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. SoziologInnen beschreiben die derzeitige Situation der USA als vergleichbar mit der Chinas im 19. Jahrhundert, wo einst das britische Empire versuchte, China durch den Verkauf von Opium von sich abhängig zu machen – was die chinesische Gesellschaft zerstörte und zu Opiumkriegen führte. Schmerzmittel werden in den USA bis heute aggressiv beworben. Die Sacklers haben viele Nachahmer gefunden. Gleichzeitig werben im Fernsehen Pharmakonzerne wie Daiichi Sankyo und Astra Zeneca für Medikamente gegen die „Verstopfung“, die von opioidhaltigen Arzneien verursacht werden. Es floriert also bereits ein Gegenmittel-Geschäft zum Überkonsum von Schmerzmitteln.

Auch in Deutschland ist der pro-Kopf Schmerzmittel-Verbrauch alarmierend

Die USA führen deutlich die Weltrangliste im Schmerzmittel-Verbrauch an, gefolgt von Kanada, gefolgt von Deutschland. Innerhalb der vergangenen Jahre ist die Zahl der Verordnungen von starken Schmerzmitteln auch hierzulande kräftig gestiegen. Zum Beispiel bei Rückenbeschwerden, Arthrose, Osteoporose oder Polyneuropathie werden häufig starke Schmerzmittel verschrieben. Sie sind günstiger als Physiotherapie und gründliche Untersuchungen. Vor allem kosten sie keine Zeit. Wurden 1996 noch 129 Millionen entDOSSIERsprechende definierte Tagesdosen (DDD) verschrieben, waren es 2020 bereits 446 Millionen DDD, so eine Studie der Uni Bremen. Die Studie zeigt auch, dass es vor allem AllgemeinmedizinerInnen und InternistInnen sind, die die starken Opioide verschreiben.

„In Deutschland ist der Opioid-Verbrauch gar nicht so viel anders als in den USA“, warnt Christoph Stein, Direktor der „Klinik für Anaesthesiologie und operative Intensivmedizin“ an der Charité Berlin. Zu häufig, sagt Stein, verschrieben seine KollegInnen zu große Mengen an Schmerzmitteln, etwa nach Bagatell-OPs. „Selbst nach relativ kleinen Operationen werden PatientInnen zum Teil mit großen Packungen Opioiden nach Hause geschickt, weil die behandelnden ÄrztInnen sicher sein wollen, dass die PatientInnen zufrieden sind und nicht wegen Schmerzen wiederkommen“, klagt Stein.

Zu häufig würden die Opioide auch für die falschen Leiden verschrieben, etwa bei chronischen Kopf- und Rückenschmerzen oder Osteoporose. Bei Rückenschmerzen beispielsweise seien mehr Behandlungsmethoden nötig, die auf Medikamente verzichteten oder sie nur punktuell einsetzten. „Leider gibt es auch keine Kontroll-Instanzen, die PatientInnen schützen würden. Das Betäubungsmittelgesetz ist ein zahnloser Tiger. Wir haben freie Arztwahl. Wer abhängig ist, kann sich sehr einfach zehn verschiedene Opioide von zehn verschiedenen Ärzten und aus zehn verschiedenen Apotheken besorgen“, weiß Stein.

In Deutschland werden für nicht verschreibungspflichtige Mittel pro Jahr von der Pharmaindustrie etwa 600 Millionen Euro für Werbung ausgegeben. Ein großer Teil davon entfällt auf Medikamente mit Missbrauchspotenzial, wie eben Schmerzmittel. Auch lässt eine aktuelle Studie des Robert-Koch-Instituts aufhorchen. Schätzungsweise nehmen in Deutschland 1,9 Millionen Menschen täglich Schmerzmittel. 30 bis 40 Prozent tun dies sogar, ohne körperliche Schmerzen zu haben. Und aus den Daten des Epidemiologischen Suchtsurveys 2018 geht hervor, dass die Medikamenten-Abhängigkeit mit 3,2 Prozent auf einem ähnlichen Niveau liegt wie die Alkoholabhängigkeit. (3,1 Prozent). Auch in Deutschland wird also massiv Profit aus Schmerzen gezogen. Gegenwehr à la Nan Goldin ist nicht in Sicht.

 

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