Sônia Guajajara: Stimme ihres Volkes

Sônia Guajajara schaffte es, die indigenen FührerInnen in Brasilien zu einen. - Foto: Stephanie Keith/Zuma Wire/IMAGOFoto: Stephanie Keith/Zuma Wire/IMAGO
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Zu ihrer Vereidigung Anfang Januar sind indigene Anführer aus dem ganzen Land nach Brasilia gereist. Es war ein historischer Moment: Zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens trat eine Indigene ein Ministeramt an. Nie zuvor hat das Land auch ein Ministerium gehabt, das sich ausdrücklich um die Anliegen seiner Urvölker kümmern durfte. „Es sind neue Zeiten im Kampf für die indigene Bevölkerung angebrochen“, schwärmt Sônia Bone Guajajara.

Die ersten Tage im Amt waren nicht gerade einfach. Fanatische Bolsonaro-Anhänger starteten einen Putschversuch und brachten das Regierungsviertel in Brasilia unter ihre Kontrolle. Dieser Angriff auf die Demokratie hat die 48-jährige Ministerin erschüttert – und ihre Entschlossenheit nur verstärkt. Auf Facebook schrieb sie: „Keinen einzigen Schritt zurück! Über der Angst steht der Mut, weiter für ein gerechteres Brasilien zu kämpfen!“

Sônia Bone de Souza Silva Santos, die den Namen ihres Volkes Guajajara trägt, lernte früh zu kämpfen: Schon mit zehn Jahren verließ sie ihr Dorf in dem Guajajara-Gebiet Arariboia im Amazonas-Bundesstaat Maranhão, um in der Stadt die Schule zu besuchen. Sie musste als Kindermädchen arbeiten, um sich über Wasser zu halten. Ihre Eltern konnten weder lesen noch schreiben – Sônia ist die Erste in der Familie, die einen Hochschulabschluss geschafft hat. Schon während des Studiums begann sie, sich für die Rechte der indigenen Völker und die Gleichberechtigung der Frauen einzusetzen. „Nur mit Kampf können wir eine echte Demokratie erreichen“, lautet ihr Credo bis heute.

Indigene Anführer haben es lange Zeit abgelehnt, sich um politische Funktionen in Brasiliens „weißem“ Herrschaftssystem zu bewerben. Sônia Guajajara hingegen war immer überzeugt davon, dass die Indigenen eine eigene Stimme in der brasilianischen Politik brauchten. Seit sie 2013 die Führung der nationalen indigenen Organisation APIB übernahm, versucht sie aus 300 ethnischen Gruppen eine panbrasilianische Bewegung der indigenen Völker zu formen.

Mit Erfolg: An den Parlaments- und Regionalwahlen im vorigen Oktober nahmen 181 indigene KandidatInnen teil – so viele wie nie zuvor. Sônia Guajajara wurde neben vier anderen Indigenen ins Parlament in Brasilia gewählt. Noch bevor sie dort einzog, kürte Präsident Lula da Silva sie zur Ministerin, eine Frau von elf in seinem 37-köpfigen Kabinett. Im Amt will sie eng mit dem Umweltministerium zusammenarbeiten, das von der angesehenen Naturschützerin Marina Silva geführt wird. „Der Schutz des Urwalds und der Gewässer ist die Voraussetzung für das Überleben der indigenen Völker.“

Der Job erfordert Mut. Das Land der Guajajara in Maranhão wird, obwohl offiziell von der Regierung geschützt, seit Jahren immer wieder von der Holzfällermafia und illegalen Goldsuchern überfallen. Stammesführer, die sich gegen die Raubzüge der Weißen wehren, werden von bezahlten Killern der Großgrundbesitzer ermordet. Unter Bolsonaro nahm die Gewalt stark zu. Auch Sônia Guajajara wurde mehrmals bedroht, doch sie nimmt kein Blatt vor den Mund: Bolsonaro nennt sie „den schlechtesten Präsidenten in der Geschichte Brasiliens“. Sie legt sich auch mit der mächtigen Agrarlobby an. „Die Agroindustrie ernährt das Volk nicht, 33 Prozent der Brasilianer leiden Hunger“, sagt die Ministerin. „Brasilien braucht keine Monokulturen, die den Boden vergiften.“

Die indigene Ministerin, die gerade mal 150 Zentimeter groß ist, will sich für alle Minderheiten einsetzen, die in Brasilien diskriminiert werden – für schwarze Randgruppen, landlose Bauern und die LGBT-Gemeinde. Und vor allem für die Frauen. Bei offiziellen Auftritten trägt Sônia meist eine Federkrone ihres Volkes. Die Mutter dreier Kinder ist stolz auf ihre indigenen Wurzeln. „Die Indigenen sind von Geburt an Wächter des Waldes, denn wir sind ein Teil der Natur“, sagt sie. Das US-Magazin Time kürte Sônia Guajajara im Frühjahr 2022 zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt.

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