Alice Schwarzer schreibt

Der Kampf um §218: Wie lange noch?

Artikel teilen

Zum ersten Mal reden Frauen. Und sie reden gemeinsam, weil die Solidarität ihre einzige Stärke ist. Zum ersten Mal in der Bundesrepublik lehnen Frauen sich aus eigener Initiative auf: gegen den staatlichen Zwang zur Mutterschaft. Sie verstoßen damit offen gegen ein Gesetz, das „von Männern für Männer gemacht“ wurde.

Anzeige

Während bisher sogenannte Experten, während Theologen, Mediziner, Juristen und Politiker über den „Beginn des personalen Lebens“, über die „Seele des Fötus“, die „bevölkerungspolitischen Aspekte“ und das „zu schützende Rechtsgut“ debattierten, haben die direkt Betroffenen, die Frauen, bislang geschwiegen und gehandelt. Dass sie täglich zu Tausenden handeln, das heißt: heimlich abtreiben, haben die isolierten Frauen selbst in vollem Ausmaß erst nach dem Schock der Selbstbezichtigungs-Kampagne der Aktion 218 begriffen.

Plakat 1970: Wenn Minister Jahn schwanger werden könnte...
Plakat 1970 der "Aktion 218": Wenn Minister Jahn schwanger werden könnte...

Diese Aktion ist die erste in Deutschland geführte Kampagne gegen das Abtreibungsverbot, die ausschließlich von Frauen initiiert wurde und von ihnen getragen wird. Frauen sind nicht länger gewillt, Abtreibung als ihre individuelle Misere hinzunehmen, sondern sie beginnen, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu sehen – wobei klar wird, dass der Gebärzwang eine der Hauptstützen der frauenspezifischen Unterdrückung ist. (…)

Erst wenn die Frau nicht mehr unter der Demütigung der heimlichen Abtreibung und der lähmenden Angst vor der unerwünschten Mutterschaft mit all ihren Folgen leben muss, kann sie den Kopf erheben und weiterblicken.

Auf 30 Millionen im Jahr schätzte 1965 die UNO die Abtreibungsziffer, und der Sexualforscher Giese schrieb dazu: „Abtreibung ist nicht, wie das Gesetz glauben machen kann, Angelegenheit einer kriminellen Minderheit, sondern ein beinahe universelles Vorkommnis in allen Bevölkerungsschichten."

Nicht in allen Ländern und Kulturen allerdings macht das Gesetz abtreibende Frauen zu Kriminellen. Ein mohammedanischer Fötus zum Beispiel wird erst am 120. Tag zum schützenswerten menschlichen Lebewesen, ein japanischer, wenn er das Tageslicht erblickt. Bis zu diesem Zeitpunkt stellt die Unterbrechung der Schwangerschaft weder ein moralisches noch ein juristisches Problem dar. In seiner augenblicklichen Konsequenz ist das Abtreibungsverbot selbst innerhalb der katholischen Kirche relativ neu. Vor dem Verdikt von Papst Pius IX. im Jahre 1869 erhielt nach katholischem Glauben der männliche Fötus seine Seele am 40. Tag nach der Zeugung, der weibliche am 80. Tag. (…)

1871 wurde das Gottesgesetz in Deutschland auch Staatsgesetz. Hundert Jahre später aber hat sich die Liaison von Kirche und Staat gelockert und ist, vor allem, das staatliche Hauptmotiv für den Gebärzwang – nämlich das bevölkerungspolitische – fortgefallen. Der Bedarf an Arbeitskräften und Arbeitslosen lässt sich in kapitalistischen Staaten bedeutend flexibler durch die Ein- und Ausfuhr von Gastarbeitern regeln.

Zum materiellen kommt das psychologische Moment hinzu. Frauen empfinden zunehmend stärker und bewusster den Druck des Gebärzwangs. Darum kann ein kapitalistischer Staat sich die Liberalisierung oder Abschaffung des Gebärzwangs nicht nur leisten, er muss sogar an ihr interessiert sein. England und die USA zogen die Konsequenzen, weitere Länder liberalisierten das Abtreibungsverbot, und auch in der Bundesrepublik gab es ähnliche Ambitionen. (…)

Am 14. März 1971 meldete die Bildpost, ein katholisches, in Kirchen zu erwerbendes Boulevardblatt, nicht ohne Stolz: „Demnächst wird ein neuer Gesetzentwurf vom deutschen Bundestag debattiert werden. Schon heute aber ist klar, dass der entscheidende Widerstand, nicht zuletzt der Kirchen, dazu geführt hat, dass von den Vorschlägen der SPD-Frauenkonferenz, die den Paragraphen völlig gestrichen sehen wollte, ebenso wenig mehr gesprochen wird, wie von den Forderungen der Humanistischen Union und der Jungsozialisten, die eine Straffreiheit der Abtreibung während der ersten drei Monate gefordert hatten.“

Dossier Abtreibung - zur aktuellen Lage in Deutschland, Polen und den USA in der September/Oktober EMMA.
Dossier Abtreibung - zur aktuellen Lage in Deutschland, Polen und den USA in der September/Oktober EMMA.

Vorausgegangen war eine in der Bundesrepublik beispiellose katholische Kampagne für die Erhaltung des § 218. In zahlreichen Bistümern wurden sonntägliche Protestsammlungen eingeleitet, die „action 365“, eine Schlagzeile des Passauer Bistumsblattes lautete: „Minister Jahn will Mord legalisieren“. Bundesjustizminister Jahn bekam prompt den katholischen Protest „waschkörbeweise“ ins Haus geschickt.

 Minister Jahn ließ sich nicht lange bitten. Geschwächt von den bei der Reform des Scheidungsrechts und des Pornographieverbots gesammelten Erfahrungen, zeigte er sich bereit, gegen die Interessen der – vor dem Stern-Bekenntnis noch schweigenden – Hälfte der Wählerschaft, der Frauen, dem katholischen Verlangen nachzugeben.

Am 11.  Januar 1971 ließ der Minister die Protestierenden beschwichtigen: „Was die Reform der Strafbestimmungen über die Schwangerschaftsunterbrechungen angeht, so besteht hierüber ein Missverständnis. Im Bundesministerium der Justiz ist keineswegs geplant, die Schwangerschaftsunterbrechung bis zum 3. Monat freizugeben.“ Demnach soll Kirchengesetz Staatsgesetz bleiben in der Bundesrepublik.

ALICE SCHWARZER

Der Text ist ein Auszug aus "Frauen gegen den §218" (Edition Suhrkamp, 1971. Vergriffen. Aber im Bestand des feministischen Archivs FrauenMediaTurm).

 

Artikel teilen
 
Zur Startseite