Aksus Sieg über Erdogan

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Der türkische Staatspräsident Tayyip Erdoğan ist nicht zimperlich, wenn es darum geht, Feinde auszumachen, sie zu verleumden und zu diskreditieren. Dann fällt häufig der Begriff „ausmerzen“. Ein Mob mit Lynchgelüsten besorgt den Rest. Oder Polizisten verhaften zu nächtlicher Stunde die Missetäter und bringen sie hinter Gitter. So jüngst die bekannte säkulare Journalistin Sedef Kabaş, die in einer Fernsehrunde ein tscherkessisches Sprichwort zitiert hatte. „Wenn der Ochse den Palast besteigt, wird er kein König. Aber der Palast wird zum Stall.“ Nachts um zwei Uhr stürmten Polizisten ihre Wohnung. Seither sitzt sie in Untersuchungshaft.

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So zögerte Erdogan auch nicht, nach dem Freitagsgebet in einer Istanbuler Moschee das Mikro zu ergreifen - in freier Rede ohne Manuskript – und Sezen Aksu, die Diva des türkischen Pop, zur Zielscheibe zu erklären. Aksu hatte ein vier Jahre altes Tanzlied („Wunderbar ist es zu leben“) auf YouTube gepostet. Mit Neujahrsgrüßen, mit Wünschen für Solidarität und Gerechtigkeit. „Grüßt mir die Ignoranten Adam und Eva“ lautet eine Textzeile des Liedes.

In der Moschee sprach Erdogan von der "Pflicht, ihr die Zunge auszureißen"

„Blasphemie!“ befanden religiöse Fanatiker. Schließlich seien Adam und Eva heilig. Es gab Proteste vor dem Haus der Sängerin und Strafanzeigen gegen sie wurden gestellt. Erdogan wütete in der Moschee: „Niemand darf unseren Propheten Adam beleidigen. Tut das doch jemand, ist es unsere Pflicht, ihr die Zunge auszureißen.“

Doch es sieht ganz so aus, als hätte Erdogan sich diesmal verschätzt. Denn die Sängerin ist weitaus beliebter im türkischen Volk als der Präsident – der musste zurückrudern. Doch der Reihe nach.

Im Nu hatte sich die Rede, aufgenommen mit einem Handy, in den sozialen Medien verbreitet. Denn Sezen Aksu ist nicht eine kritische Journalistin, keine kurdische Oppositionelle und keine unliebsame Intellektuelle. Die 67-Jährige ist auch nicht irgendeine türkische Pop-Sängerin. Sie hat ein halbes Jahrhundert mir ihren Liedern, ihren Kompositionen und Texten über alle politischen Lager hinweg die Herzen der Menschen in der Türkei erobert. Liebevoll wird sie, in Anlehnung an eines ihrer Lieder aus den siebziger Jahren, „kleiner Spatz“ genannt.

Aksu eroberte die Herzen der Menschen - über alle politischen Lager hinweg

In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war Aksu bereits ein Superstar in der Türkei. Unzähligen Musikern, die später berühmt werden, wie zum Beispiel Tarkan, steht sie bei. Sezen Aksu schafft es, das multikulturelle, musikalische Erbe Anatoliens in die Moderne zu transportieren – so den Bauchtanz, klassische, türkische Kunstmusik; griechische, armenische, kurdische Töne; mystische Sufi-Klänge oder türkischer Rap wie Ceza.

Unvergessen Aksus Auftritt vor dem Amphitheater Ephesus 2002 mit ihren Türkei-Liedern. Mit dabei ein armenischer Kirchenchor, jüdisch-sephardische Musiker mit Judeo-Espanol, griechische Musiker, der kurdische Kinderchor der Stadtverwaltung Diyarbakir und das Orchester der staatlichen Oper Izmir. In Fatih Akıns „Crossing the Bridge – The Sound of Istanbul“ kommt der Auftritt Aksus folgerichtig ganz zum Schluss: die alle Farben und Klänge vereinigende und miteinander versöhnende Frau. Und immer wieder hat Sezen Aksu Partei ergriffen. Für die Frauenbewegung, für LGBTI, im Kampf gegen Femizide. Sie verteidigte auch die Gezi Revolte der Jugend gegen das repressive Regime.

So wundert man sich nicht über die breite Solidaritätswelle. „Sie ist der Stolz der Türkei“, erklärte der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Doch erstaunlich ist, dass Erdogan zurückruderte und erklärte, seine Rede in der Moschee sei nicht gegen Aksu gerichtet gewesen. Ist sie doch eigentlich in seinen Augen die kleine Göre aus der ägäischen Hafenstadt Izmir, die all das in sich trägt, was er verabscheut.

Eine breite Welle der Solidarität formierte sich für den "kleinen Spatz"

Doch von dem Rückzieher Erdogans lässt sich der „kleine Spatz“ nicht einlullen. Sie antwortete mit einem neuverfassten Liedtext „Der Jäger“: „Ich bin die Beute, du bist der Jäger / Drück nur ab / Du kannst mich nicht verstehen / Kannst meine Zunge nicht zerquetschen / Wer ist der Reisende und wer der Herbergswirt / Warte mal ab/ Du kannst mich nicht töten/ Ich habe meine Stimme, mein Musikinstrument, meine Worte / Mit Ich meine ich uns alle.“

Will heißen: Wer repräsentiert die Türkei? Du oder ich? Und wie vergänglich ist politische Macht gegenüber einem halben Jahrhundert musikalischer Verzückungen?

ÖMER ERZEREN

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