Alice und Ellen Kessler: Adieu nach 89 Jahren

Die Kessler-Zwillinge 1955. - Foto: dpa
Artikel teilen

Sie mögen‘s flott, strahlen Leichtigkeit und Grandezza aus. Und sie waren Weltstars, weil sie singen und tanzen konnten und im Pariser Lido und in Hollywood auftraten: Die Kessler-Zwillinge, Alice und Ellen, verzauberten die Welt als deutsches Fräuleinwunder, bei dem selbst ein Elvis Presley abblitzte. In Italien war der Playboy mit ihnen nach drei Stunden ausverkauft. Jetzt wer­den sie 89, bis vor wenigen Jahren sind sie noch aufgetreten, privat halten sie sich immer noch fit. Sie sind zwei starke Frauen, die sich nie von einem Mann abhängig gemacht haben und schon emanzipiert waren, als es das Wort noch gar nicht gab. Natürlich fahren beide zwei PS-starke Autos: Weil sie es können. Und weil sie bei aller Zweisamkeit auch individuell und gern schnell unterwegs sind.

Wie geht es Ihnen gesundheitlich?

Alice Ellen tut das linke Kniegelenk weh, mir das rechte. Und bei der Gartenarbeit, die sofort in den Rücken geht, spüre ich meine Arthrose. Das kriegt man, egal wie gesund man gelebt hat. Aber von schweren Krankheiten wurden wir verschont. Wir sind immer noch ganz geschmeidig. Und machen jeden zweiten Tag unsere Übungen, Gymnastik nach Jane Fonda. Wir können heute noch in den Spagat gehen und die Beine zum Kopf ziehen.

Ellen Aber natürlich haben wir auch das eine oder andere Zipperlein. In unserem Bekanntenkreis haben wir viele Frauen zwischen 80 und 84, die ins Fitnessstudio gehen und ab­solut fit sind. Das machen wir nicht. Wir haben unsere eigenen Übun­gen, die wir seit Jahrzehnten verinnerlicht haben.

Und wie läuft Ihr Leben in Ihrer schmucken Villa ab?

Alice und Ellen Jede bewohnt eine Hälfte. Wir haben eine Schiebetür. Das bedeutet: Nähe und Distanz, Freiheit und Zugänglich­keit. Ellen macht sich ihr eigenes Frühstück, ich auch. Zum Essen treffen wir uns dann am Abend.

Ist in Ihrem Alter etwas anders als früher?

Alice und Ellen Wir machen keine großen Sprünge mehr, halten uns ganz vernünftig am Treppengeländer fest. Früher sind wir da runtergetanzt. In unserem Alter sollte man nicht mehr stürzen. Wo­bei wir als Tänzerinnen natürlich das Fallen gelernt haben. Mit dem Absatz sind wir schon mal auf Treppen hängen geblieben. Aber so­lange wir nur stolpern, fangen wir das locker auf.

Sind Sie heute, mit fast 90, glücklicher als in der Jugend?

Ellen Als wir mit 15 mit dem Tanzen angefangen haben und mit 17 im Pariser Lido 150 Mark im Monat bekamen, waren wir schon auch glücklich. Tagsüber haben wir getanzt, nach der Vorstellung sind wir ausgegangen. Wir haben immerhin 66 Jahre lang gearbeitet.

Alice Die Pandemie hat uns etwas ausgebremst. Vorher haben wir noch Auftritte in Musicals absolviert, 2015 bei Dr. Jekyll and Mr. Hyde, 2016 bei Udo Jürgens’ „Ich war noch niemals in New York“. Aber wir lassen nicht mehr alles mit uns machen. In Italien, wo wir sehr beliebt waren, sollten wir in TV-Shows auftreten und unsere alten Schlager singen. Aber das sind alte Kamellen für uns. Brauchen wir nicht, wir sind so frei. Wir haben ein traumhaftes Leben, sind fi­nanziell unabhängig, kurven gerne herum. Mit unseren zwei Autos.

„Wir wollten nie von einem Mann abhängig sein. Wir ließen sogar Elvis abblitzen.“

Wann begann Ihre Karriere?

Alice Im Prinzip direkt nach dem Krieg, wir spielten und tanzten als neunjährige Gören in unserer sächsischen Heimat Taucha vor den GIs, die uns Süßigkeiten gaben. Einer sagte dann in einer Titelgeschichte des Magazins Life über uns ("The Sensation of Germany"), er habe unser Talent schon damals erkannt. Den hätten wir gern wiedergetroffen.

Wie oft waren Sie getrennt in Ihrem Leben?

Alice Mal für ein paar Wochen, wir hatten damals je einen Freund in Rom und Kitzbühel. Aber sonst waren wir immer zusammen, schon für unsere Auftritte. Das war auch manchmal eine Zwangsja­cke, aber die wollten wir ja. Allein und jede für sich, das wäre keine Story gewesen.

Waren Sie beide mal in den gleichen Mann verliebt?

Alice Nein, der einzige Mann, den wir beide liebten, war unser Pu­delrüde Yello.

Ellen An Angeboten mangelte es nie, die Männer wollten uns Herz und oft die Brieftasche dazu schenken. Aber da beginnt schon die Abhängigkeit. Wir waren nur interessiert an Geld, das wir selbst verdienten.

Alice Wir beide waren eine Wand, da kam kein Mann durch, der uns trennen wollte.

Nichts versäumt im Leben und in der Liebe: Alice und Ellen Kessler. - Foto: Imago
Nichts versäumt im Leben und in der Liebe: Alice und Ellen Kessler. - Foto: Imago

Haben Sie irgendwas versäumt in der Liebe?

Alice Nie. Wenn Ellen erzählte, dass sie 20 Jahre mit ihrem Italie­ner verlobt war, konterte ich schon mal: Ich war in einem Jahr mit 20 Männern beschäftigt. Wir haben uns ausgelebt, das gehört dazu.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Alice Nein, der gehört zum Leben. Leider können wir beide wohl nicht am gleichen Tag sterben, da nutzt die Eineiigkeit nichts. Es wird furchtbar sein, plötzlich allein zu leben. Aber wir haben alles geregelt.

Und Ihre Urnen?

Alice Ich würde gerne unsere Asche mit der unserer Mutter vermi­schen. Aber da ist die bayerische Friedhofssatzung dagegen. Absurd, diese Bürokratie. Diejenige, die übrig bleibt, tut mir leid.

Gab es keine Eifersucht?

Alice Nein, aber wir haben uns gegenseitig angetrieben: Kannst du schon diese Schritte, diesen Text? Das hat uns immer besser gemacht, wir wa­ren Perfektionisten. Es gab auch manchmal Streit um Kleinigkei­ten, zum Beispiel wer den Tisch deckt. Einmal haben wir eine Woche lang kein Wort miteinander gesprochen. Und darauf bestanden, in der Garderobe nicht nebeneinander zu sitzen. Aber das löste sich schnell auf.

Ellen Ich bin die Spontane, presche manchmal nach vorne. Alice bremst mich, wenn es nötig ist.

Alice Ich bin die Vorsichtigere, Überlegtere. Beides ergänzt sich ganz gut.

Was ist für Sie das Wichtigste im Alter?

Ellen Unabhängigkeit, darauf haben wir immer geachtet. Es gibt diese Phrase: In Würde alt werden. Was heißt das? Wir versuchen, unser Le­ben so zu gestalten, als wären wir nicht 88. Wir gehen raus in die Kul­turszene, ins Theater. Aber wir bleiben auch gern zu Hause. Wir müssen nicht mehr überall dabei sein. Das ist wahre Freiheit.

Alice Arbeit war für uns immer wichtig. Weil wir uns dann am Riemen reißen mussten. Vor drei Jahren hatten wir noch einen kur­zen Auftritt im Münchner Residenztheater. Bei einem Galaabend haben wir gesungen. Aber jetzt haben wir einen Schlussstrich gezogen. Ganz selbstbestimmt. Wir wollen nicht mehr. Die Energie lässt nach, wir sind nicht mehr so peppig wie früher. Wolfgang Ra­demann, der Erfinder des (k)Traumschiffs, hat gesagt: Ihr Kessler-Zwillinge sollt nichts Zweitklassiges machen. Ihr seid Serie A, nicht Se­rie B. Daran haben wir uns gehalten. Und deshalb spielen wir auch nicht in einer dieser vielen flachen TV-Serien wie (k)In aller Freundschaft. Man hat uns auch den Gang ins (k)Dschungelcamp angeboten. Wir haben nicht mal darauf geantwortet. Vom Geld her haben wir so einen Kram nicht nötig. Wir haben ja nie verschwenderisch gelebt. Die beste Idee unseres Lebens war, dieses Haus in Grünwald zu bauen. Die schlechteste war, ein Miethaus bauen zu wollen mit zwielichtigen Investoren. Aber das hat uns auch nicht ruiniert. Wir haben keine Altersarmut, sondern Altersreichtum. Wir waren auch nie erpicht darauf zu heiraten. Aus der schlimmen Ehe unserer Eltern wussten wir, was häusliche Gewalt ist. Unser Vater hat unsere Mutter oft im Alko­holrausch geschlagen. Wir kleinen Mädchen haben das ganz verängs­tigt mitbekommen. Die letzten 20 Jahre ihres Lebens hat sie dann ge­schützt bei uns verbracht, wir organisierten auch die Scheidung. Sie musste 50 Jahre alt werden, um zu wissen, was ein bisschen Glück ist. Als unser Vater starb, haben wir nicht groß getrauert. Er war ein Tyrann und hat unsere Mutter wie eine Sklavin behandelt. Und uns als Zwillinge, die Akkordeon spielen, sogar in der Kneipe oder an der Straßenbahnhaltestelle vorgeführt wie Zirkuspferde. Wir waren nicht traurig, als er an Krebs starb. Leider konnten wir mit ihm nie über seine Fehler sprechen. Er war ein Macho durch und durch.

Alice und Ellen Kessler mit Interviewer Manfred Otzelberger. - Foto: Wolfgang Breiteneicher/ABR-Pictures
Alice und Ellen Kessler mit Interviewer Manfred Otzelberger. - Foto: Wolfgang Breiteneicher/ABR-Pictures

Hat das Ihr Männerbild beeinflusst?

Ellen Natürlich! Und da unsere beiden Brüder früh an Gelbsucht und Typhus starben, hatten wir nie ein positives Männerbild vor uns. Wir haben uns geschworen: Das, was unserer Mutter passiert, geschieht uns nicht. So einen Mann wie unseren Vater hätten wir die Treppe hinuntergestoßen. Und wir wussten, Eigenständigkeit gibt es für uns nur zu zweit. Deshalb beschlossen wir unsere Zweisamkeit. Für uns ist das total normal. Wir haben immer Beruf und Privates geteilt. Unsere Zu­sammengehörigkeit ist heute fast stärker als in jungen Jahren.

Alice Wir kennen es nicht anders. Der Vorteil des Zwillinglebens ist: Wir waren nie allein. Der Nachteil: Wir waren nie allein. Was will denn eine von uns allein machen?

Ellen Das wurde auch von den Männern, mit denen wir zusammen waren, akzeptiert. Mein langjähriger italienischer Freund Umberto Orsini, ein Schauspieler, war auch ein Freigeist. Wenn er sich nicht mit einer wilden Ehe abgefunden hätte, wäre ich gegangen. Später ging ich, weil er glaubte, dass ihm als Italiener und Künstler viele Frauen zu­stünden. Da schmiss ich ihn raus, er betrog mich mit einer Frau, die 26 Jahre jünger war. Heute würde ich zu dem Mädchen sagen: »Danke, dass du ihn mir abgenommen hast.« Wenn mir jemand sagen würde, ich hätte noch eine Woche zu le­ben, könnte ich das gut akzeptieren. Ich beneide Udo Jürgens, der bei einem Waldspaziergang starb — ohne Schmerzen. Großartig.

Alice Wie Bing Crosby auf dem Golfplatz. Am 18. Loch fiel er an­geblich um. Wir golfen ja auch, Handicap 28. Ein paar Dirigenten sind auch am Pult gestorben.

Ellen Ich glaube, ein Künstler kann nicht in Rente gehen wie ein Be­amter. Was hat man denn vom Leben, wenn man gar nichts mehr macht! Aber ich möchte im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte altern.

Alice Die Qualität ist entscheidend. Wir haben Bekannte, die nicht mehr hören, Hüftprobleme haben, krank sind. Da frage ich mich: warum weiterleben? Ich würde so nicht leben wollen. Deshalb bin ich für Sterbehilfe. Wie viele möchten sterben. Und kön­nen es nicht. Man sollte den Freitod unkompliziert, ohne Strafan­drohung bei der Beihilfe, erlauben. Man muss den Wunsch, sterben zu wollen, leichter machen.

Ellen Bei Anzeichen von Demenz würde ich wie Gunter Sachs den vorbeugenden Freitod wählen. Aber nicht mit dem Gewehr, weil ich keines habe. Da haben es, zynisch gesagt, Tiere leichter: Die kann man einschläfern. Nein, die Würde in einem menschlichen Leben muss stim­men, sonst ist es sinnlos.

Haben Sie schon Ihr Testament gemacht?

Alice Ja, wir haben eine gegenseitige Patientenverfügung. Wir haben ja keine Kinder und keine Verwandten mehr. Die Kesslers sterben aus. Also erben Ärzte ohne Grenzen, die Christoffel-Blindenmission, das Gut Aiderbichl, UNICEF und die Malteser.

Wurden Sie als Deutsche nach dem Krieg eigentlich freundlich im Ausland aufgenommen?

Alice Es gab schon bissige Bemerkungen in Paris, vor allem auch später in den USA. Nur Marlene Dietrich, die wir kennenlernen durften, war die gute Deutsche. »Wart ihr jemals in Dachau?«, wurden wir gefragt. In einer Show wurden wir als »Eichmann Daughters« vorgestellt. Damals wurden alle Deutschen im Ausland für die Morde der Nazis verantwortlich gemacht. Damit mussten wir leben. Wir waren bei Kriegsende neun Jahre alt. Unsere Balletthalle ist bombardiert worden, wir erlebten eine Ju­gend im Luftschutzkeller.

Stimmt es, dass Sie sogar Elvis Presley, der als GI in Deutschland stationiert war, einen Korb gegeben haben?

Ellen Ja, er liebe unsere Popos, sagte er. Nach der Show am Lido gingen wir mit ihm essen. Aber er hatte Probleme mit den Käsefäden in der Zwiebelsuppe. Und erwartete wohl, dass wir ihm wie andere Frauen zu Füßen lagen. Wir mochten eher Jazz als Rock‘n‘Roll. Und Elvis war erstaunlich verklemmt. Ich erinnere mich noch an seinen grässli­chen Designerpullover mit Löchern. Als ich ihn fragte: »Trägt man das Ding, um aufzufallen oder zur Kühlung?«, war seine Humorgrenze er­reicht.

Manfred Otzelberger: Goldene Jahre. 25 Prominente über die neue Lust am Altern (Herder, 25 €).
Manfred Otzelberger: Goldene Jahre. 25 Prominente über die neue Lust am Altern (Herder, 25 €).

Alice und Ellen Mit Burt Lancaster lief es besser, er wollte uns mit einem Freund bei einer Viererparty verführen. Bei einer von uns ge­lang es, aber es war nur ein verkrampftes Vergnügen. Lancaster be­hauptete hinterher, es wäre wie Sex mit einer Statue gewesen. Nicht sehr charmant.

Sie waren auch in Las Vegas.

Alice und Ellen Ja, auch Frank Sinatra flirtete in Las Vegas mit uns: »Shame, I just got married«, flüsterte der frischgebackene Ehemann von Mia Farrow uns zu. Unterwürfig waren wir bei keinem Mann. Und wir sind glücklich, dass wir nie in die Ehefalle getappt sind. Männer sind nur muskelstark, das war unsere Erfahrung. Und sie sind selten treu. Wir wollten auch nicht schwanger werden, denn dann hätten wir unsere Karriere aufgeben oder das Kind in fremde Hände geben müssen. Der Beruf war uns wichtiger. Als Hausfrauen wollten wir auch nicht enden. Wir waren unsere eigenen Ernährer.

Das Gespräch führte Manfred Otzelberger für sein Buch "Goldene Jahre".

 

 

Artikel teilen
 
Zur Startseite