Sarah Diehl: Mut zum Alleinsein!

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Allzu oft wird die Antwort auf die Frage nach einem zufriedenen Alleinsein davon abhängig gemacht, ob man in einer Liebesbeziehung steckt oder nicht. Dass die Zweierbeziehung aber sogar das Potenzial hat, einen Menschen vereinsamen zu lassen, wird selten bedacht. Das hat vielerlei Gründe: Manche sind ganz praktisch gelagert, weil man, unabhängig davon, ob die eigene Zweierbeziehung gut oder schlecht läuft, andere freundschaftliche Beziehungen vernachlässigt; andere Gründe sind ideell, weil man die Zweierbeziehung zum Maßstab für den eigenen Selbstwert und somit für das Empfinden des eigenen Abgehängtseins oder Außenseiterstatus macht.

Viele kennen das wahrscheinlich: Langweilige Nächte, in denen man Dating-Profile durchforstet und nach spätestens einer halben Stunde verschämt den Computerdeckel schließt, weil man selbst angewidert von dem eigenen immer gleichen einfach gestrickten Beuteschema ist, das man wiederholt anklickt. Es schwant einem, dass Online-Dating das Schlechteste aus einem herausholt, nämlich die Tatsache, dass man Menschen wie Produkte im Supermarktregal auswählt. Man wird dazu veranlasst, eine Ware zu beschreiben, die man mit bestimmten Eigenschaften haben möchte. Oft ist man dann nicht mehr in der Lage, die schrulligen Eigenartigkeiten dieser Ware zu respektieren und lieben zu lernen, wenn sie nicht auf der Einkaufsliste standen. Aber es war nicht erst das Online-Daten, dass diese Haltung förderte, wie kulturkonservative Stimmen uns glauben machen wollen, sondern bereits die Ehe. Man sucht nach Maßgabe von Erfolgskriterien die vorteilhafteste Partie, die Absicherung und sozialen Status verspricht.

Die Individualisierung der modernen Gesellschaft brachte viele Eckpfeiler der eigenen Identität ins Wanken, über die Menschen früher verfügten. Religionszugehörigkeit, Stand, Schicht und Heimat waren als Marker des Selbst nicht mehr so sicher bzw. war und ist die Sehnsucht groß, diese zu durchbrechen. Die alten Marker mussten weg, neue mussten her: Gerade da bietet sich die Einzigartigkeit der Liebe, der Ehe und der biologischen Kinder an, um die eigene Identität zu zeigen und zu feiern. In die Liebe durch Familie und einer Partnerin eingebunden zu sein hat nun einen ähnlichen Stellenwert wie früher die Zugehörigkeit zu einem Stand oder zu einer Glaubensgemeinschaft.

Für Frauen gibt es aufgrund von Diskriminierung, der Doppelbelastung durch unbezahlte Fürsorgearbeit und weil sie weniger gefördert werden, nach wie vor weniger Möglichkeiten in der Öffentlichkeit, in ihrem Beruf, in einem politischen Amt oder in den Wissenschaften und Künsten ihren Individualismus und ihren Wert unter Beweis zu stellen. Sie bekommen ihren Status leichter über ihre Beziehung zu anderen Menschen, über Kinder, oder den Ehemann, der ihnen als begehrens- und liebenswertes Objekt einen Wert verleiht.

Nichts kann unseren Individualismus mehr heiligen als ein Mensch, der uns erwählt. So lernen schon Mädchen in jeder zweiten Zeitschrift, in zahlreichen Spielfilmen oder YouTube-Tutorials, sich mit Protagonistinnen zu identifizieren, deren Wohlergehen von einem Mann abhängig ist.

Die Soziologin Stephanie Bethmann beschreibt dieses Phänomen so: Frauen haben ein Interesse an der Mit-Inszenierung und Erotisierung männlicher Überlegenheit, solange ihr Status von der Bindung an einen Mann und dessen Status abhängt – wenn sie ihn erhöhen, selbst zum Preis ihrer eigenen Herabsetzung, profitieren sie paradoxerweise unmittelbar selbst.

Es ist nicht nur die finanzielle Abhängigkeit, die Frauen an Männer binden kann, denn dieses Ungleichgewicht wurde erotisch aufgeladen. Die soziale Stellung der Frau wurde im Patriarchat so konzipiert, dass sie abhängig ist von einem Mann, der ihr ihren Wert proportional dazu verleiht, wie sehr er sie liebt, sich um sie sorgt, was er bereit ist, für sie zu tun. „Schlimmer ist nur, dass uns dieses Ungleichgewicht, das die Liebe da zurechtgezimmert hat, auch noch so reizvoll erscheint. Richtiggehend sexy. Und zwar vor allem uns Frauen“, so die Autorin Gunda Windmüller in ihrem Buch „Weiblich, ledig, glücklich – sucht nicht“. „Frauen werden Bittstellerinnen der Liebe, obwohl sie dabei schlechter wegkommen.“ Allein ist sie wertlos, ungeliebt, Freiwild, Hexe, Schlampe. Eine toxische Erzählung, an der Frauen sich abarbeiten mit dem oft falschen Handwerkszeug aus Frauenzeitschriften und Psychologie-Ratgebern, die dieses Gefälle nur verstärken, statt es zu analysieren und alternative Perspektiven zu zeigen.

Viele Menschen leben die Liebe als eine Idee des Eine:r für alle:s. Das bedeutet aber einen Verlust des Ganzen. Gunda Windmüller schreibt: „Liebe als Abo auf das Rundumsorglos-Paket: Sie soll uns ganz machen, unsere Identität absichern, uns erfüllen, unseren Geist erweitern, nachts wärmen und im Alter die Hand halten. Wer solche Erwartungen hegt, vergisst allerdings, dass die Liebe auch nur ein Mensch ist. Nur ein anderer Mensch.“ Wir tun uns keinen Gefallen, in einem anderen Menschen alles zu suchen, was uns stärkt und belebt: Zugehörigkeit, Abenteuer, Beständigkeit, Identität, Sicherheit, Freiheit und Zauber. Diese Dinge kann man in seiner eigenen Einstellung zum Leben finden, aber nicht von einem einzigen anderen Menschen abhängig machen.

Diese Überfrachtung findet man ähnlich in Freundschaften. Schließlich gibt es das Ideal, einen großen Freundeskreis zu haben, im Grunde als soziale Währung. Er versorgt einen mit Beschäftigung und ist wie eine Trophäensammlung, die Aufschluss über die eigene Beliebtheit gibt und den eigenen sozialen Wert begründet. Es kann aber auch erleichtern, sich von dieser Überfrachtung frei zu machen, die die eigene Zufriedenheit und die eigenen Gefühle vom Tun oder Nichttun anderer Menschen abhängig macht.

Eine Freundin erzählte mir, sie habe in ihrer Jugend sehr unter ihrer Einsamkeit gelitten. „Deshalb hatte ich lange eine große Sehnsucht nach einem großen Freundeskreis. Aber nun frage ich mich, ob diese Sehnsucht nur einem für mich falschen Ideal entsprach, denn tatsächlich habe ich mir in den letzten zwei Jahrzehnten dabei zugesehen, wie ich Freundeskreisen und Gruppen eigentlich aus dem Weg gehe und gerne Sachen allein mache. Ich fühle mich sicherer und stabiler, wenn ich mich allein spüre, denn als Teil einer Gruppe, in der ich meine Position oft nicht verstehe.“

Dass Menschen Geselligkeit idealisieren, obwohl es nicht immer ihren wahren Bedürfnissen entspricht, offenbarte sich auch während der Corona-Lockdowns: Viele Menschen berichteten, dass sie sich plötzlich von dem Phänomen des FOMO, „Fear of Missing out“, also dem Gefühl, etwas zu verpassen und andauernd unter Leuten sein zu müssen, befreit fühlten. Sie fühlten sich weniger einsam, weil sie sich nicht mehr verglichen mit einem Lifestyle, der vorgibt, dass man andauernd mit anderen auf Veranstaltungen oder Partys gehen muss, weil es eben keine gab. Da dies im Grunde alle betraf, hatten sie den Raum zu merken, dass es ihnen gar nicht fehlte, sie eher Erleichterung von dem Druck spürten, mit einer Menschengruppe unterwegs sein zu müssen, um ihre Freizeit richtig zu nutzen.

Liebespartner:innen und Freundinnen sollten sich in ihrer Autonomie und Selbstliebe bestärken. Wenn man nur bestimmte Eigenschaften verlangt, kann man den Partner nicht lieben für das, was er oder sie ist, weil man nicht sieht, was er oder sie tatsächlich zu geben hat. In der Liebespartnerschaft erwarten wir von nur einem Menschen, was sonst eine ganze Gemeinschaft für uns geleistet hat, oder – und das ist keine Übertreibung – was Menschen früher von Gott erwartet haben. Menschen verwechseln Liebe als allumfassende Lebenseinstellung mit der Liebe zu einem einzigen Menschen. Diese Art von Liebe ist verhängnisvoll, weil man allzu schnell denkt, man könne ohne den anderen oder die andere nicht mehr leben. Man möchte in dem oder der anderen aufgehen, eine komplette gleißende Symbiose.

So wird Einsamkeit oft an falschen Merkmalen abgelesen, die sehr oft mit tatsächlicher sozialer Isolation gar nichts zu tun haben. In den Industrieländern hat sich die Anzahl der Singlehaushalte in den letzten 30 Jahren verdoppelt. Haushaltserhebungen in Kanada, Finnland, Estland, Norwegen, Deutschland im Jahr 2017 ergaben, dass der Einpersonenhaushalt der meistverbreitete ist. Diese Entwicklung hat sich in den letzten Jahren fortgesetzt. Eigentlich ist es also normal, allein zu leben. Das wird jedoch oft reflexhaft mit einem Zunehmen der Vereinzelung gleichgesetzt.

Doch der Beziehungsstatus sagt nichts über die Einsamkeit aus. Eheleute können komplett zurückgezogen leben und einsam an der Beziehung leiden, Singles können einen großen Freundeskreis haben und drei ehrenamtliche Positionen bekleiden. Menschen, die allein wohnen, sind mitnichten automatisch isoliert, unsozial oder kümmern sich nicht um andere. Menschen, die nicht verheiratet sind, haben statistisch betrachtet sogar mehr soziale Kontakte als Ehepaare. Trotzdem kommen Feuilletonisten, die die Einsamkeit beklagen, nicht darauf, mit Sorge auf die vielen Menschen zu verweisen, die vor den Altar treten.

Singles haben oftmals mehr Freundinnen als Liebende oder Ehepartnerinnen, die sich in einer Zweier-Symbiose verlieren. Viele Menschen berichten deshalb auch davon, wie ihr Freundeskreis nach einer Trennung von der Partnerin oder vom Partner abrupt anwuchs. Sie fühlten sich dann nicht mehr so einsam wie zuvor in ihrer Beziehung. Singlesein hat mit Isolation in den meisten Fällen also überhaupt nichts zu tun. Denn Alleinstehende pflegen oftmals bessere Beziehungen zu Kollegen, Nachbarinnen, Familie und Freunden. Allein leben wird trotzdem als temporärer Zustand gesehen, den es langfristig zu ändern gilt. Andere Beziehungen werden abgewertet: Das Ziel muss immer die traute Zweisamkeit sein.

Menschen klopfen sich selbst misstrauisch darauf ab, ob sie beziehungsunfähig sind, weil sie seit zwei Jahren als Single leben, und verlieren aus dem Blick, dass sie jahrelange loyale Freundschaften haben. Wenn die Maßstäbe für Liebe und Partnerschaft Ehrlichkeit, Loyalität und Sinnlichkeit sind, sind sie für viele Eheleute nicht erfüllt. Zahlreiche Freundschaften haben hingegen alle Merkmale, die man sonst der romantischen Liebe zuordnen würde. Man kann eine außerordentlich romantische Beziehung sogar zu sich selbst haben.

Doch wo liegt der Fehler im emotionalen Regelwerk, wenn man mit einem guten Freund zusammensitzt und sich dennoch einsam fühlt (oder glaubt, sich einsam fühlen zu müssen), nur weil man keine:n Liebespartner:in hat? Denn die Wahrheit ist eigentlich eine ganz andere, wie auch Gunda Windmüller schreibt: „Wenn man die Unzufriedenheit in allen Gruppen vergleicht, gibt es niemanden, der so unglücklich ist wie die unglücklich Verheirateten. Nicht die Geschiedenen, nicht die Verwitweten und nicht die Dauer-Singles.“

Nicht nur die Psyche und das Selbstwertgefühl, sondern sogar das Immunsystem leidet darunter, wenn man qua Ehevertrag zu Einsamkeit in der Zweisamkeit verurteilt ist, wie Wissenschaftlerinnen der International Association for Relationship Research feststellten. Oft sind die Gründe, warum man in einer unglücklichen Beziehung bleibt, rein formell: finanzielle Abhängigkeit (weil man sich die Miete nicht allein leisten kann oder weil man einen gemeinsamen Kredit aufgenommen hat), gemeinsame Kinder und die drohende Altersarmut der Frau, die wegen der Kinderbetreuung kaum Rente bekommt. Das sind die Fesseln, die die Kleinfamilie für den Fall des Trennungswunsches vorgesehen hat.

Oft verharren Menschen aber auch nur in unglücklichen Beziehungen, weil sie befürchten, das soziale Leben würde bei einer Trennung Schaden nehmen. Man traut sich nicht zu, allein auszugehen oder in den Urlaub zu fahren. Man befürchtet einen sozialen Abstieg und Statusverlust, wenn man sich nicht mehr durch die Partnerschaft aufwerten kann. Ehepartnerinnen verharren in ihrer Einsamkeit, weil sie Angst haben, als einsam zu gelten.

Der Text ist ein Auszug aus dem aktuellen Buch von Sarah Diehl: „Die Freiheit, allein zu sein“ (Arche Verlag)

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