Vergesst Afghanistan nicht!

Afghaninnen marschierten nach Brüssel und forderten: Stoppt den Krieg gegen Frauen!
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Zahra kommt im Sommer im Düsseldorfer Umland in die Schule. Ob sie schon einen Schulranzen hat, frage ich sie. „Ja“, sagt sie stolz, „mit Pferden drauf“. Wäre sie noch in ihrer Heimat Kabul, wäre ihre Bildung nach sechs Jahren Grundschule abgeschlossen. Bestenfalls. Und wenn sie danach arbeiten würde, dann höchstwahrscheinlich als Teppichknüpferin.

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„Mein Mädchen soll schlau werden, vielleicht Polizistin!“, strahlt Zahras Mutter Ela. Zahras Vater war auch Polizist, hat oft für die deutsche Bundeswehr in Kabul übersetzt. Die Taliban haben ihn umgebracht. Ela und Zahra konnten mit Hilfe der Bundeswehr fliehen. Als die Demonstrierenden „Stopp Taliban! Stopp Taliban!“ rufen, hält Zahra ihr Schild ein bisschen höher. „Schule auch für Mädchen – Ban Taliban!“ steht drauf.

Die Taliban führen Krieg gegen Frauen und Mädchen. Aus purem Hass

Die Demo an diesem Dienstagnachmittag in Düsseldorf ist eine von fünfen in Deutschland. Am Vormittag wurde in Köln demonstriert. Start war drei Tage zuvor in Berlin, es folgten Hamburg und Hannover. Afghaninnen und MenschenrechtsaktivistInnen aus ganz Deutschland fuhren mit Bussen von Stadt zu Stadt, organisierten vor Ort Demos und Kundgebungen. Ein paar Dutzend Menschen kommen. Mehr nicht. Die letzte Etappe führte die Frauen am 8. März, dem Internationalen Frauentag, nach Brüssel, vor das EU-Parlament.

Die Afghaninnen hoffen, dass endlich jemand auf ihr Land blickt, das die Hälfte der Bevölkerung, die weibliche, versklavt. „No to Gender-Apartheid in Afghanistan!“ lautet das Motto des Protestmarsches. Initiatorin ist die Deutsch-Afghanin Patoni Teichmann. Im August 2021, als die Taliban in Kabul einmarschieren, leitet die Ärztin dort ein Frauen- und Mädchenprojekt. Dann musste auch sie fliehen. „Ich saß im ersten Militärflugzeug, das starten durfte, dieser Flug mit leerem Frachtraum, in dem nur sieben Menschen saßen. Und ich dachte an all die Frauen und Mädchen, denen dieser Flug vielleicht das Leben gerettet hätte,“ erzählt Patoni. Obwohl sie seit über 20 Jahren in Deutschland lebt, lässt ihre Heimat sie nicht los.

Im Dezember 2022 hat die Menschenrechtlerin dann den gemeinnützigen Verein „European Organisation for Integration“ in Berlin Charlottenburg mitgegründet und die Geschäftsführung übernommen. Dort vernetzen sich Menschen aus ganz Europa und engagieren sich ehrenamtlich für gezielte Integration. „Wir haben ÄrztInnen, AnwältInnen, IngenieurInnen, JournalistInnen, die selbst Migrationshintergrund haben und Geflüchteten aus ihren Herkunftsländern und Berufsgruppen aufs Pferd helfen wollen. Integration funktioniert am besten über Berufsarbeit!“, sagt Patoni.

Die Organisatorin der Demo, Ärztin Patoni Teichmann, leitete ein Frauen- und Mädchenprojekt in Kabul.
Die Organisatorin der Demo, Ärztin Patoni Teichmann, leitete ein Frauen- und Mädchenprojekt in Kabul.

Seither mobilisiert sie Afghaninnen in Deutschland und alle, die sich für die Frauen in dem Land einsetzen wollen. Sie ist fassungslos darüber, wie abrupt sich der Westen von einem Land abwendet, in dem er 20 Jahre lang vorgeblich für Frauenrechte gekämpft hat. „Wir erleben heute in Afghanistan eine beispiellose Geschlechterapartheid. Mädchen und Frauen erfahren furchtbares Leid, nur weil sie Frauen sind, aus keinem anderen Grund! Die Taliban führen Krieg gegen ihre eigenen Frauen, Mütter und Töchter!“, ruft sie auf der Demo in Köln ins Mikro. Auf der Domplatte zieht es wie Hechtsuppe, Schneeregen rieselt uns ins Gesicht.

Unter den Unterstützerinnen in Köln sind auch Iranerinnen. Helen Vaziry zum Beispiel. „Ob Iran oder Afghanistan, wir Frauen müssen uns Frauen zum Thema machen! Und wir müssen uns gegen das Vorrücken der Islamisten wehren, auch hier in Deutschland!“, sagt sie.

In keinem Land der Welt sind Frauenrechte so eingeschränkt wie in Afghanistan – das erklärten auch die Vereinten Nationen (UN) am Internationalen Frauentag, dem 8. März. „Die Hälfte der Bevölkerung zu Hause einzusperren, während in dem Land eine der größten humanitären Krisen weltweit herrscht, ist ein kolossaler Akt nationaler Selbstschädigung“, heißt es weiter in dem UN-Bericht. „Aber was folgt denn daraus?“ fragt Moushda Azadi mit Blick auf Norwegen voller Zorn. Sie ist eine der Demonstrantinnen in Köln. „Welche Macht haben die UN denn überhaupt? Die ganze Welt weiß, welche Gräueltaten die Taliban an Mädchen und Frauen verüben. Und trotzdem wollen westliche Länder mit den Taliban sogar verhandeln!“ Norwegen hatte im Januar 2022 ranghohe Taliban-Funktionäre und Attentäter zu offiziellen Gesprächen nach Oslo eingeladen.

Seit die Taliban zurück sind, denken alle Frauen und Mädchen über den Tod nach

Eine, die diese Gräueltaten am eigenen Leib erlebt hat, ist die Frauenrechtlerin Tamana Paryani. Die Afghanin hatte nach der Machtübernahme durch die Taliban mehrere Demonstrationen in Kabul organisiert, auf denen auch Burkas verbrannt worden waren. Im Januar 2022 drangen Taliban mit Äxten in ihre Wohnung ein. Geistesgegenwärtig filmte die 25-Jährige den Überfall mit ihrem Handy. Das Video erreichte EMMA. Wir machten es publik. Und wir dachten: Die bringen sie jetzt um. Wir zapften alle Kanäle an, die wir hatten, baten Konsulate, Diplomaten und Hilfsorganisationen um Hilfe. „Das wird schwer“, hieß es.

Drei Wochen lang wurde Tamana von den Taliban gefoltert. Sie traktierten sie mit Stromkabeln, Peitschen, Rohren und mit Elektroschocks, solange, bis sie bewusstlos wurde. Manchmal haben sie ihr auch eine Plastiktüte über den Kopf gezogen und erst kurz vor dem Ersticken wieder abgenommen.

Als ich Tamana im Bus sehe, mit dem ich gemeinsam mit den Afghaninnen zur Demo von Köln nach Düsseldorf fahre, kann ich es kaum glauben. Da sitzt sie. Eine zarte junge Frau mit ernstem Blick. Es fällt Tamana schwer, über Afghanistan zu sprechen. Ihr fehlt, genau wie uns bei EMMA, das letzte Puzzle-Teil ihrer Rettung. Tamanas kleine Schwester Shafiqa ist mit dabei. Sie und zwei weitere Schwestern wurden ebenfalls 26 Tage lang von den Taliban gefoltert. „Ich hatte vorher nie über den Tod nachgedacht“, sagt die 17-Jährige, „seit die Taliban zurück sind, denken alle Frauen in Afghanistan Tag und Nacht an den Tod.“

Tamana Paryani und EMMA-Redakteurin Annika Ross.
Tamana Paryani und EMMA-Redakteurin Annika Ross.

Im Oktober 2022 gelang es Tamana dank der Unterstützung deutscher NGOs mit ihrer zehnköpfigen Familie über Pakistan zu fliehen. Jetzt versuchen sie, sich in der Nähe von Köln ein neues Leben aufzubauen. Aller Anfang ist schwer.

Auch Tamana ist in Düsseldorf eine der Rednerinnen. Sie ruft über den verschneiten Platz: „Meine Freundinnen verstecken sich noch immer in den Kellern Kabuls. Gelingt ihnen das nicht mehr, werden sie umgebracht! Lassen Sie sie nicht allein!“

Die auf sie folgende Rednerin beschreibt, wie die Taliban einen Anschlag auf eine Geburtsklinik in Kabul verübt haben. „Sie haben Neugeborene, Mütter, Krankenschwestern und Ärztinnen ermordet! Dann haben sie eine Mädchenschule bombardiert. Sie wollen lernende Mädchen treffen, um eine Botschaft an alle Frauen zu senden: Ihr gehört ins Haus!“ 30 Mädchen starben bei dem Anschlag im September 2022.

Eine Frau demonstriert in Düsseldorf verschleiert mit. Sie heißt Jaza und geht in Deutschland nur mit Kopftuch und Corona-Maske vor die Tür. Aus Angst vor dem langen Arm der Taliban. „Ich bekomme Morddrohungen von Talibanen, die in Deutschland leben. Ich muss sehr vorsichtig sein“, sagt sie. Jaza war Gynäkologin in Kabul und Masar-e Sharif, hat Frauen auf dem Land zu Hebammen ausgebildet, mit unzähligen Männern verhandelt, damit sie ihre Ehefrau zur Geburt in ein Krankenhaus bringen. Sie fragt sich, wer jetzt die Kinder in Afghanistan auf die Welt bringt. „Es gibt kaum noch Hebammen. Ärztinnen dürfen nicht mehr arbeiten, Krankenschwestern gibt es auch keine mehr. Männer aber machen keine Geburtshilfe. Die Frauen werden ihre Kinder ohne Hilfe bekommen müssen. Viele werden dabei sterben“, sagt sie. Schlimm sei auch, dass viele der schwangeren Frauen so jung seien, eigentlich noch Mädchen von 14, 15, 16 Jahren. „Sie sind mangelernährt und gar nicht in der Lage, ein Kind auszutragen.“

Wie könnt ihr das zulassen? Wie können euch diese Menschen so egal sein?

Und Ellaha, die erst vor wenigen Wochen aus Kabul fliehen konnte, erzählt mir von den Schaufensterpuppen: „Dieses Bild, wie sie all den Puppen eine Plastiktüte über den Kopf gezogen haben, hat sich mir eingebrannt. Sie wollen uns die Luft zum Atmen nehmen. Sie hassen alle Frauen!“ Sie sagt, dass sie auch in Hamburg, wo sie nun lebt, schon Frauen mit Burka gesehen habe. „Wie könnt ihr das hier zulassen?“, fragt sie mich vorwurfsvoll. „Wisst ihr denn nicht, was das bedeutet? Können denn hier auch einfach Männer ungestraft ein Tuch über Frauen und Mädchen schmeißen und sie damit unsichtbar machen? Eine Burka raubt das Mensch-Sein!“ schreit sie mich an. „Ich sehe es ja genauso“, sage ich kleinlaut.

Solidarische Iranerinnen demonstrieren mit den Afghaninnen.
Solidarische Iranerinnen demonstrieren mit den Afghaninnen.

Viele der Frauen haben Schlimmes erlebt, Schlimmes gesehen und bekommen permanent neue Horror-Nachrichten aus ihrer Heimat auf ihr Handy. Ihre Verwandten erzählen davon, wie Mädchen von Talibanen entführt werden, wie Familien ihre Töchter verkaufen oder zwangsverheiraten, um einen Esser weniger zu haben. Auch wie junge Frauen ihre Nieren verkaufen, um an Geld für Nahrung zu kommen, wird berichtet. Der Schwarzmarkt-Organhandel in Afghanistan boomt, in der westafghanischen Provinz Herat ist es besonders schlimm. „Wie kann die Weltgemeinschaft nur so jämmerlich versagen?“, fragen mich mehrere Frauen.

Den Afghaninnen scheint die Eiseskälte an diesem Dienstag nichts auszumachen. Tapfer halten sie ihre Schilder hoch, trotzen dem Wind, der das große Banner „Don’t forget Afghanistan“ immer wieder wegwehen will.

Neben der Wut auf den Westen kommt noch ein anderes Gefühl hoch: Schuld. „Ich habe meine Familie zurückgelassen, all meine Freundinnen. Ich lebe in Sicherheit, aber ich fühle mich nicht gut“, sagt Muska Noori. Sie war Journalistin bei „Radio Television of Afghanistan“ (RTA), einem staatlichen Sender. Muska hat es in letzter Sekunde geschafft, sich in einen übervollen Militärflieger zu quetschen. Die Taliban hätten sie mit Sicherheit umgebracht, sagt sie. Dass sie davongekommen ist, doch so viele andere nicht, wiegt schwer auf ihr. Mit dem Gefühl ist sie nicht allein, „Survivor’s Guilt“ heißt das Phänomen. Auch Holocaust-Überlebende leiden darunter.

Die Geldflüsse aus dem Westen an die Taliban müssen gestoppt werden.

Muska und ihre Freundin Muzhda Ahmadi zählen sich zur „betrogenen Generation“. Die beiden Anfang 20-Jährigen sind in Freiheit aufgewachsen. Sie durften zur Schule gehen, studieren, arbeiten. Das alles ist nun nichts mehr wert.

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Die protestierenden Afghaninnen fordern die internationale Gemeinschaft auf, das Taliban-Regime nicht anzuerkennen und Sanktionen gegen alle Mitglieder zu verhängen, Reiseverbote zum Beispiel. „Diese Männer kennen nur eine Sprache: Dollars“, sagt Patoni Teichmann, „die Geldflüsse aus dem Westen müssen endlich gestoppt werden!“ Das Geld lande sowieso nicht bei der Bevölkerung, schon gar nicht bei den Frauen und Mädchen. „Jeder Cent, jeder Dollar, der noch in dieses Land geht, muss an Frauenrechte geknüpft werden!“, fordert sie. Und sie fragt, warum es noch immer kein Aufnahmeprogramm für extrem gefährdete Afghaninnen gebe, so wie die Bundesregierung es Anfang 2022 versprochen hätte. Patoni appelliert an die Bundesregierung „dringend aktiv“ zu werden; zum Beispiel mit den Nachbarstaaten Pakistan, Iran, Indien, Usbekistan und Tadschikistan zu verhandeln, um sichere Fluchtwege zu öffnen.

„Das wäre doch etwas, was unsere Außenministerin zu ihrem Thema machen könnte, zum Beispiel auf ihren Reisen nach Katar, in den Irak oder Iran. Annalena Baerbock hat doch gerade erst erklärt, sie wolle feministische Außenpolitik machen. Mit welch anderem Land könnte sie das besser unter Beweis stellen als mit Afghanistan?“, findet Patoni. Sie wird weitermachen. Denn: „Das, was mit den Mädchen und Frauen Afghanistans passiert, das darf keiner Frau auf der Welt egal sein. Es ist ein Krieg gegen uns alle.“

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