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Ist Antje Strubel noch zu retten? Sie müsste nur sorgloser werden, sich einlassen, bauchfrei tragen... aber kann sie das?

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Ich bin zu einer Techno-Party eingeladen. Ich war noch nie auf einer Technoparty. Ich fühle mich für diese Art musikalischer Erhitzung eigentlich zu alt. Nur Tango macht mir wirklich Spaß. Ich besitze auch nicht die richtigen Klamotten. Erst neulich hörte ich in der U-Bahn ein Mädchen, deren nackter Rücken schmal erblüht war und der ein Stringtanga pink aus der Hose leuchtete, zu ihrer Freundin sagen: Gott, haben die alle hässliche Teile an! Sie meinte mich.

Plötzlich saß ich in meinen Jeans da wie früher. Ich trug einen DDR-Jumo-Lappen, der zutiefst verachtenswert war, sie dagegen verkörperte den ersehnten Westen. In Jeans und schwarzem Tango-Hemd würde ich an jedem Türsteher scheitern.
Schleunigst ging ich zu H&M. Es war gerade Kirchentag. Überall liefen junge Menschen mit Heiligenscheinen herum. Es waren gelbe Frisbie-Ringe, die man am Tempodrom bekam. Sie trugen sie auf dem Kopf oder lässig am Handgelenk, nur beim Anprobieren hängten sie sie an die Haken vor den Kabinen.
Die Damenabteilung war rosa. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass das nicht an der Beleuchtung lag. Man trägt das jetzt so. Man trägt Top Neckholder und Blusen mit Carmen-Ausschnitt in beige, weiß, hellgelb und rosa. Ich nahm von allem etwas, der Spiegel zeigte mich im rosa Top. Zwischen Sonnengeflecht und Bauchnabel war es wie eine Gardine gerafft, die mir an einem dünnen Träger vom Hals hing. Es heißt, die Mode würde spitzfindiger und stoffloser, je höher sie entwickelt sei; ich fühlte mich verwahrlost.
Als ich in eine der Hosen stieg, die knapp über der Scham enden, bekam ich Probleme. Wo früher die Taille geschnürt wurde, schnürt man momentan den Unterleib. Mir gelang es nicht, die Hüftknochen einzuziehen, und so bekam ich den Knopf nicht zu. Die Beine hatten einen Tunnelzug. Als ich vorsichtig an den Bändern zog, schnurrten die Hosen zusammen, meine Beine sahen wie Raupen aus.
Blieb noch das pastellgelbe Kleid. Es bestand hauptsächlich aus Trägern. Sie liefen vom Hals zu den Brüsten, die darunter wirkten, als hätte man sie mit Tesafilm abgeklebt. In den Kabinen nebenan hörte ich zustimmendes Gemurmel. Voll schön, sagte jemand. Auch die Verkäuferin hatte ich vorhin im gleichen Kleid gesehen, andere Klamotten bot der Laden nicht an.
Ich aber kam mir vor wie mein Großvater, als er nach dem Krieg vier russischen Matronen gegenüberstand. Am liebsten hätte ich meine Jeans wieder angezogen. Stattdessen starrte ich mir entgegen wie vier russischen Offiziersgattinnen. Sie waren in die Weberei meines Opas gekommen, weil ihre Männer die Rote Armee siegreich nach Deutschland geführt hatten und jetzt die Kommandatura bildeten, mit der mein Opa verhandelte. Er war in den Augen der Kommandatura ein Kapitalistenschwein, es ging um sein Leben. Ich hatte den Eindruck, dass es in dieser Kabine auch um mein Leben ging, hier entschied sich, ob ich reinkam oder draußen blieb, während Christina Aguilera sang.
Für meinen Großvater waren die Russinnen die Türhüter zum Gesetz. Er zeigte ihnen seine besten Stoffe. Er präsentierte ihnen Ballen hochwertiger Chanchan-Seide und goldfadendurchwirkten Brokat. Die Damen sahen sich alles an, dann hoben sie ihre Wollröcke. Darunter trugen sie nichts. Sie entblößten der Welt und meinem Großvater ihr blankes Geschlecht, sie ließen ihn ein, ungerührt und selbstverständlicher als Sharon Stone Jahre später in Basic Instinct. Dann wickelten sie sich in den Brokat, als wäre er ein Badetuch aus Frotté. Meinem Großvater war das peinlich, aber es rettete ihm den Kopf.
Auch ich bin vielleicht noch zu retten, ich müsste mich nur einlassen. Ich müsste sorgloser werden, müsste meine gequetschte Haut einfach als Anziehsache betrachten. Ich müsste lernen, wie man eine Hüftschaukel macht und den Bauch unter knallengen Tops hervorbrechen und artistisch prall über den Gürtel rollen lässt. Fortgeschrittene täuschen auf diese Weise sicher auch Schwangerschaften vor. Bei mir wackelte nur bleiches Fleisch, das Top rollte sich sofort nach oben auf. Körperlich gesehen war ich hinterstes Sibirien.
Ich kaufte dann aus Verzweiflung ein gestreiftes Männerhemd. So werden sie mich nie reinlassen. Aber bevor ich den Laden verließ, schnorrte ich noch einen der gelben Frisbies. Denn mich beschlich das vertraute Gefühl, es käme vielleicht auch diesmal nur darauf an, wo in dieser Welt die Heiligenscheine hingen.
Antje Strubel, EMMA Juli/August 2003 

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