Nina Gummich & Alice Schwarzer

Ein kurzer Besuch der Original-Alice auf dem Kölner Set bei der Film-Alice. - Foto: rbb/Alexander Fischerkoesen
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Die beiden sitzen mir ziemlich vergnügt gegenüber. Die Frau aus dem Osten und die aus dem Westen. Am Tag der Deutschen Einheit. Nina Gummich und Alice Schwarzer sind sich nur wenige Wochen vor Drehbeginn, im Oktober 2021, zum ersten Mal begegnet. Alice hatte Mitspracherecht bei der Besetzung der Hauptrollen – und hat nach Ansicht des dreiminütigen Casting-Films spontan auf Nina gesetzt. 100prozentig. Gestern haben die beiden zusammen zum ersten Mal den Film bzw. die Filme gesehen: zwei Teile „Alice“, 180 Minuten zusammen. Es geht darin um die Jahre 1964 bis 1977: um das Jahr, in dem Alice ihren langjährigen französischen Lebensgefährten Bruno kennenlernt; bis hin zu dem Jahr, in dem sie die erste EMMA macht. Dazwischen ist viel passiert. Sehr viel. Und was sagen die beiden jetzt?

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Nina, wie hast du reagiert, als du die Anfrage bekommen hast, Alice Schwarzer zu spielen?
Nina Es kursierte seit einigen Wochen die Information, es gäbe da ein Casting für die Rolle der Alice Schwarzer, Freundinnen von mir waren dazu auch eingeladen worden. Da dachte ich schon: Schade, dass ich nicht dabei bin! Und dann war ich im Urlaub und hatte mich gerade an den Strand gesetzt – und zack, kam die Anfrage. Und dann gab es eine Art Sog, der mich in die Sache reinzog. Ich wusste nicht genau, wie ich es hinkriegen würde, aber mir war klar: Das muss klappen! Und dann habe ich noch im Urlaub ein ganzes Team mobilisiert. Ich habe nach 22 Jahren in dem Beruf ein Netzwerk an Frauen, die bedingungslos sofort bereit waren, mir zu helfen. Alice ist ja jemand, zu der alle ein Bild im Kopf haben, ich selber  auch, und es ist auch noch historisch – das muss stimmen! Ich bin dann aus dem Urlaub direkt zu einer dieser Frauen, einer Maskenbildnerin, gefahren, die mir die Haare so geschnitten hat, wie Alice sie damals hatte. Währenddessen haben wir uns Interviews angeschaut, um in die Person reinzukommen. Mir war klar, die Leute müssen denken: Die ist ja wie sie!

Alice Schwarzer im Sommerurlaub 1968 in Dänemark. Nina Gummich am Strand in Belgien: Verdammt dicht dran.
Alice Schwarzer im Sommerurlaub 1968 in Dänemark. Nina Gummich am Strand in Belgien: Verdammt dicht dran.

Die Ähnlichkeit ist in der Tat verblüffend. Wie hast du das geschafft?
Nina Ich habe mir Interviews angeguckt und Tabellen angelegt: Handbewegungen, Worte, Sätze, Lacher – und habe die sozusagen nachgeahmt. Normalerweise spiele ich meine Rollen immer aus mir heraus, von innen nach außen. Das war das erste Mal, dass ich anfing, Äußerlichkeiten nachzumachen und dann zu gucken: Was macht das mit mir? Da steckt in der Art, sich den Pony aus dem Gesicht zu streichen, Alice’ gesamte Paris Zeit und auch dieser gewisse Stolz und diese Würde. Und am Tag des Castings mischt sich diese sehr exakte Vorbereitung mit totalem Loslassen.

Alice Was man dazu wissen muss: Es vergingen dann noch Monate bis zur Entscheidung. Ich hatte mir ja zum Glück ein Mitspracherecht bei der Besetzung der drei Hauptrollen vertraglich zusichern lassen, also: ich, Bruno und Ursula. Ich kannte Nina als Schauspielerin ehrlich gesagt gar nicht, weil ich nicht viel fernsehe. Dann erzählte mir die Regisseurin: „Die ist mit deiner Frisur gekommen!“ Das nächste, was ich von Nina hörte, war, dass sie andere Projekte abgesagt hatte mit der Begründung: „Im März kann ich nicht, da spiele ich die Alice Schwarzer!“

Nina Dabei war die Entscheidung noch gar nicht gefallen ...

Alice Da musste ich sehr lachen und dachte: Das scheint aber eine echte Alice zu sein! (Alle lachen.) Ich habe mir dann das Dutzend Schauspielerinnen angesehen, die in die Endrunde gekommen waren. Und da waren durchaus einige dabei, die rein optisch dichter an mir dran waren als Nina. Aber dann habe ich Nina gesehen und gewusst: Die ist es! Also habe ich gesagt: Ich möchte sie kennenlernen, vorher entscheide ich nicht. Und dann sind wir essen gegangen und da war die Sache klar. Entscheidend war für mich, dass es bei ihr von innen kam. Ich habe gespürt: Sie hat meinen Kern erfasst. Die Regisseurin wollte sich noch ein paar Schauspielerinnen mehr ansehen, aber ich habe gesagt: „Sie brauchen mir nichts mehr zu schicken. Sie ist es.“

Nina Es vergingen dann noch sechs Wochen, in denen ich gestorben bin. Ich hatte die Wahl: Drücke ich jetzt die innere Stopp-Taste und lenke mich ab? Oder beschäftige ich mich weiter so mit der Rolle, als würde ich sie kriegen? Für Letzteres habe ich mich entschieden und bin auf Risiko gegangen – und das war auch irgendwie ein Alice-Move.

Alice Du hast dir sogar meine Schreibmaschine von früher besorgt! Das hat sie mir irgendwann geschrieben: „Ich hab deine Baby Brother in hellblau!“

Alice, wie ist es, sich selbst in einem Spielfilm zu sehen?

Das ist natürlich eigenartig und war auch ein großes Risiko, dessen ich mir bewusst war. Aber ich bin ja seit 50 Jahren gewohnt, neben mir zu stehen. Grundsätzlich weiß ich: Es gibt mich als Person mit meinem Leben und es gibt die öffentliche Alice. Das ist nicht immer identisch und das muss ich begreifen und ertragen. Wenn ich da nicht eine gelassene Distanz hätte, wäre ich schon gut unterwegs in der Psychiatrie. Dieses Training habe ich also. Was ich gehofft hatte, war nicht, dass meine Realität gezeigt würde, sondern dass ich von dem Film im Kern erfasst werde. Und das ist eingetreten – dank Drehteam, Regisseurin und allen voran Nina.

Was ist denn dieser Kern?
Ich habe mir zum Beispiel erhofft, dass man nicht nur die Power-Alice sieht. Die kennt man ja, und zu der stehe ich selbstverständlich. Aber ich kann auch sehr dünnhäutig und empfindsam sein. Kühl und analytisch, klar, aber auch ein fühlsam. Ich habe Humor. Da habe ich mir auch gewünscht, dass man das sieht. Nicht nur die Amazone – „Jetzt werden hier die Frauen befreit“! Und ich habe gehofft, dass man meine Entwicklung nachempfinden kann. Wie komme ich auf den Feminismus und die EMMA?

Warum hast du eigentlich eingewilligt, dass dieser sehr persönliche Film über dich gemacht wird?
Aus zwei Gründen: Erstens hoffe ich, dass dieser Film über diese Zeit zwischen 1964 und 1977 ein bisschen rüttelt an dem absurden Schwarzer-Klischee. Zum zweiten spüre ich seit Jahren, dass unsere Geschichte verloren geht, die Geschichte des Feminismus. Und die Zeitgeschichte. Das waren ja nicht nur für mich persönlich Jahre des Aufbruchs, sondern für alle Freigeister. Jahre des Übermutes und der Hoffnung. Viel freier als heute.

Und du, Nina, warum wolltest du unbedingt Alice spielen?
Es gab da zwei große Aspekte. Der eine war, dass für mich als Schauspielerin gefühlt dieser nächste Schritt anstand: Eine Person zu spielen, die von dieser Bedeutung ist und zu der alle ein bestimmtes Bild im Kopf haben, ist was ganz anderes, als völlig frei eine Figur zu erfinden. Der andere Aspekt war auch ziemlich schnell klar: Die Beschäftigung mit Alice und ihrer Geschichte und dem, was sie bewirkt hat, hat jeden so inspiriert und zu neuen Gedanken bewegt. Das wurde schon im Castingprozess klar, unter Kolleginnen, die selber für die Rolle vorgesprochen haben. Wenn wir telefoniert und uns ausgetauscht haben, fiel oft der Satz: „Egal, ob ich die Rolle jetzt kriege oder nicht, ich werde mich jetzt mit den Themen der Frauenbewegung beschäftigen!“ In mir wuchs sofort das Gefühl, dass ich für alle Frauen, die das bestärken könnte, ihren eigenen Weg zu gehen, unbedingt diese Geschichte erzählen muss.

Was hast du denn vorher über Alice gewusst?
Nina Ich habe Alice immer wieder im Fernsehen auftauchen sehen, sie als laut und lustig in der ersten Reihe wahrgenommen. Als Kind dachte ich immer, du wärst Politikerin mit extremem Einfluss, so bundeskanzlermäßig. Und das Gefühl, da reingezogen zu werden, war da, bevor ich es intellektuell verstanden habe. Dieses Verstehen fing dann erst an mit der Beschäftigung mit deinen Büchern, Alice.

Alice Ich habe Nina natürlich gleich am ersten Abend ein paar Kilo Bücher in die Arme geworfen (feixt).

Nina Und dann las ich den „Kleinen Unterschied“ und dachte: Das kann doch nicht wahr sein! Ich kann jede Geschichte darin einer Frau, die ich kenne, zuordnen. Auch Frauen in meiner Familie, über Generationen zurück. Die Geschichte der Frauen in meiner Familie war schon vor Alice ein großes Thema für mich. Ich hatte auf diese Geschichte aber immer sehr emotional und von einem psychologischen Standpunkt geschaut. Meine Generation ist ja die erste, in der es okay ist, eine Therapie zu machen und die Familien-Traumata aufzuarbeiten. Und plötzlich eröffnete sich für mich auch die gesellschaftliche Dimension dahinter.

Beim Frauenkongress in Deutschland. - Foto: Alexander Fischerkoesen/RBB
Beim Frauenkongress in Deutschland. - Foto: Alexander Fischerkoesen/RBB

Du hast also die Theorie zur Praxis entdeckt?
Nina Genau. Ich dachte: Ach, dafür gibt es einen Begriff! Und dafür auch! Und ich spürte: Jetzt die Alice zu spielen, ist der folgerichtige Schritt. Das war wie eine Fügung. Und das hat auch mit mir persönlich viel gemacht.

Alice Was denn?

Nina Du hast ja eine große Angstfreiheit. Die habe ich nicht so. Ich hatte über viele Jahre ein großes Harmoniebedürfnis: Hauptsache, die Stimmung im Raum stimmt, und ich sorge dafür, dass mein Gegenüber sich gut und sicher fühlt. Nun hatte ich im Film viele Szenen, in denen ich zum Beispiel Vorgesetzten gegenübersaß, und in denen ich üben konnte, dieses Harmoniebedürfnis auszublenden. Ich wusste: Du hast dieses Bedürfnis nicht, du hast keine Angst. Also muss ich sie auch wegstecken. Und da habe ich plötzlich gemerkt, wie frei das innerlich macht! Das war ein Bewusstseinsschritt, den ich da gemacht habe. Das führt dazu, dass ich jetzt berufliche Gespräche viel freier führe. Nach dem Prinzip: Ich stehe zu meiner Wahrheit, ich stehe zu dem, was ich hier zu sagen habe, was ich vertreten kann und was nicht – ohne Angst vor Konsequenzen. Es ist ja immer so, dass zwar manche Leute bei dir bleiben, andere fallen aber weg oder verraten dich. Aber du hast mit deiner Überzeugung weitergemacht. Und das Schlimmste, was hätte passieren können, wäre gewesen, dass du einen Weg alleine gehst.

Alice Das ist ja auch passiert.

Nina Genau. Und solche Figuren gibt es wenige. Menschen, die trotzdem bei ihrer Überzeugung bleiben, und zwar nicht aus Verhärtung, sondern aus einer wirklich ehrlichen Überzeugung von innerer Wahrheit, mit der Gefahr, dass Menschen links und rechts wegfallen. Aber was soll’s? Ist eben so. Das Leben ist immer in Bewegung. Und dieser Zug an dir hat mich total inspiriert.

Hast du dich eigentlich schon vor dem Film als Feministin bezeichnet?
Ich bin mit einer sehr starken Mutter aufgewachsen, die beruflich und karrieretechnisch immer vorne mit dabei war. Ich hatte nie das Gefühl, für mich wären irgendwelche Türen verschlossen. Deshalb habe ich über Jahre viele feministische Strömungen überhaupt nicht verstanden. Ich habe mich immer gefragt: Was genau ist denn jetzt das Thema? Gleichzeitig dachte ich: Es wäre schon gut, mich jetzt mal als Feministin zu bezeichnen, aber eigentlich wusste ich nicht genau, was das überhaupt ist. Und durch die Bücher, die ich zur Vorbereitung gelesen habe, habe ich plötzlich sehr viel verstanden. Mir war nicht bewusst, dass es nur wenige Jahrzehnte her ist, dass die Situation für Frauen so schlimm war. Sei es beim Thema Abtreibung oder generell. Und was Alice verändert hat, sind so menschennahe, handfeste, bodenständige Dinge. Diesen Ursprung einmal zu begreifen, hat mir total geholfen.

Alice, was war dir wichtig, Nina von dir und deiner Geschichte zu vermitteln?
Das Vermitteln hat ja schon beim Drehbuchautor angefangen. Da hatte es einen Wechsel gegeben. Zuerst war das eine Frau, die auch sehr engagiert war, aber stärker mit den Themen beschäftigt. Dann ist ein Mann dazugekommen, und dessen Idee war es, nicht 1971 anzufangen, als ich schon die politische Figur bin, sondern 1964, als ich mich in Bruno verliebe und den lebensverändernden Schritt gemacht habe, nach Frankreich zu gehen. Die Hauptquelle für den Autor war meine Autobiografie, aber er hat natürlich selber auch zusätzlich recherchiert. Und ich habe dem Drehbuchautor zur Verfügung gestanden, um seine Fragen zu beantworten und ihm Informationen zu geben. Dieser Prozess hat sich dann mit Nina fortgesetzt, aber nicht systematisch. Es war ja auch gar nicht ihre Aufgabe, mit mir zu sprechen. Aber während der Dreharbeiten hat sie immer wieder den Kontakt zu mir gesucht. Es war ihr persönliches Interesse, weil sie eine Schauspielerin ist, die nicht nur jemanden darstellt, sondern sich die Figur selbst mit erarbeitet. Es ist sogar vorgekommen, dass du mich mitten beim Dreh angerufen hast, Nina, um zu fragen: „Hättest du das so gesagt?“ Oder: „Warum hast du so entschieden?“

Nina Oder ich habe eine E-Mail geschrieben mit dem Betreff DRINGEND. Und zack, zwei Minuten später kam die Antwort.

Alice In der Mail stand dann: „Wir sind uns hier nicht einig. Wie hast du das und das gemeint?“ Und dann war es meist so, dass ich schrieb: „Das habe ich so gemeint.“ Und du schriebst zurück: „Siehste wohl! Hab ich doch gesagt!“ Und dann lief Nina triumphierend zurück zum Set und sagte: „Alice sagt auch, sie hat es so und so gemeint!“
Nina Woher weißt du das? Genauso war’s! (beide lachen)

Alice Ich habe allen Darstellerinnen und Darstellern gesagt: Wenn Sie Fragen haben, melden Sie sich bei mir! Aber ich habe natürlich nie gesagt: „Sie müssen die Person so und so spielen!“ Ich habe mich niemals eingemischt in den kreativen Prozess, aber versucht, einen maximalen Input zu geben. Einige Schauspieler haben das auch genutzt. Auch Thomas, der Bruno spielt, was mich natürlich besonders gerührt hat.
Nina Alice und ich haben uns einmal die Woche zum Essen getroffen. Ich hatte also die Gelegenheit, weiter am lebendigen Objekt zu lernen. Und ich wäre ja blöd gewesen, das nicht zu nutzen.

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Wie war das denn, so streng beobachtet zu werden?
Alice Ich habe natürlich ziemlich schnell an Ninas Blick gemerkt, dass sie mich ganz genau studiert. Und dann habe ich mir eins gegrinst und gedacht: Die ist echt ein Vollprofi! Das hat mir gefallen. Ich dachte: Dann mach mal! Dann guck mal hin! Dann versteh mal!
Nina Mir ist immer wieder was Neues aufgefallen, von dem ich dachte: Oh, das muss ich morgen einbauen!

Gab es etwas, was dir an dem Film besonders gut gefallen hat, Alice?
Alice Nina war ja klar. Aber meine große Sorge war Bruno. Wie wird so ein Paar gezeigt? Da ist die Frau, die stark und nicht so leicht zu zähmen ist. Diese ungestüme, selbstbewusste Frau, die sagt: Ich habe eine Stelle als Volontärin in Deutschland! Die selbstverständlich davon ausgeht, dass ein Mann, der sie liebt, versteht, dass man eine Leidenschaft für die Liebe und für den Beruf haben kann. Und da ist dieser gutaussehende, charmante, kultivierte Franzose, der so große Schritte bei Frauen nicht gewohnt ist. Da fragt man sich natürlich: Hat die den unterdrückt? War das ein Waschlappen? Nein, Bruno war sehr stolz und cool. Und es ist dem Film tatsächlich gelungen zu zeigen: Es kann starke Frauen geben mit Männern, die vielleicht diese oder jene Schwäche haben – aber trotzdem gleichberechtigt sind und sich gegenseitig ernstnehmen. Und da ist auch deinem Spiel, Nina, unendlich viel zu verdanken. Dadurch, dass du sehr früh versucht hast, mich wirklich zu verstehen: Was ist denn das für ein Mensch? Was bewegt die? Wie fühlt die? Wie denkt die? Und wie war die
Beziehung der Feministin mit ihrem Lebensgefährten? Es war ja eine sehr moderne Beziehung.

Nina Es war für mich schwer, diese gleichberechtigte Beziehung zu fassen zu kriegen. Sobald ich angefangen habe, mit Bruno zu flirten, bin ich süß und niedlich geworden. Es war schwierig, deine würdevolle Art des Flirtens zu spielen, die du mit Männern hast. Diesen Ton der Stärke und Frechheit zu finden, und gleichzeitig die Erotik, die damit einhergeht. Das ist übrigens die Art von Beziehung, die wir im Fernsehen gerade zu erreichen versuchen. Es ist immer mehr en vogue, dass die Frau der Mittelpunkt des Films ist und als
stark gezeigt wird, was ja toll ist. Bisher bringt das aber mit sich, dass die Männer völlige Vollidioten werden. Die müssen totale Deppen sein, damit wir stark sein können. Was ja eigentlich total antifeministisch ist.

Alice Nina hat das am Ende großartig hingekriegt!
Nina Es gab ja einige in der Branche, die von Anfang an gesagt haben: Natürlich wird Nina Gummich die Alice spielen! Die interessante Frage ist, warum.

 Nina Gummich als Alice Schwarzer: Bei einer Lesung vom "Kleinen Unterschied". - Foto: Alexander Fischerkoesen/RBB
Nina Gummich als Alice Schwarzer: Bei einer Lesung vom "Kleinen Unterschied". - Foto: Alexander Fischerkoesen/RBB

Stimmt. Warum?
Alice Ich würde sagen, das ist deine Leidenschaft, deine Präsenz. Du bist ungestüm und du bist nicht auf den Kopf gefallen.
Nina Ich würde sagen, es ist die Mischung aus großer Klappe und Charme. Das gibt es nicht so oft. Die meisten, die eine große Klappe haben, sind unangenehm. Und die meisten, die charmant sind, reißen nicht den Mund auf. Das findet meine Mutter übrigens sehr faszinierend an dir: Wie charmant du in Talkshows jemandem sagen kannst, dass er ein Arschloch ist.

Alice Ich habe Spaß daran, charmant zu sein. Ohne Not bin ich nicht gern aggressiv mit Menschen. Es freut mich, wenn ich einfach nur nett und verführerisch sein kann. Aber wenn es sein muss, dann schlage ich natürlich zu. Wenn mir jemand dumm kommt, freue ich mich schon währenddessen auf das Zurückschlagen. Also bei fiesen Gegnern. Harmlose Gegner winke ich durch. Also: Du warst also in deiner Branche offenbar schon bekannt als wesensmäßig dicht an Alice.
Nina Irgendwie schon (beide lachen).

Gab es etwas, was euch aneinander überrascht hat?
Nina Mich hat überrascht, dass Alice einen sekundenschnellen Wechsel vom Showmaster zur tiefen Melancholie an den Tag legen kann. Ihre Bandbreite von Lebensfreude bis zu einem tiefen Schmerz, ihre Fähigkeit zur Mitleidenschaft bei gleichzeitiger Stärke und diese schnellen Wechsel – da habe ich am Anfang hingeguckt und gedacht: Wo isse denn jetzt? Gerade hat sie noch total aufbrausend was erzählt und dann fällt sie so ein bisschen in sich zusammen. Das hatte ich so nicht auf dem Schirm. Und ich glaube, dass das viele nicht auf dem Schirm haben. Die sehen diese starke, laute, witzige Frau, aber diese andere Seite ist auch sehr präsent bei ihr. Und das war mir wichtig zu zeigen.

Alice Mir ist ja wahnsinnig oft die Frage gestellt worden: Worauf sind Sie stolz, Frau Schwarzer? Lange Zeit wusste ich nicht, was ich darauf antworten sollte. Dann ist mir langsam klar geworden: Ich bin stolz darauf, dass ich so viele Menschen – vor allem Frauen, aber auch Männer – ermutigt habe. Und dieses Mutmachen ist, glaube ich, nur möglich, weil ich nicht die erschlagende Powerfrau bin, die der kleinen Maus, die sich mal aus dem Loch traut, sagt, wo es lang geht. Die Menschen spüren, dass ich auch selber diesen Schmerz und diese Trauer kenne – und eben gleichzeitig auch die Lebensfreude und die Stärke. Deshalb erreiche ich sie. Menschen, die verzweifelt, ängstlich oder melancholisch sind, die spüren: Sie kennt diese Gefühle auch. Die merken: Die verachtet mich nicht, wir sind aus demselben Stoff.

Nina Ich dachte, ich muss es irgendwie schaffen, dass die Menschen einen privaten Einblick haben, weil das, glaube ich, sehr viele interessiert. Deshalb ist es wichtig, dass die Menschen sehen: Auch bei Alice stirbt die Katze, und sie trennt sich von ihrem Lebensgefährten. Gleichzeitig durfte das nicht so weit gehen, dass du dich verraten fühlst. Ich hatte bei solchen Szenen im Gefühl: Wenn ich jetzt einen Schritt weiter gehe, wird es für dich unangenehm. Das konnte ich spüren.

Alice-Darstellerin Nina Gummich & die echte Alice im Gespräch mit Chantal Louis. - Foto: Bettina Flitner
Alice-Darstellerin Nina Gummich & die echte Alice im Gespräch mit Chantal Louis. - Foto: Bettina Flitner

Alice Stimmt. Ich habe immer eine große Scheu gehabt, mit meinem Privatleben nach außen zu gehen. Nicht, weil ich was zu verbergen hätte, sondern weil ich in Bezug auf mein Privatleben vom Wesen her zurückhaltend bin. Außerdem dachte ich: Kinder, jetzt hab ich schon 85 Prozent meiner Lebenskraft in die öffentliche Sache gesteckt – jetzt ist es auch irgendwann mal gut.

Nina Am Anfang war es für mich nicht so leicht, aus dir so wahnsinnig viel Emotionales rauszukriegen und in deine tiefsten Empfindungen zurückzugehen, wonach natürlich eine Schauspielerin sucht. Aber ich hab irgendwann meine Methode gefunden. Ich habe dich, nach dem was ich gelesen und gesehen hatte, immer gefragt: Kann es sein, dass es sich so und so angefühlt hat? Und dann hast du bestätigt oder verneint. Und noch ein Punkt, der mich total überrascht hat: Das, worüber du schreibst, das hast du tatsächlich erlebt. Du bist eben in die Fabrik und hast da wochenlang mitgeschuftet, du warst im Bordell bei den Prostituierten, du hast bei einer Abtreibung neben der Frau gesessen und ihre Hand gehalten. Wo gibt’s denn das? Wie viele Leute maßen sich an eine Meinung zu haben oder anzusagen, wie jetzt was zu laufen hat – aber haben nichts davon erlebt? Und dieses Menschennahe macht viel von deiner Stärke aus.

Nina, wie ging es mit dir und deiner inneren Alice nach Drehschluss weiter?
Nina Ich habe ja danach gleich noch einen Film gemacht als Gerichtsmedizinerin Theresa Wolff aus meiner Krimireihe. Und ich bin Alice einfach nicht losgeworden. Es war, als hätte ich mit einer Freundin ein halbes Jahr lang ganz engen Kontakt gehabt. Dann fängt man ja auch an, wie die zu gucken und zu reden. Die Maskenbildnerin, die dieselbe war wie beim Alice- Film, sagte immer wieder: „Nina, du guckst schon wieder wie Alice!“ Und ich sagte: Scheiße, ich krieg’s nicht weg! Ihr dürft also auf die nächste Theresa Wolff Folge sehr gespannt sein (lacht).

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Hat dich auch was an Nina überrascht, Alice?
Ich habe bei diesem Film auch etwas über mich gelernt. Nina hat mich ganz dicht an mir selber gespielt, so dass ich gesehen habe: Das bin ich, so habe ich mich benommen! Ich denke an zwei Situationen. Die erste: Ach – so muss ich auf Bruno gewirkt haben! Natürlich bin ich dem immer so entgegengerannt! Und dann sah ich mich so mit Bruno zusammen und dachte: Das ist schon auch starker Tobak, den ich dem geliefert habe! Der musste ganz schön was verkraften. (beide lachen) Und dann die Augstein Szene: In dieser Zeit war ich eine langbeinige Blondine, die die klassischen Attraktivitäts-Kriterien erfüllte. Und gleichzeitig war ich selbstbewusst und widerspenstig, was natürlich für manche Männer auch sehr interessant ist. Mit dieser Ambivalenz habe ich nicht gespielt, das war einfach ich. Und in dieser Szene dachte ich: Ach so! Ich bin ja häufig gefragt worden: „Hat Augstein Ihnen auch im Morgenmantel die Tür geöffnet?“ Na, das wäre ja undenkbar gewesen! Und das hab ich in dieser Szene gesehen: Die Ausstrahlung der Unberührbarkeit, aber gleichzeitig flirtend, aber nicht niedlich flirtend, sondern so: Na klar bin ich nicht uninteressant, aber vergiss es einfach! Theoretisch wusste ich um diese Mischung, aber plötzlich hab ich sie gesehen. So gut hat Nina mich interpretiert.

Nina Das hab ich mir natürlich gewünscht. Ich dachte, es wäre das Schönste, was passieren könnte, wenn Alice sich erkannt fühlt und vielleicht sogar Seiten an sich sieht, die sie gar nicht so auf dem Schirm hat.
Alice Genau so ist es!

Das Interview führte Chantal Louis.

 

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