Dilma Rousseff: Eine Frau im Auge des Orkans

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Freitagabend, 20. Mai 2016. Eine Frau in der roten Bluse kämpft sich, Schritt für Schritt, durch eine jubelnde Menge. Weiße, Afrobrasilianer, Jugendliche, Alte, Paare mit ihren Kindern auf den Schultern: Alle strecken ihr die Arme und Hände entgegen, werfen ihr Blumensträuße zu. Im Hintergrund dröhnen Sprechchöre: "Volta, querida!" (Kehr zurück, Liebste!). Eine Replik auf den ironischen Satz: „Tschüss, Liebste!”, den ihr 350 Abgeordnete nachriefen, die am 17. April für ihre Amtsenthebung stimmten.

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Die Frau in Rot ist Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff. Sie wirkt etwas abgekämpft, doch sie strahlt. Die Szene erinnert an Eva “Evita” Peróns Auftritte im Argentinien der 1950er Jahre. Als “Beschützerin der Descamisados” (der “Hemdlosen") setzte Evita 1947 die Wahlberechtigung für Frauen und die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Ehe und vor dem Gesetz durch. 60 Jahre später folgte Dilma Rousseffs Vorstoß für die rechtliche Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe.

“Força, Dilma!" Sei tapfer, Dilma, ruft ihr die Menge entgegen. Sie nennen sie "coração valente", mutiges Herz. Die Medien sprechen von 40.000 Menschen in Belo Horizonte, eine Fünf-Millionen-Einwohner-Metropole im mittleren Osten Brasiliens. Es ist Rousseffs erster öffentlicher Auftritt nach ihrer Amtsenthebung vom 11. Mai 2016.

Sei tapfer!, ruft die Menge. Sie nennen Rousseff coração valente, mutiges Herz

Rousseff wurde vor 69 Jahren in Belo Horizonte geboren. Doch dürfte die Ortswahl auch eine Demonstration von Stärke gegenüber zwei Herausforderern der Staatschefin sein: Dem in den Präsidentschaftswahlen vom Oktober 2014 unterlegenen Senator, Aécio Neves, und seinem gescheiterten Nachfolge-Kandidaten im Gouverneursamt. Seit 2002 hat Neves´ sich sozialdemokratisch nennende, konservative Partei (PSDB) vier Präsidentschaftswahlen gegen Rousseffs Arbeiterpartei (PT) verloren. PSDB-Senator Aluysio Nunes schwor am Tag nach Rousseffs Wiederwahl, im Oktober 2014: “Ich will Dilma bluten sehen!”.

Ihre Feinde haben es geschafft: Anderthalb Jahre lang wurde Rousseff von den brasilianischen Mainstream-Medien attackiert. Doch diese Frau ist unerschrocken. Zehn Tage nach ihrer vorläufigen Amtssuspendierung hat sie ihre offizielle Residenz in Brasilia verlassen und bricht auf zur landesweiten Anklage gegen den schleichenden Staatsstreich.

Dilma Rousseffs Biografie sorgte 2010 bei ihrem Amtsantritt für weltweite Schlagzeilen: "Ehemalige Guerrillera wird Präsidentin". Als Tochter eines eingebürgerten Bulgaren, in Brasilien für den deutschen Mannesmann-Konzern tätig, und einer Brasilianerin, wuchs Dilma Rousseff in Belo Horizonte auf. 17 Jahre alt, opponierte sie schon als Oberschülerin gegen den Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten João Goulart.

Mit 22 Jahren trat Dilma einem Untergrund-
Kommando bei

Kaum jemand hatte damals damit gerechnet, dass sich die Militärdiktatur für die Dauer von 21 Jahren an die Macht putschen würde. Nach etwa fünf Jahren brach der bewaffnete Widerstand aus, unkoordinierte Guerrilla-Gruppen schossen wie Pilze aus dem Boden.

Der Untergrund als Initiationsritus: Hunderte junger Brasilianer tauchten unter. Sie verschwanden im Dickicht der Städte, oder tauchten als argwöhnisch beobachtete Neuankömmlinge in fern abgelegenen Landkommunen auf. Darunter auch Dilma Rousseff unter den Namen "Estela", "Wanda" oder "Patrícia".

Ende 1969 trat die 22-Jährige dem "Kommando für die Nationale Befreiung" (Colina) bei und heiratete im Untergrund ihren Kampfgefährten Carlos Araújo, Vater ihrer Tochter Paula Rousseff Araújo. Das Ehepaar zog ins südbrasilianische Porto Alegre. Dort verbündete das Kommando sich mit abtrünnigen Militärs, aktiv vor allem in der Gewerkschafts- und Schulungsarbeit.

Anfang 1970 wurde Rousseff verhaftet. Sie wurde in das Hauptquartier von "Unternehmen Bandeirante" – eine Todesschwadron zur Bekämpfung des politischen Widerstands – gebracht. Nach Aussagen ihrer Zellengefährtin Maria Luisa Belloque wurde sie dort 22 Tage lang bestialisch gefoltert: Auspeitschung der Handflächen, Faustschläge, Papagaienschaukel, Elektroschocks etc.

Nach Folter und zwei Jahren Haft kam sie auf freien Fuß

Um zehn Kilo leichter und mit einem Schilddrüsenleiden wurde Dilma Rousseff Ende 1972 auf freien Fuß gesetzt. In ihrer neuen, doch scharf überwachten Freiheit, absolvierte sie ein Studium der Wirtschaftswissenschaften und arbeitete mit dem bald danach ebenfalls aus der Haft entlassenen Araújo in der öffentlichen Verwaltung des Bundeslandes Rio Grande do Sul.

18 Jahre lang führten Rousseff und Araújo ein eher normales Leben: von 1976, dem Zeitpunkt der Geburt ihrer Tochter, bis 1994. Nach dem Zusammenbruch der Militärdiktatur wurde das Ehepaar in der neuen Demokratischen Partei der Arbeit (PDT) aktiv.

Anfang 2003 wurde Rousseff vom Präsidenten Lula von der Arbeiterpartei (PT) zur Bundesministerin für Energiepolitik ernannt, wozu auch der Posten der Verwaltungsrats-Vorsitzenden des staatlichen Ölkonzerns Petrobras gehörte. Als anschließende Kabinettschefin Lulas liefen bei ihr fünf Jahre lang die politischen Fäden von 30 Ministerien zusammen. Ihr sachlicher, eher spröder Führungsstil brachte ihr den Spitznamen "Gerentona" ein – die Chefin.

Petrobras wurde ihr dann zum Verhängnis. Frühere Direktoren des Ölkonzerns und mächtiger Großbaukonzerne sitzen wegen den seit 2014 laufenden Ermittlungen über einen der größten Schmiergeld-Skandale der vergangenen Jahrzehnte hinter Gittern. Das oppositionelle Nachrichtenmagazin Veja unterstellte Rousseff, sie habe "alles gewusst". Beweise dafür gab es nie. Ebenso wenig wie für die ihr unterstellte Wahlfälschung und Wahlfinanzierung mit illegalen Parteispenden.

"Tschüss, Liebste!" rief ihr ein Parlaments-Männerchor hinterher

Schließlich lastete ihr der Rechnungshof ein Verfahren wegen „Verschönerung der Haushaltsbilanz“ an - ein in der Tat nicht ganz korrekter Trick der buchhalterischen Verschiebung von Zahlen, den jedoch Landesgouverneure und hunderte von Kommunalverwaltungen permanent praktizieren. Dennoch wurde die Präsidentin am 17. April im Unterhaus mit 367 Stimmen und im Oberhaus mit 55 Voten aus ihrem Amt gejagt – "Tschüss, Liebste!", rief ihr ein Parlaments-Männerchor hinterher, in dem neben 531 Männern gerade mal 63 Frauen sitzen. In der aktuellen Übergangsregierung sind ausschließlich Männer.

Dilma Rousseff nun deswegen als Märtyrerin zu glorifizieren, wäre unangemessen. Sie beging nicht wenige Fehler, von Versäumnissen in der Wirtschaftspolitik bis zum nicht ausreichenden Schutz der indigenen Völker. Ihre größte Schwäche dürfte wohl ihre Unfähigkeit im Umgang mit einem Parlament gewesen sein, in dem 344 von 594 "Volksvertretern" - darunter 90 rechtsextreme Evangelikale - wegen der unterschiedlichsten Delikte von der Justiz angeklagt sind: von Korruption über Unterschlagung bis hin zum Mord.

Doch noch ist das letzte Wort in der Causa Rousseff nicht gesprochen. Die Präsidentin ist zunächst für maximal 180 Tage suspendiert, ihr Schicksal könnte allerdings bereits im Sommer in einer zweiten Abstimmung im Senat mit einer Zweidrittel-Mehrheit besiegelt werden.

Sieben Minister und Michel Temer sind wg. Korruption angezeigt

Doch die Veröffentlichung im Mai in der Tageszeitung Folha de São Paulo von geheimen Gesprächsaufnahmen aus dem März könnten die Stimmung zu Rouseffs Gunsten beeinflussen. Es geht um Gespräche zwischen dem ehemaligen Petrobras-Manager Sergio Machado und dem zum Planungsminister nominierten und bereits wieder zurück getretenen Senator Romero Jucá. Sie enthüllen ein umfassendes Komplott - unter Beteiligung von Justiz, Streitkräften und Medien - zur Amtsenthebung Rousseffs mit der Absicht der Beendigung der Korruptions-Ermittlungen im Fall Petrobrás.

Da gerade Rousseff die Ermittlungen niemals behindert hat, sondern im Gegenteil ermutigte, scheint sie ihren Gegnern ein Hindernis für das politische und juristische Überleben der korrupten Mafia rund um den Staatsapparat zu sein. Die Übergangsregierung des gemeinsam mit sieben seiner 27 Minister persönlich wegen Korruption angezeigten Vizepräsidenten Michel Temer, wurde rasch Zielscheibe scharfer in- und ausländischer Kritik.

Denn der mit zwei Prozent Zustimmung unpopulärste brasilianische Politiker der vergangenen 25 Jahre fährt einen scharfen Kurs: Abbau sozialer Rechte, Privatisierungs-Rundumschlag gegen staatliche Betriebe und ein Kabinett ganz ohne Frauen und VertreterInnen ethnischer Minderheiten. Es könnten also noch vor Ende des Jahres Neuwahlen ausgerufen werden. Allerdings vermutlich ohne eine Kandidatin Rousseff. Selbst Altpräsident Lula sagt einer Regierung Dilma Rousseff in dem Macholand inzwischen das Scheitern am geballten Widerstand ihrer Feinde in allen Lagern voraus.

Frederico Füllgraf

Aktualisiert am 1. September 2016.

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