Bundestagswahl 2009: Eine neue Merkel

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Angela Merkel hat es geschafft. Sie ist nicht nur als Bundeskanzlerin eindeutig wiedergewählt, sondern hat auch ihre Wunschkonstellation erreicht: ein schwarz-gelbes Bündnis. Seitdem läuft alles prächtig für die Kanzlerin: Sie ist die ganz starke Frau neben einem sehr gerupf­ten CSU-Chef Horst Seehofer und einem täglich schrumpfenden FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle.

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Wir werden später konstatieren, dass diese Wiederwahl der Startschuss für eine andere Angela Merkel war. Nicht im Auftreten. Wie bisher wird sie pragmatisch, sachorientiert, nüchtern und kopfgesteuert agieren. Doch sie wird ihre Themen mit weitaus mehr Härte als in der ersten Legislaturperiode ­durch­setzen. Denn jetzt geht es auch darum, was in den Geschichtsbüchern unter der Überschrift "Angela Merkel – erste Frau und erste ­Ostdeutsche im Kanzleramt" stehen wird.

Nachdem ich sie viele Jahre beobachtet habe – und oft aus großer Nähe – wage ich folgende Prognose: Wir werden in den kommenden Jahren mehr Frauen auf wichtigen Positionen sehen, einen starken Fokus auf der "Bildungsrepublik Deutschland" haben und verstärkte Anstrengungen in der Integrationspolitik erleben.

Das alles ist längst überfällig und wurde in den vergangenen vier Jahren teilweise auch schon angeschoben. Weil es sich aber immer noch in den Augen so vieler männlicher Großkommentatoren um "weiche" Themen handelt, wurde dieser Kurswechsel in der öffentlichen Rezeption bislang kaum wahrgenommen.

Schon in den ersten Verhandlungstagen der schwarz-gelben Koalition wies Merkel ihre beiden Koalitionäre subtil in die Schranken. Die alte Frage zwischen Joschka Fischer und Gerhard Schröder, wer "Koch" und wer "Kellner" sei, ist bei dem Duo Merkel/Westerwelle eindeutig beantwortet. Und der geschwächte Horst Seehofer? Merkel steht am Tag nach der Wahl im Saal und hält Seehofer die Hand hin. "Aber sie streckt sie kaum aus. Er muss zu ihr kommen, muss sich die gewährte ­Begrüßung abholen", beschreibt die FAZ die Szene. Später macht die Kanzlerin noch einen öffentlichen Scherz auf seine Kosten. Das kommt bei Merkel nur äußerst selten vor und zeigt, wie stark sie sich in diesem Moment fühlt.

Noch nie seit 1990 sei der Imagewert (1,9) eines Kandidaten bei einer Bundestagswahl so hoch gewesen wie der von Angela Merkel, schreibt die Forschungsgruppe Wahlen in ihrer Analyse der Bundestagswahl. 78 Prozent der Deutschen haben ihr eine "eher gute" ­Arbeit bescheinigt, darunter auch viele SPD- und Grünen-AnhängerInnen.

Die nie geäußerten und doch immer ­latent vorhandenden Vorbehalte von 2005, ob "eine Frau das kann", waren 2009 wie weggeblasen und hatten sich teilweise ins Gegenteil verkehrt. Gerade bei Frauen: Erstmals hat die Union bei weiblichen Wählern aller Altersgruppen eine relative Mehrheit. In Ostdeutschland konnte die CDU ihre Zweitstimmenergebnisse teilweise um über fünf Prozentpunkte steigern. Und in Merkels eigenem Wahlkreis liegt ihr persönliches Erststimmenergebnis mit 49,3 Prozent beträchtlich über dem Zweistimmenergebnis für ihre Partei.

Das alles lässt den Schluss zu, dass die Union weit besser abgeschnitten hätte, wenn sie die Themen noch mehr ins Zentrum stellen würde, die Merkel wichtig sind. Die These, dass Merkel der CDU geschadet hätte, indem sie sie "sozialdemokratisiert" hätte, muss umgedreht werden, damit sie Sinn macht. Richtiger – und vor allem zukunftsweisender – ist: Wenn die CDU mehr wäre wie Angela Merkel, hätte sie bessere Werte.

Eines der zentralen Probleme der Konservativen ist, dass die mittlere Funktionärsschicht der Partei sehr männlich, sehr strukturkonservativ, eher klein- als großstädtisch und nicht besonders multikul­turell ist. Hier ist die dicke Lähmschicht über allen Umbauversuchen der Union. Denkbar, dass Merkel Wege suchen wird, um die Partei umzuprofilieren.

Ein Weg könnte – und müsste – der Einsatz von mehr weiblichen Politikern in Spitzenfunktionen sein. In der CDU-Bundestags-Fraktion ist das nicht gelungen: Mit gut 20 Prozent ist der Frauen­anteil hier sogar noch gesunken. Bei den Ministerämtern wird es ebenfalls schwierig, weil hier der Proporz unter den jeweiligen Landesverbänden mehr zählt als der Gender-Faktor. Realistisch ist eher, dass Merkel Frauen auf der zweiten und dritten Ebene aufbauen wird, um sie für den Sprung nach oben vorzubereiten.

Was allerdings jetzt schon klar zu diagnostizieren ist, ist eine Stilwende hin zu Merkelschen Machttechniken. Dass in Thüringen mit Christine Lieberknecht wahrscheinlich bald die erste CDU-Frau Ministerpräsidentin werden wird, hat ­ursächlich mit dem pragmatischen, nicht-konfrontativen, sachorientierten Stil ­Lie­berknechts zu tun. Wie Merkel eben. ­Lieberknecht hat die Gesprächskanäle zu ihrem SPD-Kontrahenten Christoph Matschie immer offen gehalten. Sie hat nie unerfüllbare Forderungen gestellt und sich selbst klug im Hintergrund gehalten, um dann zur rechten Zeit zuzuschlagen.

Aufschlussreich ist auch, welche CDU-­Politiker sich jetzt Schwarz-Grün öffnen bzw. bereits geöffnet haben: der moderate, im Ton immer verbindliche Ole von Beust aus Hamburg und der als linker geltende Peter Müller aus dem Saarland. Diese Experimente mit Schwarz-Grün bzw. Schwarz-Gelb-Grün sind außer­ordentlich wichtig für Merkel, weil sie ­zusätzliche Machtoptionen jenseits von Schwarz-Gelb eröffnen.

Auch der nordrhein-westfälische, für Merkels Machtgefüge essentielle Ministerpräsident Jürgen Rüttgers arbeitet schon fast offen an Jamaika, sollte es für Schwarz-Gelb bei der Landtagswahl am 9.Mai 2010 nicht reichen.

Soweit die Machttaktik. Was aber ist sachpolitisch von der Kanzlerin zu erwarten, bzw. kann und muss in der jetzigen Konstellation eingefordert werden? In der Familienpolitik wird es leichte Änderungen beim Elterngeld geben, die die Flexibilität beider Elternteile zum Beispiel durch Teilzeit-Elterngeld stärken werden. Die generelle Richtung, Frauen weit schneller wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren, wird beibehalten werden.

Ob die Union sich endlich traut, das längst überfällige Ehegattensplitting abzuschaffen, ist unsicher. Merkel scheint dieser Punkt nicht wichtig zu sein. Auch bei der FDP gibt es wenig Bereitschaft für ein Ende dieser Subvention für Alleinverdiener, die sich den Haushalt von ihrer Gattin machen lassen. Dabei ließen sich hier die Milliarden leicht holen, die im Haushalt der nächsten Jahre fehlen werden.

Ein klarer Schwerpunkt wird die Integrations- und Bildungspolitik werden. Wurden die Schlachten der letzten vier Jahre um Turboabitur und Exzellenz-Unis geschlagen, muss der Fokus in der nächsten Legislaturperiode auf den ersten Schuljahren liegen. Denn hier – und noch stärker im Kindergarten und in der Kita – entscheiden sich die Bildungschancen. Was Merkel schon längst bewusst ist – dass in vielen Großstädten schon heute Kinder mit Migrationshintergrund die Mehrzahl in den Grundschulklassen stellen – wird zu einem Allgemeinplatz der deutschen Politik werden.

Das ist längst, längst überfällig und es ist auch gut so. Denn noch immer gibt es zu viele Bürgermeister, die das verdrängen und doch lieber das knappe Geld für eine neue Umgehungsstraße ausgeben, statt die Kindergärten in Ordnung zu bringen und die MitarbeiterInnen dort ordentlich zu bezahlen.

Ermutigend sind auch die ersten Signale der neuen Koalition, nicht zweierlei Maß gelten zu lassen. Alle Schülerinnen müssen am Sportunterricht und an Klassenfahrten teilnehmen, egal, welcher Religionsgemeinschaft sie angehören. Und natürlich müssen Zwangsheiraten unter Strafe gestellt werden, wie jetzt wieder angekündigt. Gleichzeitig muss es wirklich ernsthafte Bemühungen um gleich Chancen für alle geben. Das ist zugegebenermaßen ein Generationsprojekt. Aber es ist überlebenswichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Ein Gutes Signal wäre ganz sicher die Berufung einer Politikerin mit Migrationshintergrund in ein wichtiges Amt, vielleicht sogar an die Spitze eines Ministeriums.

Angela Merkel weiß, wie entscheidend die nächsten vier Jahre für ihr dauerhaftes Bild im deutschen Gedächtnis sein werden – und wie klischeehaft das der "Moderatorin", der "Zauderin", der "Unentschiedenen" ist. Es wäre deshalb ganz und gar nicht ­über­raschend, wenn Angela Merkel uns alle überraschen würde. 

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