Christine Preißmann: Hört zu

Foto: Peter Jülich/peter-juelich.com
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Mitten in der Corona-Pandemie hat sich Christine Preißmann selbstständig gemacht: mit einer Praxis für Psychotherapie. Bekannt wurde sie als Autorin populärer Ratgeber zum Thema Autismus, einen davon hat sie speziell für betroffene Frauen geschrieben. Wer Preißmann nicht näher kennt, wird es kaum glauben: Sie ist selbst von Autismus betroffen.

In ihren Büchern nimmt die Ärztin kein Blatt vor den Mund. „Ich war ein ruhiges, stilles Kind, das sich Mühe gab, nicht weiter aufzufallen“, schreibt sie. Während sie im Unterricht gut mitkam, insbesondere in Mathematik und in Lernfächern, empfand sie die Pausen auf dem Schulhof mit ihren KlassenkameradInnen als Qual. Sie schienen ihr „unkontrolliert, chaotisch und ohne jede Regel abzulaufen“. Oft flüchtete sie auf die Toilette, bis es klingelte.

Diese Art von Problemen im sozialen Miteinander sind typisch für autistische Kinder. Der Amerikaner Leo Kanner und der Österreicher Hans Asperger haben sie schon in den 1940er Jahren beschrieben. „Kleine Professoren“ nannte Asperger seine kindlichen Patienten, die oft durch hohe Intelligenz und ausgeprägte Spezialinteressen auffielen. Im Kontakt mit anderen Kindern aber wirkten sie hilflos, blieben Außenseiter.

Während Asperger im Wien der 1940er Jahre „fast ausschließlich Knaben“ als autistisch diagnostizierte, wird heute immer klarer, dass von dem sogenannten „Asperger-Syndrom“ auch Mädchen und Frauen in hoher Zahl betroffen sind. Wahrscheinlich liegt das wahre Verhältnis nur bei 1 zu 2 zugunsten der Jungen – und nicht bei 1 zu 6, wie man lange glaubte. Autistische Mädchen fallen jedoch weniger auf, denn schüchtern zu sein, ist auch für normale Mädchen nicht untypisch. Sie passen sich stärker an – und es vergeht viel Zeit, zu viel Zeit, bis ihr „Anderssein“ und ihr stiller Kummer auffallen.

Christine Preißmann ging erst mit 25 Jahren, mitten im Medizinstudium, wegen einer Depression zum Arzt: „Mit mir stimmt etwas nicht“, erklärte sie. „Alle anderen haben Freunde oder Liebesbeziehungen, nur ich nicht.“ Der Arzt verordnete eine Psychotherapie. Die half. Doch eine Diagnose bekam sie erst zwei Jahre später: „Sie könnten das Asperger-Syndrom haben.“

Christine Preißmann konnte schon mit Puppen nichts anfangen. „Es blieb mir ein Rätsel, weshalb ich durch eine Trinkflasche dafür sorgen sollte, dass ein lebloses Kunststoffmodell nass wurde, um dann von mir trocken gelegt zu werden“, schreibt sie in ihrem Buch „Überraschend anders – Mädchen und Frauen mit Asperger“. Und obwohl sie Kinder mag, hat sie bewusst auf Nachwuchs verzichtet. Die Gefahr einer Überforderung schien ihr für beide Seiten zu hoch. Sie selbst blieb bis zum Alter von 43 Jahren im Elternhaus.

Beruflich aber entwickelte die heute 51-Jährige ihre sozialen Fähigkeiten konsequent weiter: Sie machte eine Ausbildung zur Psychotherapeutin und bot in der psychiatrischen Klinik, in der sie lange als angestellte Ärztin tätig war, Beratung und Therapie für autistische Frauen und Männer an. Das Ziel: Gut leben mit Autismus. Denn das ist möglich.

Preißmann selbst gelingt das beispielsweise, indem sie Erholungspausen einplant, in denen sie allein ihren Hobbies nachgeht: dem Besuch von Weihnachtsmärkten und großen Flughäfen. Auch eine Schiffsreise in die Antarktis hat sie schon gemacht – und obwohl sie sich anfangs unsicher fühlte in der Reisegruppe unter Fremden – „Was könnte ich mit den Leuten sprechen?“ – hat sie es letztlich genossen.

In ihrer Praxis erlebt Christine Preißmann täglich, wie gefragt ihre Kompetenz ist: Vor allem Frauen kommen zu ihr, aller Altersgruppen. Corona hat die Nachfrage noch erhöht, Mütter autistischer Kinder leiden besonders unter der Isolation.

Und, was der Asperger-Expertin auffiel: „Sieben oder acht Menschen unter meinen Patienten sind transsexuell. Es sind vor allem Frauen, die als Männer leben wollen.“ Heute fragt sie sich, ob das ein Ausweg oder ein Irrweg für die betroffenen Autistinnen ist. Preißmann scheint statt dieses Entweder-oder, statt Mann oder Frau, mehr individuelle Vielfalt richtig – auch bei den Geschlechterrollen.

JUDITH RAUCH

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