XX-Faktor: Frauenherzen schlagen anders

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Nicht nur bei den Frauenkrankheiten kommt das Geschlecht zum Tragen. Auch allgemeine Symptome können unterschiedlich sein. Die Behandlung ist es sowieso.

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“Ich hatte Todesangst”, erzählt Heidrun Hübler. “Ich konnte kaum noch atmen, weil die Schmerzen in der Brust so groß waren - als ob ein eiserner Ring meine Rippen zusammenquetschen würde. Ich lag bestimmt eine Stunde auf dem Fußboden. An das Telefon, das nur drei Schritte entfernt stand, konnte ich nicht ran: Hilfe holen war unmöglich. Da hab' ich gedacht, ich muss sterben".
Am Tag darauf ging die 41-Jährige zu ihrem Arzt und fragte um Rat. Der winkte ab: “Das liegt bestimmt an Ihrer operierten Schilddrüse. Das normalisiert sich wieder.” Eine fatale Fehldiagnose. Die Frau hatte einen Herzinfarkt. Doch der Arzt nahm die 41-Jährige und ihre Symptome nicht ernst.
Noch immer gilt der Herzinfarkt als Männerkrankheit - und das, obwohl er mittlerweile die häufigste Todesursache von Frauen ist: 53 Prozent sterben daran. Die Symptome sind jedoch anders. Während Männer meist über Schmerzen im linken Oberarm klagen, schildern Frauen eher Brust-, Bauch- oder Rückenschmerzen, Übelkeit und Atemnot. Mit seiner Unkenntnis über geschlechtsspezifische Unterschiede beim Herzinfarkt ist der Arzt von Heidrun Hübler keine Ausnahme: Die meisten seiner Kollegen wissen noch nicht einmal, dass Männer und Frauen sich in medizinischer Hinsicht unterscheiden. Was so manche Frau die Gesundheit, einige sogar das Leben kostet.
Beth Abramson, Herzspezialistin an der kanadischen University of Toronto, stellte fest, dass Männer gründlicher und länger untersucht werden als Frauen. Wegen der schlampigen Diagnose werden sie falsch behandelt. Ihr Risiko steigt, an der Krankheit zu sterben.
Doch Ärzte schludern nicht nur bei der Diagnose, wenn es um Frauen und ihre Beschwerden geht. Sie geben ihnen auch billigere, schlechtere und ungeeignete Medikamente, enthalten ihnen innovative Therapien vor, kümmern sich weniger um sie, nehmen Beschwerden über medikamentöse Nebenwirkungen weniger ernst und lassen sie häufiger sterben.
Beispiel Diabetes: Eine Studie von Andrea Benecke vom Rehaforschungsverbund Bayern kommt zu dem Schluss, dass Zuckerpatientinnen grundsätzlich “signifikant schlechter eingestellt” sind als Diabetes-Patienten: Die Zuckerwerte der behandelten Frauen sind generell höher als die der behandelten Männer. Grund: Den Ärzten ist nicht klar, dass Frauen oft depressiver sind und dadurch die Medikamenteneinnahme oder die Insulinspritzerei versäumen. Ärztinnen hingegen fragen ihre Diabetes-Patientinnen nach depressiven Verstimmungen und würden die Zuckerwerte dann häufiger kontrollieren. Doch meistens werden Diabetikerinnen von Männern behandelt. Folge: Sie sterben eher. So hat eine 45-jährige Diabetes-Patientin eine um 11,4 % höhere Todes-Wahrscheinlichkeit, ein 45-jähriger Zucker-Patient lediglich um 3,5 %.
Ähnlich schlecht sieht es beim Asthma aus. Ärzte erkennen die Symptome bei Mädchen oft einfach nicht. Das beweist eine Studie von Claudia Kühni vom Kinderspital in St. Gallen, bei der 4.500 Kinder untersucht wurden. Dabei stellte sich heraus, dass Mädchen und Jungen gleich häufig unter verengten Atemwegen leiden - entgegen der Lehrbuchweisheit, Asthma sei beim männlichen Geschlecht häufiger. Deshalb werde, folgert Kühni, die Asthma-Diagnose bei Jungen doppelt so häufig gestellt wie bei Mädchen: “Die Benachteiligung der Frauen ist schon in den Lehrbüchern zementiert.” Denn die in der Universität gelernten Erwartungen prägen schließlich die Diagnose.
Auch bei der Therapie sind Mädchen benachteiligt. “Bei Mädchen müssen Asthmasymptome schwerer als bei Jungen sein, damit die gleichen therapeutischen Maßnahmen angewandt werden”, klagt Kühni. “Die Buben melden ihre Beschwerden deutlicher an, auch nehmen die Eltern sie ernster”, vermutet Felix Sennhauser, leitender Arzt am St. Gallener Kinderspital. Motto: Kurzatmige Mädchen, na und?

Sogar bei der Osteoporose, die als klassische Frauenkrankheit nach der Menopause gilt, werden Frauen unterversorgt. Im Vergleich mit Männern, die ebenfalls an Knochenschwund erkranken können, tragen Frauen ein doppelt so hohes Risiko, sich durch Osteoporose Knochenbrüche zuzuziehen. Denn es wird unterschiedlich therapiert: Nur 17 % der Frauen mit Osteoporose bekommen Medikamente dagegen verschrieben, und wenn, dann generell die schlechteren, klagt Cornelia Goesmann, Vizepräsidentin der Ärztekammer Niedersachsen.
Weniger Mühe geben sich Ärzte auch bei Dialyse-Patientinnen. Eine Studie von Ronald L. Pisoni von der University Renal Research and Education Association in Ann Arbor (Michigan) kommt zu dem Schluss, dass nierenkranke Frauen bei ihrer Blutwäsche eher mit einer schlechteren und risikoreicheren Methode zur Blutabnahme und -wiedereinleitung rechnen müssen als Männer.
Beim schon erwähnten Herzinfarkt sprechen die Zahlen eine besonders deutliche Sprache: Nach der lebensbedrohlichen Herzattacke kommen Frauen durchschnittlich 73 Minuten später in die Notaufnahme als Männer. Aber je mehr Zeit verloren geht, desto schlechter sieht die Prognose aus. Deshalb bleibt auch nach einem überstandenen Infarkt das Risiko für Frauen größer: Nach 30 Tagen sterben 33 % der Frauen, aber nur 28 % der Männer.
Auch die Behandlung von Herzinfarkten sieht bei Frauen schlechter aus. So ist es möglich, die Herzkranz-Gefäße nach einem akuten Infarkt mit einem Ballonkatheter zu dehnen, um weiteren Infarkten vorzubeugen. Dies wird bei 22 % der Männer gemacht, aber nur bei 14 % der Frauen. Nach einem Herzinfarkt bekommen Frauen zudem häufiger Medikamente, die nicht dem neuesten Stand der Forschung entsprechen, stellte die nordrhein-westfälische Enquête-Kommission “Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in NRW” fest.
Bei schweren Verkehrsunfällen haben Frauen ebenfalls die schlechteren Karten: Weibliche Unfallopfer werden seltener reanimiert. Das belegt eine Studie von Peter Sefrin von der Universität Würzburg. Bei Notarzteinsätzen des Rettungsdienstes Bayern wurden zwei von drei Männern reanimiert, aber nur eine von drei Frauen. Außerdem werden Männer von Ärzten länger reanimiert, Ärztinnen hingegen setzen ihre Bemühungen um das Leben bei beiden Geschlechtern gleich lange fort.
Und sogar nach dem Tod schenken Doktoren den Frauen weniger Beachtung. Burghard Madea vom rechtsmedizinischen Institut der Universität Bonn stellte fest, dass gerade bei älteren Frauen die Todesursache nur unzureichend in die Totenscheine eingetragen wird: Auch hier gibt sich der Arzt bei Frauen weniger Mühe mit der Diagnose.
Der Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK) kommt nach einer umfangreichen Datenanalyse zu dem umfassenden Schluss: „Frauen werden bei gleichen Krankheiten anders behandelt als Männer und bei geschlechtsspezifischen Krankheiten oftmals nicht adäquat oder optimal.“
Doch warum ist das so? Noch immer gilt der Mann als Maß aller Dinge. Folglich werden in Lehrbüchern, Seminaren, Vorlesungen nur die Symptome und Krankheitsverläufe von Männern  vorgestellt. Frauen kommen nicht vor. Ulrike Maschewsky-Schneider, Gesundheitswissenschaftlerin an der Technischen Universität Berlin, stellte fest, dass nur etwa 40 % aller Studien aus dem Gesundheits-Bereich die geschlechtsspezifische Aspekte überhaupt berücksichtigen.
Doch auch wenn Frauen in medizinischen Studien erwähnt werden, heißt das noch lange nichts. Denn Frauen müssen nicht nur in Untersuchungen einbezogen, die Daten müssen auch getrennt analysiert werden - sonst können geschlechtsspezifische Unterschiede gar nicht dingfest gemacht werden.
Auch Zulassungstests für Medikamente werden oft nur mit Männern bestritten, weiß Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelversorgungsforschung an der Universität Bremen. Dies bestätigt auch eine Studie von Patrick Lee vom Duke University Medical Center: In den vergangenen zehn Jahren wurden Frauen nur bei jeder vierten Studie einbezogen.
Folge: Es bleibt zunächst unbekannt, was die Substanz in Frauenkörpern anrichtet. Denn was bei Männern gut wirkt und verträglich ist, muss noch längst nicht empfehlenswert für Frauen sein. So kann die Wirkung einer Arznei ausbleiben oder auch dem weiblichen Körper schaden. Zu den Arzneien, von denen Frauen weniger Gutes erwarten können als Männer, gehören so bekannte Substanzen wie Acetylsalicylsäure - der Wirkstoff von Aspirintabletten - oder Paracetamol, eine Substanz, die in vielen gängigen Schmerzmitteln vorkommt. So konnte eine norwegische Studie belegen, dass Aspirin Frauen weniger gut vor einem Herzinfarkt schützt als Männer. Und Paracetamol wird von Frauen, die die Pille nehmen, viel schneller abgebaut und damit viel schneller unwirksam.
Ein gebräuchliches Anti-Infektions-Mittel, das Erythromycin, kann bei Frauen eher zu tödlichen Herzrhythmusstörungen führen als bei Männern. Raymond Woosley und sein Team untersuchten 346 Fälle von gefährlichen Herzarrhythmien sowie 49 Todesfälle, die direkt auf die Einnahme des Antibiotikums zurückgeführt werden konnten. Je zwei Drittel der Betroffenen waren Frauen. Die höhere Störanfälligkeit des weiblichen Herzens aufgrund von Erythromycin konnten Woosley und seine Mitarbeiter an Kaninchenherzen direkt nachweisen.
Das Herz von Frauen ist auch durch andere Arzneien leicht in gefährliches Stottern zu bringen. Besonders bizarr ist, dass gerade Herzmedikamente für das weibliche Pumporgan bedenklich sind. Chinidin, Procainamid und Disopyramid, allesamt Substanzen gegen Rhythmusstörungen, können potentiell tödliche Herzzustände verursachen, die so genannten Torsades de pointes. Bei Frauen stellen sich diese lebensbedrohlichen Schwierigkeiten aufgrund von Herz-Arzneien weit häufiger ein als bei Männern.
Besonders kritisch wird es, wenn Mittel, die Leben retten könnten, bei Frauen weniger kraftvoll wirken - und die Ärzte dies nicht wissen. Tirilazad, ein Mittel gegen schwere Hirnblutungen, verhinderte den Tod in 90 % der Fälle, allerdings nur bei Männern. Bei Frauen schien das Medikament wirkungslos zu bleiben. Erst Nachfolgeuntersuchungen des Herstellers brachten Klarheit: Tirilazad muss bei Frauen doppelt so hoch dosiert werden, um den gleichen Effekt zu entfalten.
Die meisten Mediziner jedoch verordnen aus Unwissenheit unterschiedslos dieselben Substanzen in denselben Dosierungen. Das kann dazu führen, dass Frauen weniger von der Medikation profitieren, häufiger unter Nebenwirkungen leiden oder sogar sterben. Die Gründe der ungleichen Arznei-Wirkung und -Verträglichkeit liegen in der unterschiedlichen Physiologie Frauen wiegen meist weniger. Dementsprechend ist die Körper-Konzentration einer Chemikalie höher und die Dosierungsempfehlungen für Frauen häufig zu hoch.

Zudem ist der Fettanteil im Körpergewebe bei Frauen größer: Bei jungen Frauen beträgt er im Schnitt 33 %, bei jungen Männern nur 18 % – das bleibt proportional auch im Alter so, wenn beide Geschlechter dicklicher werden. Fettlösliche Substanzen, zum Beispiel Diazepam (Valium), wirken bei Frauen meist stärker, weil sich die Arznei in ihrem Gewebe besonders gut anreichert und dort schön gespeichert wird. Bei täglicher Einnahme kann sich schnell zu viel Substanz im Körper anhäufen. Die Folge: Überdosierung, die beim Diazepam bekanntlich schnell zur Sucht wird.
Auch der Magen von Frauen arbeitet anders als der von Männern, nämlich gemächlicher. Arzneien wirken später und langsamer. Leider keine allgemeingültige Regel: Denn das Enzymsystem von Frauen ist relativ schnell. Etliche Arzneien bauen sie fixer ab, sodass die Wirkung  kürzer anhält.
Die Sachlage wird noch komplizierter durch das Hormonsystem von Frauen, das für Schwankungen im gesamten Stoffwechsel sorgt. Denn je nach Zyklusabschnitt wirken manche Arzneien mal stärker und mal schwächer als bei Männern. Fast nicht mehr erwähnt werden braucht, dass natürlich auch die Anti-Baby-Pille den Hormonhaushalt nachhaltig verändert und somit auch die Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten.
In der Regel wissen Ärztinnen mehr über weibliche Symptomatiken und angemessenere Therapien als Ärzte. Doch das „geschlechtsspezifische und geschlechtsbezogene Verhalten von LeistungserbringerInnen im Gesundheitswesen” (BKK-Verband) lässt sich nicht nur durch die Ignoranz Einzelner erklären, es ist strukturell.
Frauen gelten noch immer als Heulsusen, die sich gerne mal anstellen, während Männer angeblich völlig rational mit ihren körperlichen Beschwerden umgehen: Die Frauen sind Hysterikerinnen, die Männer Verstandes-Menschen - dieses sexistische Muster hat auch in der Medizin Tradition und lässt sich bis Aristoteles und Hippokrates zurückverfolgen.
„Frauen klagen doch andauernd über irgendwas. Die gehen so zimperlich mit ihrem Körper um wie mit einer überreifen Dattel”, meint ein anonymer Münchner Allgemeinmediziner. Meist kämen sie mit irgendwelchen unbedeutenden Zipperlein, die sich nach ein paar Tagen von alleine wieder einrenkten. Männer hingegen hätten wirklich was, wenn sie in die Praxis stürmten. Da müsse dann auch ordentlich gesucht werden.
In der Fachliteratur heißt es wortwörtlich, Frauen seien „klagsamer”. Der Medizinpsychologe an der Universität Leipzig Elmar Brähler: „Ärzte rechnen damit, dass Frauen mehr Beschwerden äußern.” Das führe dazu, dass nicht-klagsame Frauen in der Sprechstunde für nicht krank gehalten würden. Es scheint, als ob hier das Geschlechtsrollenklischee der Jammerliese einen Teufelskreis entfacht: Frauen müssen mehr klagen, um ernst genommen zu werden - gleichzeitig sorgt das vermehrte Klagen dafür, dass sie nicht ernst genommen werden.
Tatsächlich ist es so, dass Frauen nicht häufiger krank sind als Männer, sondern gesundheitswusster: Sie denken eher über ihren Körper nach, kümmern sich mehr um ihn, und scheuen sich bei unklaren Symptomen auch nicht, einen fachlichen Rat einzuholen. Das tun Männer in der Regel nicht. Frauen sind daher öfter in der ärztlichen Sprechstunde anzutreffen als Männer. Doch behandelt werden will das männliche Geschlecht häufiger, wie Jürgen Margraf, klinischer Psychologe an der Universität Basel, feststellte: 13,4 % der Männer und 12,3 % der Frauen möchten bei Beschwerden auch therapiert werden.
Ein weiterer Grund für die schlampigere Behandlung von Frauen liegt bei den Patientinnen selbst: Häufig fragen sie nicht nach, bestehen nicht auf einer genaueren Diagnose, hinterfragen nicht die vorgeschlagene Behandlung und lassen sich vorschnell ein billiges Medikament andrehen. “Frauen glauben ja immer alles, was Ärzte ihnen sagen”, weiß Sonja Chevallier, Allgemeinmedizinerin in Hamburg, aus eigener Erfahrung.
Abhilfe könnten auch die Frauen selbst schaffen. Als Patientin sollten sie mit Nachdruck das vom Medizinbetrieb fordern, was ihnen zusteht: eine solide Aufklärung, eine sichere Diagnose, eine Therapie nach dem neusten Stand der Erkenntnisse. Wer sich mit Ärzten ungern streitet, geht besser gleich zu Ärztinnen. In deren Praxis ist zumindest die Wahrscheinlichkeit größer, dass über Geschlechter-Klischees zumindest schon mal nachgedacht wurde, ist doch die Ärztin selbst davon betroffen.
Schon bei der Vergabe von staatlichen Fördermitteln sollte in Zukunft auf Geschlechter-Gerechtigkeit geachtet werden: Schließlich zahlen auch Frauen Steuern! Doch noch sehen weder der Medizinbetrieb noch die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG), die staatliche Forschungsmittel vergibt, einen Grund, im Gesundheitsbereich frauengerecht zu handeln. Gesundheitsforscher Gerd Glaeske weiß auch, warum: “Wir haben eine männlich dominierte Wissenschaft, deshalb ist auch die Forschung Männer-zentriert.” So einfach ist das. 

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