Die Gelsenkirchener Kämpferin

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Hildegard Müller hat sich nicht einschüchtern lassen. Gegen eine frauenverachtende Medizin-Mafia hat sie sich so lange gewehrt, bis sie gesiegt hat. Aber ihre Brust kann ihr keiner zurückgeben.

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Die linke Brust von Hildegard Müller hat man irgendwann in einem Plastikeimer gefunden. Die Plastikeimer, vollgestopft mit anderen amputierten Brüsten, befanden sich, zusammen mit Müllsäcken und weiteren Eimern voller Organreste, im Labor des Essener Pathologen Prof. Josef Kemnitz.

Als die Staatsanwaltschaft im Juni 97 die chaotischen Räume des Arztes durchsucht, hat sich Kemnitz gerade das Leben

genommen. Vorher hatte er noch wie schon einmal im März 1996 sein Labor in Brand gesteckt, um Beweise zu vernichten für seine Praktiken, die Hunderte Frauen ihre gesunden Brüste gekostet haben. Teile des Labors überstanden den Brand. Darunter auch der Plastikeimer mit der Brust von Hildegard Müller.
Glücklicherweise ist die Gelsenkirchenerin, die bis 1989 als Sekretärin bei der Ruhrkohle AG gearbeitet hat, eine robuste Person. Sie bleibt gefasst, als ihr Frauenarzt der damals 51-Jährigen im August 95 mitteilt, dass auf der routinemäßigen Mammografie eine verdächtige Veränderung zu sehen sei. Sie lässt im Essener St. Josef-Hospital eine Gewebeprobe entnehmen. Diese Probe wird ins Labor von Prof. Kemnitz geschickt. Dessen Diagnose: Brustkrebs.
Die Patientin möchte den Befund von einem zweiten Pathologen überprüfen lassen. Nicht nötig, findet Chefarzt Dr. Horst Rotthaus, der eine Woche später Hildegard Müllers Brust amputieren wird. Als der Arzt Patientin Müller einen Brustaufbau vorschlägt, fragt sie: Haben Sie schon mal was von der Gesellschaft der Silikongeschädigten gehört? Sie ist der Ansicht, dass Frauen solche Operationen nur durchführen lassen, weil ihre Ehemänner das so wollen. Hildegard Müllers Mann Wolfram will, was für die Gesundheit seiner Frau am besten ist. Einen Tag vor der OP geht sie noch mal zum Friseur. Wer weiß.
Die OP verläuft ohne Komplikationen. Der Schock kommt ein Jahr später. Im Juni 1996 klingelt das Telefon, die Schwester ist dran. Ob sie es schon in der Zeitung gelesen hätte? Ein Essener Pathologe habe bei Hunderten Frauen Brustkrebs diagnostiziert obwohl die Patientinnen kerngesund waren. Sein Name: Prof. Josef Kemnitz. Als Hildegard Müller begreift, verliert selbst sie jetzt die Fassung. Da sind mir so die Tränen hochgeschossen.
Die schockierte Frau liest in der Zeitung von einem Treffen der Patientinnen, deren Gewebeproben von Kemnitz untersucht wurden. Bald wird sie Sprecherin der Interessengruppe Diagnose Brustkrebs. Lange Zeit ist sie die einzige, die es wagt, mit ihrem vollen Namen in die Öffentlichkeit zu gehen. Wie so oft liegt die Scham selbst in diesem Fall auf Seiten der Opfer.
Der Täter, Josef Kemnitz, praktiziert unverdrossen und ungestört weiter. Die Beweise liegen vor aber niemand handelt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Alle stecken mit drin. Als die Frauen der Initiative die Sache endlich selbst in die Hand nehmen und vor Gericht ziehen, sitzt auf der Anklagebank zwar nicht Prof. Kemnitz, der sich inzwischen durch Selbstmord der Strafe entzogen hat, aber sitzen die Vertreter des gesamten profitierenden maroden Systems der deutschen Brustkrebs-Prävention und Behandlung: der Radiologe, dessen Mammografien von technisch so schlechter Qualität sind, dass auf ihnen überhaupt nichts zu erkennen war schon gar kein Brustkrebs; ein zweiter, der nicht in der Lage ist, seine Mammografien richtig auszuwerten; Chefarzt Dr. Rotthaus, der einen Zweitbefund für überflüssig hielt und offenbar zahlreichen Frauen die gesunden Brüste amputierte; die Chefärzte zweier weiterer Krankenhäuser; und die Ärztekammer, die Kemnitz trotz erdrückender Beweise kein vorläufiges Berufsverbot erteilt.
Doch: Alle Klagen werden abgewiesen. Weder hätten die Mediziner grob fahrlässig gehandelt noch habe die Ärztekammer ihre Aufsichtspflicht verletzt. Nur einem Radiologen wird die Approbation entzogen.
Bleibt nur noch die Zivilklage. Die verstümmelten Frauen klagen auf Schmerzensgeld. Aber die Beweisführung ist schwierig, Kemnitz hat die meisten Gewebeproben durch seine Brandstiftung vernichtet. Für hysterische Frauen haben die uns erklärt!, erzählt Hildegard Müller aufgebracht. Der Wohnzimmerschrank in ihrer Wohnung mit Blick auf den Baldeneysee ist gefüllt mit zehn Aktenordnern.
Sechs Jahre lang klagen sich die Frauen von Instanz zu Instanz. Sie treffen auf Gutachter, die sich für die Beurteilung einer Probe zwei Jahre Zeit lassen, und Richter, von denen sie sich fragen lassen müssen: Was, Sie wollen 70.000 Mark? Sie haben doch nur ne Brust verloren! Endlich, am 8. Oktober 2002, Gerechtigkeit: Der Bundesgerichtshof entscheidet auf Beweislastumkehr. Für die 169 Klägerinnen bedeutet das: Wir mussten nicht mehr beweisen, dass wir keinen Krebs hatten. Die Gegenseite musste beweisen, dass wir welchen hatten! Und damit, strahlt Hildegard Müller, war die Sache entschieden!
Ein großer Sieg in einem der größten Medizinskandale Deutschlands. Die Versicherung von Prof. Kemnitz muss zahlen. 24 Millionen e stehen für die ingesamt 169 Frauen zur Verfügung. Das Geld ist für Hildegard Müller im Grunde genommen zweitrangig. Auch wenn sie und die anderen die Frauen das Geld gut für Dinge brauchen können, an denen die Krankenkassen sparen: für ihre Prothesen, ihre Spezial-Büstenhalter oder die Lymphdrainagen gegen das Wasser im Arm. Die Hauptsache für mich ist, dass wir nicht mehr als hysterische Frauen dastehen! Aber eins ist auch klar: Es ist für uns schwer erträglich, dass die anderen Beteiligten nie belangt wurden. Die Wut bleibt.
Text: Chantal Louis, Foto: Bettina Flitner, EMMA Mai/Juni 2003 
IG Diagnose Brustkrebs, c/o Die Wiese, Pferdemarkt 5, 45127 Essen, T 0201/207676

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