Die Noether: Genial wie Einstein

Foto: Bryn Mawr College Archives
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Eine Anekdote aus der Zeit, als die Erlanger Mathematikerin Emmy Noether bereits am Women’s College Bryn Mawr in Pennsylvania lehrt, ist sinnbildlich für das ganze Leben dieser mehr als ungewöhnlichen Naturwissenschaftlerin: Während eines Spaziergangs diskutiert sie mit ihren Studentinnen mathematische Probleme. Die Zuhörerinnen sind allerdings ein bisschen abgelenkt: In einiger Entfernung ragt ein verschlossenes Gatter über den Weg, und die jungen Frauen sind sehr gespannt, wie ihre 50-jährige, nicht ganz schlanke Professorin wohl mit dieser Situation zurechtkommen wird. Doch Noether klettert einfach über den Zaun, ohne auch nur in ihrem Redefluss innezuhalten.

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Frauen werden an Universitäten als Störung des Organismus empfunden

Hürden gibt es im Leben der Ausnahme-Wissenschaftlerin von Anfang an viele, nicht alle lassen sich so nonchalant meistern wie das Pennsylvanische Gatter. Doch über die meisten hilft Emmy Noether ihre absolute Leidenschaft für Mathematik hinweg. Die wird ihr buchstäblich in die Wiege gelegt: Sie ist das älteste Kind eines jüdischen Mathematikprofessors; schon als Kind bekommt sie die Diskussionen mit, wenn der Vater mit Universitätskollegen zusammensitzt.

Doch während der Lebensweg ihrer Brüder von Anfang an vorgezeichnet ist – einer folgt dem Vater und wird Mathematiker, ein weiterer Chemiker –, sind Emmys Perspektiven sehr eng gefasst: Höhere  Töchterschule, Lehrerinnenseminar ... mehr Bildung ist für Mädchen nicht vorgesehen. Als Emmy im Jahr 1900 ihr Lehrerinnenexamen in den Fächern Französisch und Englisch ablegt – anspruchsvolle Mathematik existiert in Lehrplänen für Schülerinnen nicht –, beginnt es in der weiblichen Bürgerschaft bereits zu gären. Es ist die Zeit des Aufbruchs der Historischen Frauenbewegung. Viele Frauen wollen ihren Ausschluss von jeglicher höheren Bildung nicht länger hinnehmen, fordern, in Vereinen organisiert, ihre Zulassung an den Universitäten und den Aufbau von Schulen, die Mädchen zum Abitur führen. Dieser Kampf hilft Emmy Noether schließlich, diese erste Hürde in ihrem Werdegang zu überwinden: Die Universität in Erlangen lässt, ebenfalls 1900, Frauen immerhin als Gasthörerinnen zu.

Sofort sitzt Emmy Noether in den Vorlesungen – natürlich nicht für Anglistik oder Romanistik, sondern für Mathematik. Und sie beginnt, sich in Privatkursen aufs Abitur vorzubereiten. Als externer Prüfling an einem Knabengymnasium erhält sie im Sommer 1903 die Hochschulreife – exakt zum richtigen Zeitpunkt.

Im September 1903 werden Frauen in Bayern zum Universitätsstudium zugelassen. Emmy Noether immatrikuliert sich auf der Stelle für Mathematik, zunächst für ein Semester in Göttingen, dem damaligen „Nabel“ der mathematischen Welt, ab Sommer 1904 dann in Erlangen, wo ihr Vater an der mathematischen Fakultät lehrt und auch ihre Brüder inzwischen ihr Studium begonnen haben. Nach nur vier Jahren schließt sie ihr Studium mit einer Dissertation ab, mit Bestnote bewertet. Ihre weiteren Pläne sind absolut klar: Sie will an der Universität bleiben, forschen, selbst Studierende unterrichten.

Weibliche Professoren, noch dazu in einer Naturwissenschaft aber passen weder ins Weltbild noch in die bisherigen Strukturen der Universitäten. Die meisten  Professorenkollegien teilen aus tiefstem Herzen die 1907 von dem Göttinger Historiker Karl Brandi formulierte Ansicht, „dass sehr viele von uns prinzipiell den Eintritt der Frauen in den Organismus der Universitäten als eine Beeinträchtigung des menschlichen und moralischen Einflusses des männlichen Universitätslehrers auf ihre bis dahin eidlich homogene Zuhörerschaft betrachten.“

Immerhin darf Emmy Noether – unentgeltlich, versteht sich – am Mathematischen Institut in Erlangen arbeiten; gleichzeitig wird sie 1909 Mitglied in der Deutschen Mathematikervereinigung und beginnt eine bis 1932 beibehaltene, rege Vortragstätigkeit, die zu ihrem Ruhm und zu ihrer internationalen Bekanntheit beiträgt.

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Es ist die Zeit, in der Mathematik und Physik darum ringen, eine Sprache zu finden, mit der sich die grundlegenden Strukturen von Raum, Zeit und Energie allgemeingültig festschreiben und zu Gesetzen schmieden lassen, die auf der Erde ebenso gelten wie in den unendlichen Weiten des Weltraums oder im Mikrokosmos des Atoms. Bereits in Erlangen untersucht Emmy Noether, äußerst vereinfacht ausgedrückt, inwieweit sich aus dem Auftreten von „Invarianten“ – also Elementen, die bei Rechenoperationen für unveränderte Ergebnisse sorgen, beispielsweise der 0 bei der Addition oder dem Faktor 1 bei der Multiplikation – allgemeingültige Strukturen ableiten lassen.

Ihre klugen Ansätze führen dazu, dass David Hilbert, einer der führenden Mathematiker auf diesem Gebiet, Emmy Noether im Frühjahr 1915 nach Göttingen holt. Er, sein Kollege Felix Klein und ein bereits berühmter Physiker – ein gewisser Albert Einstein – brüten über dessen Allgemeiner Relativitätstheorie, kommen aber mit der Herausforderung, sie auch mathematisch zu fassen, nicht weiter. Jeder der drei Männer ist in seinen Denkmustern gefangen. Wissenschaftliche Assistenten, die helfen könnten, stehen nicht zur Verfügung – sie stehen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Emmy Noether gelingt es tatsächlich, das Problem zu lösen. Wieder überwindet sie eine Grenze, betrachtet die Fragestellung von außen und fasst sie in eine übergeordnete, überaus abstrakte Formel: das Noether-Theorem.

In ihrer dazu vorgelegten Habilitationsschrift zeigt sie – kühn, aber korrekt –, dass Einsteins berühmte Formel letztendlich nur ein Beispiel für ihr allgemein geltendes mathematisches Theorem ist. Daraufhin geschieht das Unfassbare: Das ausschließlich männlich besetzte Habilitationsgremium lehnt die Arbeit wegen „Fehlens der gesetzlichen Voraussetzungen“ ab. Emmy Noether ist fassungslos, David Hilbert außer sich. Wütend lässt er dem Kultusminister ausrichten, es sei nicht nachvollziehbar, warum das Geschlecht eines Kandidaten ein Argument gegen dessen Zulassung sei - man sei hier schließlich an der Universität und nicht in einer Badeanstalt.

Dann kommt das Jahr 1918. Die rechtliche Stellung der Frau ändert sich – endlich. In München wird im Fach Medizin erstmals die Habilitation einer Frau akzeptiert. Auch Emmy Noether kann sich nun habilitieren und unter ihrem eigenen Namen Vorlesungen anbieten. Einer Professur aber ist sie noch keinen Schritt näher.

Der Tod ihres Vaters 1921 trifft sie schwer, sichert ihr durch das Erbe aber eine bescheidene Existenzgrundlage. Erst 1922 erhält sie eine außerordentliche Professur, die allerdings nicht finanziell dotiert ist, dazu einen gering entlohnten Lehrauftrag für Algebra, in dessen Rahmen sie auch Examenskandidaten und Doktoranden betreuen kann.

Parallel verfasst die deutsche Mathematikerin Arbeiten, die für die Weiterentwicklung der modernen Mathematik von bahnbrechender Bedeutung sind und ihr den Beinamen „Mutter der Neuen Algebra“ eintragen. Da ist Emmy Noether längst weit über die Grenzen Deutschlands bekannt. Vorträge führen sie bis nach Zürich und Moskau, Studierende aus aller Welt finden sich ein, um die Vorlesungen jener brillanten Dozentin zu hören, die so leidenschaftlich über Probleme der Algebra sprechen kann und in ihrer optischen Erscheinung mit wirr abstehenden Haaren, verrutschter Kleidung oder viel zu großen Schuhen bisweilen ganz und gar dem Bild eines zerstreuten Professors entspricht, eines männlichen.

Dafür sind ihre Seminare legendär: Noether setzt den Studierenden keine fertigen Lösungen vor, sondern erarbeitet diese im gegenseitigen Diskurs – und keineswegs nur im Hörsaal. Nicht selten sieht man sie mit ihren SchülerInnen durch die Natur ziehen, am Wegrand sitzen und lebhaft diskutieren.

Sie erhält Preise und Stipendien, Gastprofessuren in Moskau und Frankfurt am Main, wird korrespondierendes Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften. Eine ordentliche Professur erhält sie nach wie vor nicht.

Mit den Januarwahlen 1933, die die Nationalsozialisten an die Macht bringen, ändert sich schlagartig die Situation Emmy Noethers, die nicht nur Jüdin ist, sondern auch bekennende Pazifistin. Im April wird ihr die Lehrbefugnis entzogen.

Wie viele ihrer Kollegen emigriert Emmy Noether in die USA. Eigentlich hofft sie auf einen Ruf nach Princeton, wo auch Albert Einstein lehrt, doch die Lage ist schwierig. Zu viele brillante Köpfe verlassen Deutschland in Richtung Amerika, und auch dort werden Männer, wenn es um die raren Professuren an den renommierten Universitäten geht, bevorzugt. Ein ebenfalls emigrierter Göttinger Kollege verschafft ihr schließlich eine Gastprofessur am Women’s College in Bryn Mawr, Pennsylvania – zum einen die erste wirklich angemessen bezahlte Stelle ihres Lebens, zum anderen nahe genug an Princeton, um dort
wenigstens Vorträge halten zu können.

Ihr Schaffen ist bis heute die Grundlage zur Lösung vieler physikalischer Probleme

Auch hier formiert sich rasch eine Schar begeisterter „Noether-Jünger“. Umso größer ist der Schock, als Emmy Noether an einem lebensbedrohlichen Tumor erkrankt und infolge einer schweren Operation kurz nach ihrem 53. Geburtstag stirbt. In allen gängigen Weltsprachen erscheinen Nachrufe, Albert Einstein selbst schreibt einen Text für die New York Times, um die Frau zu würdigen, die „der bedeutendste schöpferische Genius war, seit die höhere Bildung für Frauen ihren Anfang nahm.“

Doch nur ein einziger Artikel erscheint auf Deutsch. Geschrieben hat ihn der niederländische Mathematiker Bartel Leendert van der Waerden, der in Göttingen zu ihren Schülern gehörte, für die in Leipzig erscheinenden „Mathematischen Annalen“. Darin heißt es: „Als Mathematikerin war sie eine Persönlichkeit von einer sich jedem Vergleich entziehenden Einzigartigkeit.“ Und weiter: „Ihre Eigenart erschöpft sich auch keineswegs darin, dass es sich hier um eine Frau handelt, die zugleich eine hochbegabte Mathematikerin war, sondern liegt in der ganzen Struktur dieser schöpferischen Persönlichkeit, in dem Stil ihres Denkens und dem Ziel ihres Wollens.“

Die Theoreme Emmy Noethers sind bis heute die Grundlage zur Lösung einer Vielzahl physikalischer Probleme.

Der Text ist ein Auszug aus: "Die Bayerischen Suffragetten" von Claudia Teibler (Elisabeth Sandmann Verlag)

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