Die postfaktische Welt einer Postfeministin …

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Seit Mithu Sanyal im Sommer 2016 ihr Buch „Vergewaltigung“ veröffentlichte, trat sie immer wieder mit erstaunlichen Thesen zum Thema in Erscheinung. So beklagte die Missy-Autorin zum Beispiel, dass Vergewaltigung das „am meisten gegenderte Verbrechen“ sei. Denn: „Wenn wir über Vergewaltigung reden, tauchen alle Geschlechter­stereo­type wieder auf, bei denen wir uns sonst auf die Zunge beißen würden: ausgelieferte Frauen als Opfer und Männer, die sich nehmen, was sie wollen.“ Immerzu tappten die Menschen bei diesem Thema in die „Genderfalle“.

Diese Genderfalle kann sehr schnell zuschnappen. Denn wirft man nur einen Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik stellt man fest, dass im Jahr 2015 bei 7.095 angezeigten Vergewaltigungen 6.732 Opfer weiblich sind, also 95 Prozent.

Zahlen und Fakten interessieren die von den Medien als Vergewaltigungs-­Expertin gehypte Sanyal in diesen postfaktischen Zeiten ohnehin nicht. Denn „es liegt in der Natur der Sache, dass die Zahlen zum größten Teil auf Schätzungen beruhen“.

Angesichts der Vielzahl von Studien, die nicht nur die tatsächlich erstatteten Anzeigen auswerten, sondern auch das so genannte Dunkelfeld, ist diese Behauptung kühn. Wir wissen nämlich mehr als uns lieb sein kann: Mindestens jede siebte Frau ist ab ihrem 16. Lebensjahr Opfer einer sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung geworden. Von dem epidemischen sexuellen Missbrauch im Kindesalter ganz zu schweigen. Doch nur jede zwölfte Frau zeigt eine sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung an. Macht bei rund 7.000 Anzeigen rund 84.000 strafrechtlich relevante sexuelle Attacken im Jahr. (Für die Studie des Bundesfrauenministeriums, die das ergab, waren 10.000 Frauen ­befragt worden.)

In einem ihrer zahlreichen Interviews zum Thema blieb es den Interviewern vom Spiegel vorbehalten, die „Expertin“ auf die Fakten aufmerksam zu machen: „Sie kritisieren die Fixierung von Frauen als Opfer. Aber in den meisten Fällen ist das so. Und die Täter sind Männer.“ ­Sanyals Antwort: „Das stelle ich infrage – ohne eine Antwort parat zu haben.“ Letzteres trifft zweifelsfrei zu.

Ganz sicher ist sich Mithu Sanyal hingegen, dass auch Männer von Frauen vergewaltigt werden: „Viele denken, Männer könnten nicht vergewaltigt werden, weil sie unter Zwang keinen hochkriegen würden. Dabei wissen wir aus Studien, dass alle Menschen Zeichen körperlicher Erregung zeigen können, ohne ein psychisches Äquivalent dazu. Es gibt auch Vergewaltigungen von Frauen, bei denen die Frau zum Orgasmus gekommen ist.“ Da schnappt sie wieder zu, die Genderfalle. Krachend.

Da war es nur folgerichtig, dass die Kulturwissenschaftlerin aus Düsseldorf Ende Februar eine weitere krude Idee in die Runde warf. Denn die Post-Feministin Sanyal, für die das Geschlecht von Tätern und Opfern offenbar keine Kategorie ist, hatte ein weiteres Problem ausgemacht: Opfer haben kein gutes Image. Was stimmt. Tatsächlich gibt es eine gesellschaftliche Verachtung von Schwäche und Wehrlosigkeit, die soweit geht, dass das Wort „Opfer“ auf Schulhöfen inzwischen zur Beleidigung geworden ist. Keine Frage: Wir leben in einer Tätergesellschaft.

Mithu Sanyal wollte aber nicht die ­Realität verändern, die diese Opferverachtung hervorbringt, sondern nur die Sprache. „Keine Sorge, es gibt eine Lösung!“ frohlockte sie. Ihr Vorschlag: Opfer einer Vergewaltigung könnten sich doch künftig ganz einfach nicht mehr Opfer nennen. Stattdessen könnten sie den Begriff „Erlebende“ verwenden.

Der Begriff „Opfer“, erläuterte Sanyal in einem taz-Text, sei nämlich „keineswegs ein wertfreier Begriff, sondern bringt eine ganze Busladung voll Vorstellungen mit. Wie die, dass Opfer passiv, wehrlos und ausgeliefert sind – und zwar komplett.“ Diese Vorstellung aber sei ungünstig, denn „wenn mir jemand erzählt, dass er oder sie einmal einen Autounfall gehabt hat, wird sich meine Wahrnehmung dieser Person wahrscheinlich kaum verändern. Genau das passiert jedoch, wenn wir ‚Autounfall‘ durch ‚Vergewaltigung‘ ersetzen.“

Die Antwort auf die Frage, warum es einen Unterschied für Opfer macht, ob ein Mensch einen Verkehrsunfall hat oder vergewaltigt wird, könnte Mithu ­Sanyal in einer Flut von Fachliteratur bis hin zur Traumaforschung nachlesen. Und im Gegensatz zum Verkehrsunfall ist Vergewaltigung eben doch eine Geschlechterfrage. Aber statt die Macht­frage zu stellen, „dekonstruiert“ Mithu Sanyal lieber. Und zwar so, dass vor lauter Dekonstruktion Opfer und Täter kaum mehr zu erkennen sind.

Die studierte Kulturwissenschaftlerin scheut sich auch nicht, den ganz großen Bogen zu schlagen. Kein Wunder, dass sie den Überblick verliert. Eine Kostprobe: „Das Wort ‚Opfer‘ wurde aus dem Verb ‚opfern‘ gebildet und kommt ursprünglich aus dem Bereich des Sakralen. Ein Opfer war das, was man der Gottheit oder den Gottheiten brachte. Im Christentum steht das Opferlamm für Reinheit und Unschuld. Deshalb schien es eine gute Idee, das Konzept auf sexualisierte Gewalt (oder den Holocaust) zu übertragen, um die Opfer von Schuld an den an ihnen begangenen Verbrechen freizusprechen.“ Die Opfer müssen also von „Schuld“ freigesprochen werden? Sowohl die Opfer von Vergewaltigung als auch die Opfer des Holocaust? Hoppla, das grenzt ja fast an Holocaust-Leugnung, Frau Autorin.

Doch kommen wir wieder zu den ­Tätern. Denen, bedauert Sanyal, begegne die Gesellschaft entschieden zu „unempathisch“. Zudem sei es problematisch, dass die „Feministinnen der Siebziger Jahre“ die „psychischen Folgen“ von Vergewaltigung „sehr stark herausgestellt“, ja sie gar als „Seelenmord“ bezeichnet hätten. „Ich fürchte, dass diese Sichtweise dazu führt, dass Täter ihre eigene Tat nicht annehmen können“, sagt Sanyal, deren Empathie mit den Tätern offenbar groß ist. Das alles wäre kaum der Rede wert, weil gehaltlos, wäre die Einfühlsamkeit, mit der Sanyal über Täter schreibt, nicht gleichzeitig ihre Eintrittskarte in so manche Medien.

Das Wort „Erlebende“, räsonniert Sanyal weiter, „trifft noch keine Aussagen über Motivation und Rollenverteilungen. Klassische Binaritäten wie aktiv/passiv werden aufgebrochen.“ Schließlich sei es „wichtig, einen Begriff zur Verfügung zu haben, der höchstmögliche Wertungsfreiheit gewährleistet. Aus diesem Grund setzen wir uns dafür ein, ‚Erlebende‘ in den Duden aufzunehmen.“

Höchstmögliche Wertungsfreiheit. Klingt gut. Denn wer will denn da auch gleich schon wieder werten, nur weil eine Frau, eine Kind (und manchmal auch ein Mann) von – in der Regel – einem Mann vergewaltigt worden ist? Doch nur diese peinlichen Opferfeministinnen, ein Begriff, den wir vor allem aus dem Munde von Maskulisten, den hauptberuflichen Feministinnen-Hassern, kennen.

Über Sanyals groteske Verschleierungsversuche waren nicht nur Opfer so empört, dass sie einen Offenen Brief lanciert haben. Auf dem Portal des Bloggerinnen-Kollektivs „Die Störenfriedas“ erklären sie: „Opfer sexueller Gewalt zu ‚Erlebenden‘ zu machen, lässt die Gewalt aus dem Sprachgebrauch verschwinden.“ Denn: „Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis. Sexuelle Gewalt ist eine Tat, vorrangig begangen von Männern an Frauen und Kindern. Von Erlebenden zu sprechen, bedeutet, die Tat selbst euphemistisch zum Erlebnis umzudeuten, ähnlich einem Konzertbesuch oder einem Urlaub.“

Zu den ErstunterzeichnerInnen des Offenen Briefes gehören Mitglieder zahlreicher Organisationen und Initiativen, von Terre des Femmes bis #ichhabenichtangezeigt, von der „Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt“ bis „Sisters“, von FEMEN bis „One Billion Rising“. Sie erklären: „Es ist nicht der Opferdiskurs, der Opfer degradiert. Es sind die Täter, nicht die Selbstbeschreibung der Opfer. Keine noch so euphemistische Umdeutung kann die Tat für ein Opfer ungeschehen machen, sehr wohl aber für den Rest der Gesellschaft – wie außerordentlich praktisch!“ Und schließlich: „Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis. Sexuelle Gewalt ist ein Verbrechen.“

Auch Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch fragte verwundert: „Sollen wir Frauen nun wirklich kuschen – und selber das Wort ,Opfer‘ abschaffen, nur weil es nicht in ein Macho-Wertesystem passt, das Stärke oder den Anschein davon verehrt und Wehrlose verhöhnt?“

Nachdem EMMAonline über den Offenen Brief der Störenfriedas berichtet hatte, griffen weitere Medien die Debatte auf und zeigten sich ebenfalls, gelinde gesagt, irritiert. Die FAZ fand Sanyals Argumentation „atemberaubend“. FAZ-Autorin Ursula Scheer: „Und es wird atemberaubender mit jedem weiteren Argumentationsschritt dieses Artikels, der geradewegs in den Abgrund führt – und damit beispielhaft für die Irrläufe eines reaktionären, vor allem im Internet heimischen Feminismus steht, der sich mit viel Hashtag- und Sprachvorschriftsgetöse als vermeintliche Speerspitze im Kampf um Gleichstellung aller Gender und Identitäten, Ethnien und Klassen geriert, tatsächlich aber Opferverachtung betreibt.“

Auch die Welt konnte sich einen gewissen Spott nicht verkneifen. „Das nennt sich dann Dekonstruktion von Sprache, führt mitunter aber zur Dekonstruktion von Gehirnmasse“, schrieb Welt-Autorin Lisa Schmidt-Herzog und erklärte: „Der Begriff ,Opfer‘ stigmatisiert nicht den Menschen. Er stigmatisiert die Tat, denn die ist furchtbar.“

Offenbar hatte die von linksliberalen Medien bis dato so hofierte Missy-Autorin Sanyal nicht mit so viel Gegenwind gerechnet. Sie machte rasch einen Rückzieher und entschuldigte sich in der Huffington Post „bei allen Menschen, die sexualisierte Gewalt erleben mussten“. Die hätten sie missverstanden. Denn: „Es geht mir nicht darum, neutral einem Verbrechen gegenüber zu stehen“, so Sanyal, „sondern den Betroffenen selbst die Definitionsmacht zu überlassen“.

Da ist sie wieder, die Frage nach der Macht. Allerdings nicht die Kernfrage nach der Macht des Täters, sondern die nach der des Opfers: Wie möchte die oder der „Erlebende“ es denn nun nennen, was ihr oder ihm widerfahren ist? Aber wie auch immer „Erlebende“ sich subjektiv bezeichnen möchten (einige haben sich für den Begriff „Überlebende“ entschieden) – es ändert nichts an der Tatsache, dass sie objektiv Opfer geworden sind.

Gegenwind kam nun nicht nur von Feministinnen, sondern auch von Maskulisten, jene Netzwerke aus frauenhassenden Männerrechtlern, die allen gut bekannt sind, die im Internet feministisch unterwegs sind. Sie wünschten nun ihrerseits Sanyal ein „Erlebnis“ – oder bedrohten sie gar gleich mit Vergewaltigung.

Und was passierte dann? Wer war in den Augen von Sanyal und Freundinnen nun schuld an der Hetze? Die Rechten und Frauenfeinde, die sie in E-Mails und auf Facebook bedroht hatten? Aber nein. Schuld waren die Kritikerinnen von San­yals „Erlebenden“-Phantastereien, sprich: die Störenfriedas und EMMA. Das fand nicht nur Mithu Sanyal, die nun in der Huffington Post die pikierte Frage stellte: „Welchen Feminismus wollen wir leben?“ So sahen das auch ihre Freund*innen aus der Berliner Netzfeminist*innen-Szene: „Für die Auslöserinnen der Hassattacken auf Mithu Sanyal habe ich nur tiefste Verachtung übrig“, twitterte Anne Wizorek. Und sie fügte hinzu: „Wenn eure ‚Diskussionsmethoden‘ kaum von antifeministischen Attacken zu unterscheiden sind, dann geht kacken und kommt nicht mehr wieder.“ O-Ton. 

Über die Diskussionsmethoden von Mithu Sanyal durfte EMMA bald mehr erfahren. Die kannten wir zwar schon aus einem Artikel in Missy-Online über das von Alice Schwarzer herausgegebene Buch „Der Schock“ zur Kölner Silvesternacht. Sanyal, Tochter eines indischen Vaters und einer polnischen Mutter, bezeichnete das Buch als „rassistische Hassschrift“. Wohlgemerkt: Im „Schock“ sind die Hälfte der acht AutorInnen selbst aus dem muslimischen Kulturkreis, manche lebensbedrohlich verfolgt von Islamisten. Und wie reagierte Alice Schwarzer auf diese ungeheuerliche Diffamierung? Sie schüttelte nur den Kopf – und schwieg.

Mithu Sanyal hingegen möchte Kritik an ihren Standpunkten unterbinden. Im März flatterte EMMA ein Brief von ihrem Anwalt Jasper Prigge ins Haus. Der ist übrigens Abgeordneter der Linken und in seiner Partei offensiver Pro-Prostitutions-Aktivist. Sanyals Anwalt wollte EMMA per Unterlassungserklärung untersagen, weiterhin folgenden Satz zu verbreiten: „Sie will, zumindest rein sprachlich, die Opfer ganz abschaffen.“ EMMA wies dieses Anliegen zurück. Schließlich hatten FAZ, Welt und die vielen protes­tierenden Frauen Sanyal genau so verstanden. Es ist allerdings ein Novum, dass ­Feministinnen wegen unterschiedlichen Meinungen gegen Feministinnen klagen. 

Stattdessen warten wir nun auf die nächsten Vorschläge aus dem Hause Sanyal & Freund*innen. Wie wäre es zum Beispiel mit folgender Idee: Die Medien sollten bei ihrer Berichterstattung über Vergewaltigungen auch das Geschlecht des/r Täter*in nicht mehr nennen (so wie es bei deren Herkunft schon vielfach erfolgreich praktiziert wird). Dann wäre Vergewaltigung endlich das, was sich die Verschleierinnen der patriarchalen Machtverhältnisse offenbar so dringlich wünschen: postgender.

 

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