Christine de Pizan - vor 600 Jahren!
Wer ist die Frau, die im Jahr 1405 öffentlich eine gesetzliche Todesstrafe für Vergewaltiger forderte und das vor 600 Jahren als „ein angemessenes, gerechtes und heiliges Gesetz“ bezeichnete? Und die sich einige Jahre zuvor mit dem damals berühmten Kultbuch „Rosenroman“ von Jean de Meun anlegte – und es zuguterletzt sogar schaffte, zu beweisen, wie frauenfeindlich und grotesk diese als fortschrittlich geltende Schrift war. Wer war diese Autorin?
Die Schriftstellerin Christine de Pizan war eine Neu-Pariserin mit Migrationshintergrund, geboren 1365 in Venedig, gestorben um 1430 (n)irgendwo in Frankreich. Damals wurden Frauen nach dem Schema der sogenannten drei weiblichen Stände einsortiert: als Jungfrau, Ehefrau oder Witwe. Und es gab kaum Schutz vor Armut, Ausgrenzung und Ausbeutung.
Wie also wurde Christine die erste professionelle Schriftstellerin Europas, eine gefragte politische Ratgeberin und sogar Verlegerin ihrer eigenen Werke? Und weshalb ist diese junge Frau in ihrem mittelalterlichen blauen power dress, die sich gern zu Beginn ihrer Werke als Schriftstellerin auch bildlich in Szene setzt, in unserer Gegenwart so angenommen, dass sie heute (fast) Kultstatus hat und fest verankert ist im kollektiven Gedächtnis? Und weshalb sind die Stimmen ihrer Bücher uns zugleich so fern und so nah?
Wir begegnen ihr heute, 600 Jahre später, auf Schritt und Tritt, zuletzt 2024 in Paris bei der Eröffnungszeremonie der Olympiade, als sie zu den zehn bedeutenden Französinnen zählte, deren Statuen plötzlich aus der Seine auftauchten. Und schon zuvor gab es ein Biopic und einen Mittelalter-Krimi mit ihr als Heldin. Wie konnte eine Frau während des Hundertjährigen Kriegs und im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit so selbstbestimmt leben und als Intellektuelle öffentlich wirken, wie Christine es tat? Wer ist sie?
In Venedig wird im Jahr 1365 dem Arzt und Astrologen Tommaso di Benvenuto da Pizzano (d. h. aus Pizzano bei Bologna) und einer namenlos gebliebenen Mutter eine Tochter namens Cristina geboren. Eigentlich – so Christine – habe sich ihr Vater einen Sohn gewünscht. Es wird ein Mädchen; allerdings in seinem Wesen und seiner unbändigen Wissbegierde ganz der Vater.
Doch der Wissensdurst dieses Kindes kann nicht gestillt werden in einer Gesellschaft, die Mädchen bestenfalls das Erlernen von Lesen und Schreiben erlaubt, während Jungen umfassend in den sogenannten Sieben Freien Künsten ausgebildet werden: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Diese Ungerechtigkeit kritisiert Christine immer wieder, etwa wenn sie ihren mühseligen Zugang zum väterlichen Wissensschatz – der ihr als Tochter und Erbin doch unbedingt zugestanden hätte – als Diebstahl darstellt:
"Oh Gott, wie viele Belästigungen und Blicke muss ich mir gefallen lassen?"
„Aber weil ich als Mädchen auf die Welt gekommen war, hätte ich ohnehin in keiner Hinsicht von dem väterlichen Erbe profitieren können, war es mir doch verwehrt, den aus dem köstlichen Brunnen des Wissens geschöpften Schatz zu heben – und dies geschah mehr nach altem Brauch als von Rechts wegen. Denn ginge es gerecht zu, dann verlöre das Mädchen dabei ebenso wenig wie der Junge. Doch ich weiß wohl, vielerorts regiert eher verstaubtes Brauchtum als Recht. Trotzdem hatte ich (…) eine natürliche Neigung hierzu.“ (Das „Buch von der launischen Fortuna“, 1400 – 1403).
Schon früh kommt durch Migration die entscheidende Bewegung in ihr Leben. 1368 zieht sie mit ihrer Mutter, den drei Brüdern und Verwandten von Venedig in das ferne Frankreich. 1365 hatte König Charles V. den berühmten Astrologen Tommaso an seinen Hof nach Paris gelockt und ihm nach drei Jahren aber die Heimkehr nach Italien verboten. Also machen sich die Seinen auf den langen Weg zu ihm, überqueren die Alpen auf Pferden und Maultieren und ziehen immer weiter, bis Paris. Staunend begegnet das Kind Cristina einem unbekannten, reizvollen Land mit einer fremden Sprache. Später, als Erwachsene, erinnert sie sich noch genau.
An die „Durchquerung fremdartiger Landschaften, hochaufragender Alpen, wilder Heidelandschaften, tiefer Wälder und rauschender Flüsse. Auf diese Weise reiste ich viele Tage lang, bis mir aus weiter Ferne der Lichtschein des vor Glorie leuchtenden Landes erschien, zu dem ich strebte. Da ich auf diese Weise, je näher ich kam, immer besser seine Hoheit wahrnahm, setzte ich meine lange Reise bis zu seiner Hauptstadt fort, die man das zweite Athen nannte (gemeint ist Paris). So beendete ich diesen mühseligen Weg, ruhte meine ermatteten Glieder aus und überlegte, wie ich die Bekanntschaft dieser Prinzessin (Frankreich) machen könnte.“ (Christines Vision, 1405)
Glanzvolle Anfänge der italienischen Großfamilie in Paris. In seinem Stadtpalast im Louvre empfängt der König die ganze Familie, in „ihren reich verzierten, kostbaren lombardischen Gewändern“, beschenkt sie großzügig und sorgt für ein komfortables, sorgenfreies Leben. Die kleine Cristina da Pizzano verwandelt sich schnell in Christine de Pizan. Sie erlebt zwölf Jahre des Familienglücks, des Wohlstands, im Umkreis des königlichen Hofs, mit Zugang zur umfangreichen Bibliothek des gelehrten Charles V. Aus Italien hat ihre Familie zudem ihre eigene Bibliothek mitgebracht, mit medizinischen, astrologischen und philosophischen Schriften sowie Werken von Dante, Petrarca und Boccaccio.
Gerade 15-jährig verheiratet der Vater sie mit dem zehn Jahre älteren königlichen Sekretär Étienne du Castel. Christine gebiert in schneller Abfolge mehrere Kinder, von denen drei, eine Tochter und zwei Söhne, überleben. Doch dann zerstört der Tod brutal dieses schöne, so glatt verlaufende Leben: Zuerst stirbt der königliche Gönner Charles V., dann Tommaso und schließlich ihr geliebter Ehemann Étienne. Ihr ältester Bruder war bereits nach Italien zurückgekehrt, die beiden anderen Brüder folgen ihm, „damit öffnete sich die Pforte zu unserem Unglück, und ich, die ich noch sehr jung war, wurde hineingestoßen“. Plötzlich ist Christine der Vorstand einer Familie in der Fremde geworden, ohne den Schutz der italienischen Großfamilie.
Ihre Lage verschlechtert sich rasant. Die 25-jährige Witwe erfährt materielle Not und soziale Schwäche, verbunden mit Scham. „Gott allein weiß, wie sehr ich litt, wenn in meinem Hause von Schergen der Justiz Zwangsvollstreckungen durchgeführt und mir meine Sächelchen davongetragen wurden.“ (Christines Vision) Mühsam versucht sie, wenigstens die Fassade zu wahren:
„Von meinem Äußeren und meiner Kleidung konnte man nur schwerlich auf die Last meiner Sorgen schließen. Vielmehr war es so, dass ich jedoch unter meinem pelzgefütterten Mantel und meinem abgeschabten, scharlachfarbigen Überwurf – nicht oft erneuert, aber gut erhalten – nur allzu oft Angst verspürte und vor Kälte zitterte und in meinem schönen, wohlgeordneten Bett viele schlaflose Nächte verbrachte.“
Diese autobiografischen Zeugnisse einer armutsbedrohten Frau sind einzigartig für diese Zeit. Offen spricht sie von den Nöten einer sexistischen Belästigungen ausgesetzten jungen Frau. „Oh Gott, wie viele Belästigungen und widerliche Blicke, wie viel Spott aus dem Munde angetrunkener Männer, die selber im Überfluss lebten, musste ich mir gefallen lassen!“
Statt in depressive Lähmung zu verfallen, nimmt sie den Kampf auf
Trotzdem lehnt die Intellektuelle eine Wiederverheiratung oder den Rückzug in ein Kloster ab. Statt in depressive Lähmung zu verfallen, nimmt sie den Kampf auf. Später kleidet sie die dann folgende große Wende in ihrem Leben in eine bildreiche Erzählung: Ihr Leben als eine zunächst glückliche Schiffsreise, die durch ein heftiges Unwetter und den Tod des ‚Kapitäns‘ Étienne jäh zur Katastrophe wird. Sie sei daraufhin in Mutlosigkeit und Depressivität verfallen, bis Frau Fortuna sie im Schlaf berührt – und in einen ‚Mann‘ verwandelt habe:
„Eines Tages, erschöpft, gebrochen und wie erstarrt vom langen Weinen, schlief ich am Nachmittag ein. Da näherte sich mir meine Herrin (…) und berührte meinen gesamten Körper (…), betastete ein Glied nach dem anderen und nahm es in die Hand. Dann verschwand sie, und ich blieb zurück. Unser den Meereswellen des Meeres ausgesetztes Schiff schlug gegen einen Felsen. Ich erwachte und fühlte mich sogleich (…) wie verwandelt: Meine Glieder, das spürte ich, waren viel stärker als zuvor, schwächer jene abgrundtiefe Traurigkeit und der Kummer, in denen ich zuvor befangen war. Höchst verblüfft berührte ich mich. (…) Ich fühlte mich plötzlich viel leichter als sonst, mein Gesicht war anders, markanter geworden, meine Stimme kräftiger, mein Körper straffer, beweglicher. (…) Mit Leichtigkeit erhob ich mich (…). Plötzlich hatte ich ein starkes, kühnes Herz – was mich überraschte – aber ich spürte: Ich war in der Tat ein Mann geworden! (…) Schwer ramponiert und zersprungen war unser Schiff, Wasser drang mit aller Macht ein, und es war schon so damit angefüllt und drohte unterzugehen, wäre es nicht auf Felsen aufgelaufen. Als ich es in so großer Gefahr sah, legte ich selbst Hand an, um es zu reparieren. (…) Ich wurde ein guter Kapitän, und das war bitternötig, um mich und meine Familie zu retten. (…) Noch immer, seit geschlagenen 13 Jahren, bin ich ein Mann, aber eigentlich wäre ich lieber eine Frau geblieben.“ (Das Buch von der launischen Fortuna).
Doch Christine begnügt sich nicht mit diesem Sieg im Überlebenskampf, sondern verwirklicht zugleich die ihr angemessene Lebensform als Schriftstellerin und damit auch ihre materielle Absicherung. Dieses Ziel und den schwierigen Weg dorthin beschreibt sie rückblickend so:
„Obwohl ich wegen meiner Natur und Herkunft eine Neigung hierzu besaß, hielten mich die Beschäftigung mit Dingen, die üblicherweise von verheirateten Frauen erwartet werden sowie die Last häufiger Schwangerschaften davon ab, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen.“ (Christines Vision).
Erstaunliche, ja extravagante Wünsche für eine Frau ihrer Zeit, diese Sehnsucht nach Wissenserwerb, Abgeschiedenheit und selbstgewählter Einsamkeit, in einem eigenen geistigen und realen Raum, A room of her own (Virginia Woolf) zum Lesen, Nachdenken und Schreiben. Dies alles gelingt Christine nicht trotz, sondern gerade wegen der vielen Krisen, die zwar ihr konventionelles Frauenleben zerstörten, ihr jedoch zugleich neue Möglichkeiten eröffneten.
So entsteht in unglaublich schneller Abfolge ab 1399 bis etwa 1430 ihr gewaltiges Werk mit zahlreichen großen Büchern zu dringenden Zeitfragen, mit flugschriftähnlichen Texten (wie ihrem Friedens-Appell an Königin Isabeau de Bavière) sowie Schriften zur Lebensbewältigung (wie ihr „Buch von den Drei Tugenden“, 1405). Hier werden Frauen zum ersten Mal nicht nach ihrem Verhältnis zum Mann, sondern nach ihrer sozialen Stellung und den Orten ihres Lebens klassifiziert: Christines Regeln für Frauenleben in schwierigen Zeiten richten sich an Adlige, an Bürgerinnen – und an Prostituierte.
Im gleichen Jahr zieht Christine eine selbstbewusste Zwischenbilanz und sagt, sie habe sich kontinuierlich weiterentwickelt.
Angefangen habe sie mit „anmutigen poetischen Gebilden, ohne allzu viel Tiefgang. Dann aber erging es mir wie dem Handwerker, der mit der Zeit immer kompliziertere Dinge herstellt: In ähnlicher Weise bemächtigte sich mein Verstand immer ungewöhnlicherer Gegenstände; mein Stil wurde eleganter, meine Themen gewichtiger. Seit meinen Anfängen im Jahr 1399 bis zum heutigen Jahr 1405 – in dem ich ja noch nicht aufhöre –, in eben diesem Zeitraum habe ich 15 umfangreiche Bände verfasst. (Nicht mitgezählt wurden hierbei andere, kürzere Schriften, die bekanntermaßen rund siebzig großformatige Hefte füllen).“ (Christines Vision)
Ebenfalls in dieser Zeit, im Frühling 1405, entsteht das Werk, mit dem sie seit den 1980er Jahren einen zweiten fulminanten Erfolg hat und zu einer geradezu ikonischen Autorin wird: Le Livre de la Cité des Dames, das in viele Sprachen übersetzte „Buch von der Stadt der Frauen“. Den Impuls dazu bekommt sie aus der Lektüre zeitgenössischer und antiker Autoren, die in ihren Schriften Frauen als ein in jeder Hinsicht minderwertiges Geschlecht darstellen und deren Verdienste um das Wohl der Menschheit verschweigen.
Ihr „Buch von der Stadt der Frauen“ ist ein Ermutigungs- und Trost-Buch für Leserinnen. Die berühmte Miniatur zu Beginn vereinigt zwei Schlüsselszenen in einem einzigen Bild: Zuerst den Besuch der drei großen Frauen Gerechtigkeit, Rechtmäßigkeit und Vernunft (Raison, Droiture, Justice) in Christines Arbeitszimmer, dann den Baubeginn mit zwei Frauen, Christine und Frau Vernunft, bei der Maurerarbeit.
Wechselreden zwischen einem fragend-zweifelnden Text-Ich Christine und den drei ‚großen Frauen‘ treiben die Erkenntnis voran. Dabei setzt sich die Autorin die Maske einer vermeintlich naiven, zuweilen am eigenen Geschlecht fast verzweifelnden Frau auf. Die wird von ihren redegewandten Gesprächspartnerinnen stets eines Besseren belehrt und oft zu einem befreienden Lachen gebracht.
Die geistige Stadt, eine Raumutopie, der ideale Raum für Frauen wirkt bis 21. Jahrhundert
Die Bausteine sind einzelne Geschichten aus Politik, Geschichte, Kultur und Moralphilosophie. Es ist ein langer gemeinsamer weiblicher Bauprozess bis zur Vollendung der einzigartigen Stadt der Frauen. Immer wieder betont Christine die Dauerhaftigkeit und Unzerstörbarkeit einer solchen fiktiven, geistigen Stadt, und in der Tat hat diese Raumutopie, diese Konstruktion eines idealen Raums von Frauen für Frauen, die Zeiten überdauert und wirkt bis in das 21. Jahrhundert hinein. Anders als das reale Amazonenreich mit seinen Reiterkriegerinnen, Stadtgründerinnen und Königinnen. Darauf kommt auch Christine mehrfach zurück, betont aber immer die Fragilität dieser Form von autonomem Frauenreich, das durch die Niederlage im Kampf der Amazonen gegen die Griechen zerstört wurde.
Doch die Bedeutung ihres Buches liegt nicht nur in der Schaffung einer Raumutopie avant la lettre (mehr als ein Jahrhundert vor Thomas Morus’ Utopia, 1516). „Die Stadt der Frauen“ markiert, trotz seines mittelalterlichen Gewands, einen entscheidenden Schritt in Richtung Moderne: mit seiner Um-Schreibung der traditionellen Geschichte, seiner Neudeutung und Akzentuierung der Rolle von Frauen innerhalb der Geschichte der Menschheit – und, immer wieder, mit der Berufung auf die eigene Erfahrung als Schlüsselkategorie für die Erkenntnis und die Beseitigung von Ungleichheiten. Christine betont nachdrücklich auch die Bedeutung gemeinsamen Handelns von Frauen gegen den Frauenhass und gegen das Vergessen der bedeutenden Leistungen von Frauen für die Menschheit. Auf die Frage, weshalb Frauen so lange geschwiegen hätten, sagt „Frau Rechtschaffenheit“ in der „Stadt der Frauen“, diese seien eben „isoliert, für sich allein gewesen und hätten niemals selbst ein Buch über diese Dinge verfasst“.
Dies ändert sich mit Christine de Pizan und ihrem entschieden in die Zukunft weisenden „Buch von der Stadt der Frauen“. Es fand schon zu ihren Lebzeiten viele LeserInnen. Doch dessen Potenzial ist auch 600 Jahre danach noch nicht ausgeschöpft.
Ausgabe bestellen

