EMMA vor 49 Jahren: Männerjustiz
Im 26. Januar 1977 erschien die erste Ausgabe von EMMA. Auflage: 200.000 Exemplare. Die Aufregung war groß. Nach zwei Wochen druckte EMMA 100.000 Hefte nach. In der ZDF-Sendung Drehscheibe zählten die Kollegen die Kommata-Fehler im Heft.
Das war vor 49 Jahren.
Im Jahr 2026 wird EMMA jeweils einen zentralen Text aus dem Jahr 1977 nachdrucken – und bilanzieren, wo wir heute bei dem Thema stehen. Am Jahresende werden 50 Jahre EMMA voll sein. In dieser Ausgabe bringen wir den wichtigsten Text aus der allerersten EMMA. Das bewusste Anti-Cover war eine ironische Antwort auf die Glamour-Titel der Frauenzeitschriften. In dem Heft stand vieles, zum Beispiel ein Interview mit Romy Schneider, der erste Cartoon von Franziska Becker, die erste „Schwester von gestern“ (Louise Otto-Peters) und ein Porträt von Virginia Woolf (die Schriftstellerin war damals in Deutschland nicht mehr aufgelegt, das Porträt löste ihre Renaissance aus).
Doch zentral war ein Essay von Alice Schwarzer über die „Männerjustiz“. Es ging um das unglaubliche Ungleichgewicht der Behandlung von männlichen und weiblichen Tätern durch Justiz und Medien. Der hier gekürzt nachgedruckte Text wirkt im Rückblick fast karikatural. Aber genau so war es.
Zu dem extremen Sexismus kam noch die in der Zeit generelle Milde für die Täter und das Desinteresse für die Opfer. Nach der Kopf-ab-Phase in der Nazizeit und den Nachkriegsjahren hatten Psychologen und Journalisten entdeckt, dass auch Täter Menschen sind. Zu Recht. Doch sie vertieften sich dermaßen verständnisvoll in die Psyche der Täter – schwere Kindheit, hartherzige Mutter, geifernde Ehefrau etc. –, dass sie nicht nur verstanden, sondern auch verziehen; und darüber die Opfer, in der Regel Kinder und Frauen, vergaßen.
Regelrecht groteske, aber doch zeittypische Ausmaße nahm der täterempathische und frauenignorante Blick von Justitia und Journalisten 1976 im Fall des Serienmörders Fritz Honka an. Der Serienmörder hatte in den Jahren 1971 – 1975 vier Frauen ermordet. Vergewaltigt, gefoltert, getötet, zerstückelt. Allen Opfern schnitt er postmortal die Genitalien aus dem Körper, zweien schnitt er auch die Brüste ab.
Heute wäre so ein unbegrenztes Verständnis für einen perversen Frauenmörder nicht mehr möglich. Dank des weltweiten Protestes von Frauen gegen die „Femizide“, die Frauenmorde aus Frauenhass. Und weil nach Jahrzehnten der Fokus von den Tätern auf die Opfer gewechselt hat. Das ist auch diesem so frühen Text in EMMA über die „Männerjustiz“ zu verdanken.
Nachfolgend Auszüge aus dem Artikel „Männerjustiz“ aus der EMMA 1/1977. Außerdem im Heft: Ein damaliger und einen aktueller Text über Fritz Honka – sowie die informativen Texte der Hamburger Historikerin Frauke Steinhäuser, die sich auf die Spuren des Lebens der vier Ermordeten begeben und ihnen Jahrzehnte später ein Denkmal gesetzt hat.
Vor Justitia sind nicht alle gleich. Arme zum Beispiel müssen nicht nur früher sterben als Reiche, sie müssen auch länger sitzen. Denn wir haben in der Bundesrepublik eine Klassenjustiz. Das ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass wir auch eine Männerjustiz haben. Justitia ist ein Mann. Denn:
- Frauen werden für gleiche Taten oft härter verurteilt als Männer.
- Frauen haben schlechtere Haftbedingungen als Männer.
- Frauen werden seltener begnadigt als Männer.
Hier ein paar Beispiele aus den Annalen der niederrheinischen Frauenhaftanstalt Anrath.
Da ist Frau H. S.: Sie war zur Tatzeit 32 Jahre alt, Hausfrau und Mutter zweier Kinder. Ihr Geliebter erschoss ihren Ehemann. Nach neun Jahren gestand er die Tat. Sie war laut Urteil nicht einmal Mittäterin, wurde aber wegen „Anstiftung“ zu lebenslänglich verurteilt. Er, der eigentliche Täter, bekam fünf Jahre und wurde ein Jahr später begnadigt.
Oder Frau A. J., zur Tatzeit 32 Jahre alt, Hausfrau und Mutter zweier Kinder. Sie bekam lebenslänglich, weil ihr Freund ihren Mann erwürgt hatte. Laut Gericht mit ihrer „Billigung“ (nicht Mittäterschaft). Der Freund und Täter wurde zu 14 Jahren verurteilt und nach acht Jahren begnadigt. – Oder Frau L. Sch., zur Tatzeit 33 Jahre alt und Hausfrau. Sie vergiftete zusammen mit ihrem Freund den Ehemann. Sie bekam lebenslänglich, er zehn Jahre. Begründung des Gerichts: Er sei der Frau „hörig“ gewesen. Bei Frau M. schließlich erschlug der 20-jährige Pflegesohn ihren Ehemann mit dem Hammer. Er ertrug die Misshandlungen seiner Pflegemutter durch diesen Mann nicht länger. Das Gericht vermutete in ihr die „Anstifterin“ und Komplizin (was sie bestreitet). Der Sohn bekam sechs Jahre und wurde rasch begnadigt. Sie bekam lebenslänglich.
Bei Verbrechen sind Frauen vor allem Opfer, nicht Handelnde. So ist in der BRD das Risiko einer Frau, von ihrem Mann umgebracht zu werden, zehnmal so groß wie das Risiko eines Mannes, von seiner Frau umgebracht zu werden. Auch vor Gericht ist das Risiko der Frauen größer. Die Mörderin bekommt fast immer lebenslänglich oder zehn, fünfzehn Jahre, der Mörder nicht selten einen Freispruch oder ein paar Jahre zur Bewährung. Bei Gattenmord werden von den weiblichen Tätern doppelt so viele zu lebenslänglich verurteilt wie bei den männlichen Tätern.
Irgendwo tief im Orient, da können Männer ihre Frauen einfach umbringen – so lesen wir mit Schaudern. Doch wären wir gewohnt, Gewohntes nicht hinzunehmen, so würden uns auch die kleinen Meldungen aus Berlin Spandau oder Köln-Nippes alarmieren. Denn in der Bundesrepublik der 70er Jahre herrschen wahrhaft orientalische Sitten. Seine Frau töten ist auch hierzulande für einen Mann unter Männern oft nicht mehr als ein Kavaliersdelikt. Und vor Gericht sind Männer quasi unter sich. Ungestraft oder milde getadelt können Männer Frauen töten, Hauptsache, es handelt sich um eine „schlechte“ Frau: um eine „Schlampe“, die ihn in seiner „Männerehre“ gekränkt hat.
Beweise dafür? Es gibt kaum Untersuchungen darüber, keine Statistiken und keine Zahlen. Hier nur drei Beispiele von vielen möglichen:
Im November 76 milderte der Bundesgerichtshof das Urteil gegen den 38-jährigen Schlosser Klaus Dunger von acht auf dreieinhalb Jahre. Herr Dunger hatte eine Prostituierte, Frau Kunzmann, deren Zuhälter er war, erschlagen. Das Gericht hielt dem Angeklagten zu Gute, dass Frau Kunzmann ihn „schwer gekränkt“, nämlich „dreckiger Zuhälter“ und „Versager im Bett“ genannt habe. Klaus Dunger erstach das Opfer, weil er das „Gekeife und Gezeter nicht mehr hören konnte“. Richter Haller führte in der Begründung für das milde Urteil die scheinbare Rollen-Umkehrung des Paares an: „Während üblicherweise der Zuhälter die Prostituierte beherrscht, war es in diesem Fall umgekehrt.“
Im Oktober 76 steht in Augsburg Karl Muhr, 22, vor Gericht. Er ist angeklagt, die 52-jährige Barbara Hofbauer getötet zu haben. „Er würgt die Frau bis zur Bewusstlosigkeit, dann schlägt er ihr viermal den Wagenheber über den Kopf, schlingt ihr das Abschleppseil um den Hals und schleift sie mit seinem Wagen zu Tode.“ Strafmaß: Fünf Monate, abgegolten durch die Untersuchungshaft ... Begründung: Das Opfer, eine Witwe, habe den Angeklagten nach einem gemeinsam verbrachten Abend verführen wollen. Er aber habe nicht gewollt. „Da hat sie mich einen Schlappschwanz geheißen und mich wüst beschimpft.“ Außerdem habe sie ihn wegen seiner Hasenscharte verlacht. Kommentar des Richters: „Das Opfer ist schuld, nicht der Mörder.“
Im Mai 76 steht in Berlin der 49-jährige X. vor dem Richter. Er hatte seine 50-jährige Ehefrau mit Messerstichen schwer verletzt. Das Schwurgericht hielt ihm zu Gute, dass er betrunken und „durch eine schwere Beleidigung gereizt worden“ sei. Es handele sich um eine Entgleisung eines sonst „unaggressiven Menschen“. Der Angeklagte wurde zu 18 Monaten mit Bewährung verurteilt.
Das Honka-Urteil schließlich sowie auch das Urteil der Medien ist einer der Höhepunkte der Männer-Kumpanei quer durch die Presse-, Richter- und Angeklagten-Bänke. Denn so wünschenswert es auch ist, dass auch in solchen Fällen nicht Kopf-ab! ertönt, sondern selbst dann noch die Frage nach dem Warum gestellt wird, so schockierend sind solche Urteile. Sie kommen einem Freibrief für Frauenmord gleich.
Zweifel an der männlichen Potenz oder gar Verweigerung – das kann für Frauen leicht tödlich enden. Die sogenannte „Mannesehre“, die ist das höchste Gut! Nennt sie ihn „Schlappschwanz“, will sie nicht, ist gar eine „Schlampe“ und führt nicht ordentlich den Haushalt – ja, dann hat sie eben eine Lektion verdient. Endet die tödlich – Pech für sie.
Schimpft aber er sie „Hure“, so hat er damit nicht etwa die „Frauenehre“ verletzt – die gibt es gar nicht –, sondern einen Beweis für ihre Minderwertigkeit geliefert (Honka-Urteil: „mehr oder minder verbrauchte, ältere Prostituierte“). Eine Hure darf man(n) schon mal umbringen ... Und wenn die ihn auch noch „Zuhälter“ genannt hat, wie im Fall Kunzmann, dann ist das – auch wenn’s stimmt – ein Grund mehr.
Die ganze Gewalt von Männern gegen Frauen ist ja etwas Banales, Alltägliches. Er kann sie jeden Tag schlagen, kann drohen, sie umzubringen, und niemand wird sich darüber empören. Und wenn er sie dann eines Tages aus „Versehen“ totschlägt, ja, dann ist das eben nicht mehr als ein Ausrutscher: Er ist ein wenig zu weit gegangen.
Richtet sich aber Frauengewalt gegen Männer, so ist das etwas Unerhörtes:
1974 werden in Itzehoe Marion Ihns und Judy Andersen verurteilt. Sie ließen den Ehemann Marions durch einen gedingten Mörder umbringen. Strafmaß: lebenslänglich für beide. Ihr Leben, ihre Motive und die Umstände wurden bei dieser Höchststrafe nicht berücksichtigt. Judy war bereits mit vier Jahren zum ersten Mal vergewaltigt worden. Marion mit neun. Ihre Mutter, eine Näherin, musste für sie und ihre vier Geschwister „anschaffen“ gehen. Die eheliche Vergewaltigung war für Marion alltäglich (Bild über Herrn Ihns: „... auch seine häufigen Trinkereien werden plötzlich verständlich. Er musste sich einen Rausch antrinken, um sich mit Gewalt holen zu können, was ihm ‚von Rechts wegen‘ zustand.“)
Kaum war die Rede von dem leidvollen Frauenleben der Angeklagten, von ihren Demütigungen und Abhängigkeiten, viel dafür von ihrer Liebesbeziehung zueinander, in die sie sich geflüchtet hatten. Und das war es auch, was letztlich den Ausschlag für die Verurteilung gab. Juristisch wie moralisch. Bild: „Wenn Frauen Frauen lieben, kommt es oft zum Verbrechen.“ Und Mauz im Spiegel – der bei Männern gerne und zu Recht die Frage nach Psyche und Sozialem stellt – argumentierte bei den beiden Frauen platt biologistisch. Er verstieg sich dazu, von der „konstitutionellen Veranlagung“ der Lesbierin zu Judy Andersen zu sprechen! Vor Gericht standen weniger zwei Mörderinnen und mehr zwei Lesbierinnen. Hier war die Tat Vorwand zur moralischen und juristischen Verurteilung.
Wenn Frauen verurteilt werden, werden sie immer auch für ihren Lebenswandel verurteilt. Eines der berühmtesten und traurigsten Beispiele dafür ist der Prozess gegen Vera Brühne, der ein wahrer „Hexenprozess“ war. Pressezitat: „Sie ist ihrem Wesen nach das, was sie einmal in einem Faschingskostüm darstellte – die Frau im Tigerfell. Darunter ist ihre Haut, eine glatte, seidige Frauenhaut, die schon manchen Mann lockte und belohnte. Aber unter diese Haut selbst geht nichts.“
Wenn Frauen verurteilt werden, fallen Begriffe wie „triebhaft“, „sexgierig“, „provozierend“, „gefühllos“ und – „respektlos“ (vor dem Mann). Und wie auch immer die Angeklagte es wendet, es steht schlecht um sie. Ist sie hilflos, schüchtern und sagt nicht viel, begreift das Gericht überhaupt nichts, und sie kriegt gleich die Höchststrafe. Ist sie sicher und gesprächig, irritiert ihr „unweibliches“ Selbstbewusstsein das hohe Haus. (…)
Gesetzt den Fall, ich würde nach Patentrezepten zum Gattenmord gefragt – ich wäre um Antworten nicht verlegen. Allerdings sähe mein Ratschlag sehr unterschiedlich aus, je nach Geschlecht des Fragers.
Was würde ich einem Mann raten? In der Wirtschaft mit Stammtischbrüdern einen über den Durst trinken. Dabei laut und vernehmlich über das hysterische Weibsbild zu Hause klagen. Dem Richter klarmachen, dass sie beim Nachhausekommen gekeift hat – wie immer. Im Bett lief übrigens schon lange nichts mehr. Sie zierte sich. Auf seine Annäherungsversuche reagierte sie abweisend, ja verletzend. Da sah er plötzlich rot. Er weiß nicht mehr, wie es über ihn kam. Sie hat ihn in seiner Männerehre gekränkt. Er warf sie zu Boden, würgte sie und schlug ihr dann noch wie besinnungslos mit der Bierflasche auf den Kopf. Kein Richterherz, das sich da nicht vor Mitgefühl krampft ... Denn wo wollten wir hinkommen, wenn auch Richter-Gattinnen so renitent würden? Das Psychologen-Gutachten endlich wird die Herren Geschworenen (und auch manche Dame) davon überzeugen, dass sich der Angeklagte aufgrund der „dauernden Kränkungen“ in einem Ausnahmezustand befand. War die Frau auch noch Alkoholikerin (wobei nach dem Grund ihres Trinkens niemand fragt) oder sogar ein paar Jahre älter als er – ja dann kann er seiner maximal drei Jährchen mit Bewährung sicher sein. Von „niederen Beweggründen“, „Heimtücke“ oder gar „sexuellen Motiven“ (alles Kriterien für die strafverschärfende Definition als „Mord“ statt „Totschlag“) kann unter solchen Umständen ja nicht die Rede sein. Oder?
Und einer Frau, was würde ich der raten? Schon schwieriger. Sie darf ihn auf gar keinen Fall gewalttätig umbringen, zum Beispiel mit dem Beil („unweibliche Brutalität“). Sie darf ihn aber auch nicht gewaltlos töten, zum Beispiel mit E 605 im Kaffee („weibliche Heimtücke“). Sie muss auch nicht glauben, sie dürfe sich wehren, nur weil er ihre Ehre verletzt, sie „Hure“ oder „Schlampe“ genannt hat! Auch nicht, wenn er sie vergewaltigt oder halbtot schlägt. Ganz schlecht ist, wenn sie einen lockeren Lebenswandel hat oder auch nur so aussieht, als würde sie einen haben können. Sehr negativ könnten sich auch gereizte Bemerkungen über die Kinder auswirken. Daraus kann geschlossen werden, die Angeklagte sei eine „schlechte Mutter“, ergo ein Unmensch, ergo aller Untaten fähig. Ganz fatal schließlich wäre ein auffällig gewordenes Interesse für die Emanzipation oder gar sogenannte Männerfeindlichkeit ...
Auch die juristische Fachliteratur beweist den tief verankerten Sexismus für die systematische Diskriminierung des weiblichen Geschlechts. Sie ist voll Männerklischees über Frauen. So schreibt zum Beispiel Landgerichtsrat Ameluxen in der „Kriminalstatistik Hamburg“: „Die Frau ist im Gegensatz zum Mann fähig, durch bloße seelische Erregung in einer Abenteuersituation lustbetonte Affekte, ja sogar Orgasmen zu erleben.“ Und warnt: „Wenn eine an sich gut veranlagte Frau einmal moralisch verdorben ist, so greift ihre Verwahrlosung tiefer und führt zu schlimmeren Konsequenzen als beim Mann in der gleichen Lage, denn nicht nur im Guten, auch im Bösen lässt sich die Frau mehr vom Instinkt leiten als der Mann.“ Und erstmal der weibliche Sexualtrieb: „Der starke sexuelle Hintergrund der Frauenkriminalität zeigt sich sogar beim Diebstahl, der beim Mann ein reines Not- und Nutzdelikt ist ... Der beherrschende Einfluss der Schwangerschaft und des Klimakteriums auf die Diebstahlkriminalität ist heute in der Gerichtsmedizin unbestritten“ (Ameluxen).
Auch der Amerikaner Pollak zum Beispiel argumentiert in seinem Buch „The Criminality of Women“ (Frauenkriminalität), Betrügereien und Täuschungsmanöver seien für Frauen nichts Ungewöhnliches, da sie es in der „sexuellen Sphäre“ ja gewöhnt seien, alle vier Wochen ihre Menstruation zu verheimlichen ...
Nur jeder zwölfte Mörder ist weiblich. Und nur jeder sechste Straffällige (17,5 %) war 1975 eine Frau. Jedoch jeder zweite bis dritte leichte Diebstahl (meist Ladendiebstähle) geht auf ein Frauenkonto.
Nichts spricht für eine angeborene Friedlichkeit oder Gutheit von Frauen (so wenig wie Schwarze von Natur aus tumbe Onkel Toms sind und Juden raffgierige Rotschilds). Viel spricht allerdings für das unter den heutigen Umständen bessere Verhältnis von Frauen zum Leben und ein sozialeres Verhalten. Aber noch hat sich in der BRD die weibliche Kriminalität so wenig fundamental geändert wie das weibliche Leben.
Einige der ganz wenigen Untersuchungen von Frauenkriminalität, die nicht in der Blindheit des Vorurteils und Klischees stecken blieben, sind die Arbeiten von Dr. Helga Einsele und Prof. Elisabeth Trube-Becker. Beide haben eine jahrzehntelange Erfahrung in der Praxis: die eine als Gefängnis-Leiterin in Preungesheim, die andere als Gerichtsmedizinerin in Düsseldorf. Prof. Trube-Becker hat 1971 die Schicksale aller damals 84 lebenslänglich in der Strafanstalt Anrath einsitzenden Frauen untersucht. In ihrem Buch „Frauen als Mörder“ kam sie zu bemerkenswerten Resultaten: Ehefrauen morden mehr als Ledige. In neun von zehn Fällen sind die eigenen Männer und Kinder die Opfer. Jede siebte Mörderin war schwanger und jede siebte war unehelich (BRD-Durchschnitt jede 25.). Zwei von drei waren in einer „Mussehe“ verheiratet. (Die meisten hatten keinen gelernten Beruf.) Männer morden in Ausnahmesituationen, Frauen aber in „normalen“ Situationen. Das heißt, nicht die Ausnahme treibt die Frauen zur Verzweiflung, sondern die Regel, ihr ganz „normales“ Leben.
Die Lebensläufe der Frauen, die Trube-Becker skizzierte, sprechen für sich. Das Ausmaß des Elends und der wirtschaftlichen und seelischen Abhängigkeit ist erdrückend. Besonders erschütternd scheint mir die Aussage vieler Frauen, sie fänden es „im Gefängnis besser, als sie gedacht hätten“. – Es ist eben immer alles relativ und im Vergleich zum Ehegefängnis scheint das Staatsgefängnis immer noch erträglich.
Manche der Frauen sitzen seit über 20 Jahren in Anrath, die längste seit 28 Jahren. Dazu muss man wissen, dass die Dauer der Strafe bei lebenslänglich absolut willkürlich ist, das heißt, von der Gnade des jeweiligen Ministerpräsidenten eines Bundeslandes abhängig. Und die Anrather Frauen haben das Pech, einen ungnädigen Ministerpräsidenten zu haben. Während in Hamburg zum Beispiel alle Lebenslänglichen (Frauen wie Männer) automatisch nach 15 Jahren begnadigt werden, sitzen sie in Nordrhein-Westfalen am längsten. Ministerpräsident Kühn, Sozialdemokrat und Ex-Emigrant, macht von seinem Recht, Gnadengesuche ohne Begründung abzulehnen, bei Frauen ausgiebigst Gebrauch.
Frauen sind häufig gezwungen, einen Mord „listiger“ zu planen als ein Mann – und schon kann rein juristisch vom „Totschlag im Affekt“ nicht mehr die Rede sein. Die Tat kann leichter als Mord interpretiert werden, und für „Mord“ sieht das deutsche Gesetz zwingend lebenslänglich vor. Der Mordparagraph ist generell ein fragwürdiges und umstrittenes Gesetz. Doch für Frauen wirkt er sich noch tragischer aus als für Männer, denn er ist in den Händen einer Männerjustiz. Und in den Augen dieser Männerjustiz haben Frauen nicht aus der Rolle zu fallen.
Aber: Es tut sich etwas. „Die Frauen wehren sich mehr als früher“, stellt Gerichtsmedizinerin Trube-Becker fest. „Sie lassen sich weniger prügeln von ihren Männern. Früher war es üblich, dass zusammengezuckt wurde, die ganze Familie in eine Ecke flüchtete und wartete, bis Vaters Zorn vorbei war. Neuerdings wehren sie sich. Und nicht nur deutsche Frauen, sogar Gastarbeiterinnen, sogar Türkinnen und Italienerinnen schlagen zurück.“
Der Artikel erschien in der ersten Ausgabe von EMMA 1977.
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