Die vaterlosen Töchter

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In der jungen Bundesrepublik ging der Wiederaufbau rasch voran. Konrad Adenauers altväterliche Ermutigungsreden und Ludwig Ehrhards, des wohlgenährten, stets Zigarre paffenden Vaters der sozialen Marktwirtschaft optimistische Parolen propagierten einen Wiederaufbau und wirtschaft­lichen Aufschwung, dessen Früchte schon bald sichtbar wurden: Binnen weniger Jahre wurde die Bundesrepublik zu einer führenden Wirtschaftsmacht in Europa. „Das ist das Wirtschaftwunder“ sang Wolfgang Neuss mit unverhohlen sarkastischem Unterton.

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Denn die Kehrseite der Aufbruchstimmung und Zukunftseuphorie war eine ­kollektive gigantische Verdrängungsarbeit. Obwohl Kriegsversehrte, Flüchtlinge und Vertriebene, ehemalige KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter in großer Zahl unter den Deutschen lebten, war von individuellen Schicksalen und persönlichen Erschütterungen, geschweige denn von seelischen Verletzungen und mentalen Verwerfungen, die der Krieg und die zwölfjährige Nazidiktatur bei den Menschen hinterlassen hatten, kaum die Rede. Die Schuldfrage war obsolet, die Millionen Opfer waren kein Thema. Stattdessen wurden die Täter wieder in Amt und Würden gesetzt, die Männer des 20. Juli und Widerstandskämpfer jeglicher Couleur dagegen als Vaterlandsverräter ­diffamiert.

Ein Mädchen hatte vor allem artig, ordentlich und unauffällig zu sein

Gedächtnislosigkeit, Dumpfheit und Ignoranz kennzeichnen die fünfziger Jahre. Alexander und Margarete Mitscherlich sprachen in ihrer epochalen Gesellschaftsstudie über die Bundesrepublik der fünfziger Jahre, „Die Unfähigkeit zu trauern“, von Entwirklichung  der Gesellschaft, und einem psychischen Immobilismus, der normalerweise in die Melancholie führe. Um handlungsfähig zu bleiben und die drohenden Schuld- und Angstgefühle abzuwehren, mussten die Menschen alle affektiven Brücken zur unmittelbar hinter ihnen liegenden Vergangenheit abbrechen.

In Bezug auf Werte, Moralvorstellungen und Konventionen schloss man an die dreißiger Jahre an. Das betraf auch und in ­besonderem Maße die Rolle der Frauen in der Gesellschaft und die Erziehung der Mädchen. Die Mädchenerziehung war ­geprägt von „Tugenden“ wie Anpassung und Fleiß, Sauberkeit und Sittsamkeit, Wohlerzogenheit und Pflichtbewusstsein. Ein Mädchen hatte vor allem artig, ordentlich und unauffällig zu sein. „Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein, und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein“, schrieben die Mädchen sich gegenseitig ins Poesiealbum.

Die ungebrochene Vormachtstellung des Mannes und Vaters war auch oder vielleicht sogar besonders in den Familien virulent, in denen der Vater „im Krieg geblieben“ war. Ende der 1940er Jahre wuchs etwa jedes fünfte Kind vaterlos auf. Laut Statistik des Bundesarchivs gab es in Deutschland über 1,5 Millionen Kinder, deren Väter gefallen, vermisst oder in Gefangenschaft gestorben waren, also über 750.000 vaterlose Töchter. In vielen Fällen war der abwesende Vater jedoch trotzdem präsent. Sein Bild stand an einem zentralen Platz in der Wohnung, wie eine Reliquie, mit oder ohne Trauerflor, und „es verging kaum ein Tag, an dem die Mutter nicht von ihm sprach“. Das sagten die Frauen, die ich zu ihrer vaterlosen Kindheit im Nachkriegsdeutschland befragte. Dabei wurde ihnen der Vater nicht wirklich näher gebracht.

Ende der 1940er Jahre wuchs etwa jedes fünfte Kind vaterlos auf

Denn einerseits war die Beziehung der Eltern oft noch viel zu kurz gewesen, als dass die Mütter ihren Töchtern viel von ihrem Vater hätten erzählen können; andererseits wurde das Bild des Ehemannes und Vaters, der ja „auf dem Felde der Ehre“ ­gefallen war, von Jahr zu Jahr mehr idealisiert, geradezu idolisiert. Er blieb für alle Zeit der starke junge Mann auf dem Foto und wurde so im Laufe der Jahre zu einer Projektionsfläche für unerfüllte Wünsche und übersteigerte Phantasmagorien der verwitweten Mütter. Kaum eine heiratete noch einmal, was nicht nur mit dem Männermangel der Nachkriegszeit zu erklären ist. Der gefallene oder vermisste Vater wurde zu einem Phantom, zu einer Chimäre, die Erinnerung an ihn zu einer Floskel, einer Leerstelle, die zu füllen irreale Sehnsuchtsbilder herhalten mussten. Er war, so Paula, „viel stärker gewesen, als ein anwesender je sein kann“.

Manche Töchter suchten sich im Freundes- oder Bekanntenkreis einen Ersatzvater, der jedoch nicht den leiblichen Vater ersetzen konnte, der ihre Phantasie beherrschte. Auch das eine Form der Entwirklichung, die noch dadurch unterstützt wurde, dass der abwesende Vater auch von den unter ihren vielen Pflichten leidenden Müttern oftmals als Erziehungshilfe herbeizitiert wurde. Wenn andere Mittel versagt hatten, hieß es: „Wenn das euer Vati wüsste …“

Angela erinnert sich, diesen Satz häufig von ihrer Mutter gehört zu haben, die mit der Erziehung und der materiellen Sorge um das leibliche Wohl ihrer vier Kinder total überfordert war. Auch die „Gedenkminute für Vati“, die zu jedem Jahreswechsel um Mitternacht Pflicht war, bevor fröhlich Silvester gefeiert werden durfte – der Geburtstag ihres Vaters fiel auf den 1. Januar –, wagten die vier Geschwister, denen dieses Ritual mit zunehmendem Alter immer absonder­licher erschien, der Mutter nicht auszureden.

Angela fand in ihrer späteren Schwiegermutter die Vertrauensperson, von der sie die Hilfe und Unterstützung erfuhr, die ihr die eigene Mutter nicht hatte geben können. Sie half ihr auch, die Selbstzweifel zu überwinden und die Selbstsicherheit zu entwickeln, die notwendig war, um ihren Weg als Lehrerin kontinuierlich zu verfolgen. Die Einsicht in die Überforderung der Mutter, die unter der Doppelbelastung litt, nicht nur treu sorgende und wenn möglich zärtliche Mutter sein, sondern als kontrollierende und strafende Instanz auch die ­väterliche Rolle übernehmen zu müssen, forderte den vaterlosen Töchtern ein großes Maß an Rücksichtnahme ab, bis hin zur Verantwortung für die Mutter. Geschwisterkinder konnten die Verantwortung und Sorge um die Mutter gemeinsam tragen, für Einzelkinder wurde sie zu einer Bürde, von der sie sich nur schwer und oft erst in ­späteren Jahren befreien konnten.

Du musst immer lieb zu deiner Mutti sein

„Du musst immer lieb zu deiner Mutti sein“, bekam Hildegard von Freundinnen der Mutter oft zu hören, und es klang wie der leibhaftige Vorwurf und blieb eine der wesentlichen Komponenten ihres Verhältnisses zur Mutter. Während sich die eine bis ins hohe Alter über die Unfreundlichkeit und das Desinteresse der Tochter beschwerte, litt die andere unter dem Mangel an mütterlicher Zuwendung. Unter dem für die Zeit symptomatischen Mangel an elterlicher Zuwendung und Zärtlichkeit – „für Zärtlichkeiten war nicht die Zeit“ – litten die vaterlosen Töchter in besonderer Weise. Ihnen wurden von ihren Müttern wenig kindgemäße Rollen zugewiesen. Sie hatten Freundin, Vertraute und guter Kumpel zu sein und gleichzeitig die Autorität der Mutter unangefochten anzuerkennen. Eine verzwackte, oft auch symbiotische Situation, die von vielen Töchtern als unangemessene Vereinnahmung und Unterdrückung empfunden wurde, und als ein Circulus vitiosus, aus dem auszuscheren oft erst spät und nach jahrelangen Aus­ein­an­dersetzungen mit der Mutter gelang.

Victoria litt noch als Erwachsene unter den Schuldgefühlen, die die mütterlichen Klagen in ihr auslösten und die schließlich in Hass umschlugen. Lange hatte sie als Kind auf die Rückkehr des Vaters gehofft, und sie erinnert sich, dass sie die Rotkreuzsuchanzeigen, die in den fünfziger Jahren jeden Nachmittag im Radio verlesen wurden, akribisch abhörte und zum Bahnhof lief, wenn ein Zug mit Heimkehrern angekündigt worden war. Und gleich nach dem Fall der Mauer begab sie sich auf die Spuren des Vaters in den Masuren und versuchte, den Ort ausfindig zu machen, wo er gefallen sein könnte. Vergeblich.

Schlüsselkinder waren in den fünfziger Jahren keine Seltenheit. So wurden die ­Kinder genannt, die nach der Schule in die verwaiste Wohnung kamen, ihr Mittagessen aufzuwärmen hatten und bis zum Abend sich selbst überlassen waren. Für manche Mädchen, vor allem für die, die ihre Kindheit auf dem Land verbrachten, war der Freiraum eines dörflichen Wildwuchs-­Kinderlebens, das unkontrollierte und ­unbe­obachtete Herumstreunen in der Natur, eine Bereicherung.

Für Zärtlichkeiten war nicht die Zeit

Gerade dieses Sich-selbst-Überlassen-Sein, das ihre Selbstständigkeit und Abenteuerlust in frühen Jahren förderte, habe auch auf ihr späteres Leben positive Auswirkungen ­gehabt, findet Ulrike: „Das hab ich sehr ­genossen, weil die Erwachsenen gar keine Übersicht hatten.“ Sie erinnert sich an viele Feste im Kreis der Verwandten und Freunde. Während die Erwachsenen miteinander plauderten, tobte sie mit ihren Cousins und Cousinen durch die Wildnis. „Das finde ich gut an meiner Kindheit.“ Auch dass sie mit ihren beiden Brüdern gelegentlich nachts auf Jagd ging, wobei sie dann und wann einen Sonntagsbraten schossen, was von der Mutter augenzwinkernd gebilligt wurde. „Wir machten, was wir wollten. Mutter war überfordert. Dass wir nicht kriminell ­geworden sind, hängt damit zusammen, dass wir ein gutes Verhältnis zu unserer Mutter hatten und sie nicht noch zusätzlich belasten wollten.“

Oft waren es die Großeltern, die die Mädchen vor dem Schlüsselkinddasein und dem Gefühl bewahrten, verlassen, vernachlässigt oder verwahrlost zu sein. Die desolate Wohnungssituation – mehr als die Hälfte der Familien waren ausgebombt – führte dazu, dass häufig drei Generationen in einer Wohnung zusammenwohnten. Die Großmutter war für das leibliche und seelische Wohl der Familie zuständig und vermittelte den vaterlosen Töchtern zumindest partiell jenes Gefühl von Geborgenheit, Wärme und Zuwendung, das sie bei ihren Müttern vermissten. „Großmutter, Mutter und Kind in dumpfer Stube beisammen sind“, heißt es in einer Ballade von Gustav Schwab, die zum Literaturkanon in den Schullese­büchern jener Zeit gehörte.

Die Großmutter wurde als Schutz- und Trutzburg gegen die Außenwelt empfunden und war für die kleinen Alltagsprobleme zuständig. Sie habe die „süßeste Oma“ gehabt, erinnert sich die eine, und eine ­andere schwärmt von ihrer „Kuscheloma“, bei der es immer frisches Gemüse aus dem eigenen Garten und köstliche, selbst ­gekochte Marmelade gab. Die Großväter dagegen fühlten sich als einziger Mann im Haushalt oft als Hahn im Korbe und gefielen sich in der Rolle des sanftmütigen ­Patriarchen, manchmal aber auch des ­auto­ritären Despoten, was für die Töchter in Verbindung mit dem abwesenden Vater zu einer doppelten Last wurde.

Wir machten, was wir wollten. Mutter war überfordert

Ein eher schwieriges Verhältnis zu Männern und eine Verunsicherung, die auf einer vermeintlichen Unkenntnis und mangelnden Einsicht in die männliche Psyche beruhe, die das Mädchen im Normalfall im frühen Kindesalter unbewusst durch den Umgang mit dem Vater kennenlerne, gehört wohl zu den nachdrücklichsten Auswirkungen des vaterlosen Töchterdaseins. Noch heute, ­gesteht Maja, überkomme sie eine Rührung und „Sehnsucht nach etwas, was ich nie ­erlebt habe“, wenn sie ein kleines Kind auf dem Schoss seines Vaters sitzen und mit ihm Schabernack treiben sieht; eine Sehnsucht, die ihr die Schutzlosigkeit wieder vor Augen führe, die sie ihr Leben lang gespürt habe.

Unsicherheit und vermeintliche Beziehungsunfähigkeit hat manch eine Frau ­dieser Generation davon abgehalten, zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen. Oder es kam zu frühen, manchmal unüberlegten Ehen, die nicht zuletzt aus dem Wunsch heraus entstanden, sich durch eine Heirat und eigene Kinder aus den Zwängen der dominanten Mutter zu ­be­freien. Weiche, sensible Männer mit weiblichen Anteilen wurden von den ­vaterlosen Töchtern den starken, dominierenden, autoritären Männern vorgezogen. Eine Befragte gestand ihre „Angst vor Machomännern“, eine andere suchte sich Männer, die ihr geistig unterlegen waren, um auf diese Weise ihre Dominanz zu behalten.

Die Spannung zwischen der früh erfahrenen Freiheit, dem Sich-selbst-Über­lassen­sein bei gleichzeitiger Abhängigkeit und Anpassung an die mütterlichen Vorstellungen hat sich vor allem in den beruflichen Biografien der Frauen niedergeschlagen. Obwohl sich die Töchter aufgrund der wirtschaftlichen Lage und der häuslichen Verhältnisse in der Berufswahl zunächst dem Wunsch der Mutter beugen und „erst mal was Vernünftiges“ werden mussten, gelang es ihnen im zweiten Anlauf umso zielstrebiger, den eigenen Berufswunsch zu verwirklichen und die dafür notwendigen Kräfte zu entwickeln. Das Beispiel der Mütter, die stark sein mussten und so demonstrierten, zu was Frauen in schwierigen Situationen fähig sind, dürfte dabei keine unwesentliche Rolle gespielt haben.

Die Großmutter wurde als Schutz- und Trutzburg gegen die Außenwelt empfunden

Auch wenn sie darüber weniger sprachen, sich stattdessen viel mehr über die erfahrenen Schmerzen und Blessuren ­äußerten – alle Frauen, die ich interviewte, vertraten auf augenfällige Weise eine ­Generation freier, eigenständiger, unabhängiger Frauen, die sich durchgebissen und ihren Weg gefunden haben. Sie blicken heute, nach dem Ende ihres Berufslebens, auf ein zwar nicht leichtes, aber im Großen und Ganzen reiches, erfülltes Leben zurück. Denn sie haben im Laufe ihres Lebens Phantasie und Tatendrang, Unternehmungslust und Wi­derstandskraft entwickelt, um ihre Ziele zu verteidigen und sich mit Männern auf gleicher Augenhöhe ausein­an­derzusetzen. Auch Abenteuerlust und Lebensmut, die in ihnen früh geweckt wurden, spiegeln sich in ihren Lebensläufen wider. Ihre Kinder, die nicht autoritär, sondern pragmatisch erzogen wurden, haben zu ihren Müttern bis auf den heutigen Tag ein vertrauens- und ­liebevolles Verhältnis.

Es dürfte auch kein Zufall sein, dass diese vaterlosen Töchter zu eben jener ­Generation von Frauen gehören, die im Zusammenhang mit dem Aufbruch der 68er-Generation die Frauenbewegung maßgeblich beeinflusst haben. Denn sie wuchsen nicht nur ohne patriarchale ­Dominanz, sondern auch mit dem Beispiel von Müttern auf, die Mutter und Vater zugleich sein mussten. Ein Satz fiel häufig in den Gesprächen, aus dem trotz aller Kämpfe, die viele der vaterlosen Töchter mit ihren Müttern auszufechten hatten, auch Dankbarkeit und Achtung zum ­Ausdruck kommen: „Das habe ich von meiner Mutter gelernt, sonst hätte ich das alles gar nicht durchgestanden.“

Zum Weiterlesen: Cornelia Staudacher: „Vaterlose Töchter. Kriegskinder zwischen Freiheit und Anpassung.“ (Arche)

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