„Das war meine zweite Geburt!"

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In Ravensbrück hatten Frauen, die dort gefangen waren, und zwar kommunistische Frauen, ein Radio in der Decke versteckt. Die wussten ganz gut Bescheid, wo die Russen stehen. Und was sich überhaupt da tut, außerhalb des Lagers. Dann haben sie uns so Ende April gesagt, wir sollen uns unter unserer Häftlingskleidung Zivilkleidung organisieren. Das konnte man damals. Man konnte in den Effektenkammern irgendetwas kaufen. Also ich hab’ mir zum Beispiel mal einen Pullover gekauft, weil mir immer so furchtbar kalt war. Und habe dafür fünf Tage nichts gegessen, weil das kostete fünf Tagesrationen von Brot, ja.

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Also man konnte sich das organisieren. Das haben wir dann auch getan, und haben uns unter dieser Häftlingskleidung dann Zivilkleidung angezogen, weil wir gehört haben, dass wir jetzt aus Ravensbrück raus müssen, denn die Russen stehen schon fast vor der Tür. Und dann sind wir auf den so genannten Todesmarsch gegangen. Das heißt, wir mussten in Siebenerreihen in einer Kolonne gehen. Das hat sich alles irgendwie abgespielt in der Nähe von Mecklenburg. Und wir sind gelaufen, kilometerweit. Und man muss sich vorstellen, dass wir nicht die Stärksten waren. Wir hatten ja wenig zu essen und waren ziemlich schwach. Und diesen Marsch da auch noch zu machen, das war für uns wirklich ‘ne ganz schwierige Angelegenheit.

Auf der linken Seite sind die Russen, auf der rechten Amerikaner.

Wenn irgendwelche Frauen hingefallen sind und nicht mehr so schnell aufstehen konnten, dann hat man sie gnadenlos erschossen. Und das war wirklich für uns eine Katastrophe, denn wir mussten dann über diese toten Menschen rüber steigen. Und die sind dann einfach auf der Straße liegen geblieben. Und jedes Mal haben wir gedacht: Oh Gott, wenn wir mal hinfallen, dann passiert dasselbe mit uns. Es waren Frauen, die zum Teil schon vielleicht drei oder vier Jahre gefangen waren und alles Mögliche durchgestanden haben. Und dann, dann wurden sie auf diesem Todesmarsch erschossen. 

Da haben wir uns gesagt: „So, jetzt ist unsere Zeit gekommen! Jetzt müssen wir versuchen, diese Kolonne zu verlassen!“ Denn wir wussten ja auch überhaupt gar nicht: Wo bringen die uns hin? Ich glaube, die SS hat selbst nicht gewusst, wohin sie uns bringen, die waren ja so ratlos. Wir hatten abgemacht, dass einer nach dem anderen, wenn wir in einen Wald kommen, sich hinter irgendwelchen Bäumen versteckt, so dass die SS es nicht merkt. Und das haben wir dann getan. Einer nach dem anderen ist weggelaufen und in einen Wald. Als wir in den Wald kamen, haben wir uns dann hinter Bäumen versteckt. Wir waren sieben Mädchen und haben gewartet, bis die Kolonne vorbeimarschiert ist, bis man sie nicht mehr gesehen hat, und dann sind wir alleine weiter gezogen.

Sie haben uns umarmt und gesagt: „Wir helfen euch, wir helfen euch weiter!"

Das war nicht einfach. Wir haben dann natürlich unsere Sträflingskleidung ausgezogen, wir hatten ja die Zivilkleidung da drunter. Wir wollten auf keinen Fall, dass irgendwelche deutsche Menschen sehen, das sind Gefangene. Wir hatten ja auch kein Vertrauen zu den Menschen und haben gedacht: Mein Gott, wenn die wissen, dass wir aus dem KZ kommen, dann schicken die uns wieder zu der Kolonne zurück.

Wir wussten nicht wohin, aber wir sind einfach gegangen und kamen dann auf eine Landstraße und haben gesehen, dass da ganz viele Flüchtlinge waren. Das waren Flüchtlinge, die von Berlin aus kamen, die sind wahrscheinlich vor den Russen geflüchtet. Und dann sind wir mit denen ein Stück gegangen, haben uns aber getrennt von ihnen, weil wir zu einem deutschen Bauer rein gegangen sind. Wir haben ihn gebeten, dass wir dort übernachten können, in der Scheune. Der Bauer war sehr nett, der hat uns in der Scheune übernachten lassen und hat uns sogar einen ganzen Eimer voll mit Pellkartoffeln geschenkt. Die haben wir natürlich schnell aufgefuttert, weil wir unheimlich hungrig waren.

Am nächsten Morgen stand der Bauer auf seinem Hof und sagte zu uns: „So, ihr könnt euch jetzt aussuchen, wohin ihr gehen wollt. Auf der linken Seite sind die Russen, auf der rechten Seite sind die Amerikaner.“ Wir haben nicht gewusst: Was sollen wir eigentlich jetzt machen, wo sollen wir hingehen? Aber dann wurde uns diese Entscheidung abgenommen, weil wir in der Ferne amerikanische Panzer gesehen haben. Und da haben wir uns dann verabschiedet von dem Bauern und uns bedankt und sind dort hingelaufen. Die haben uns hochgehievt auf den Tank, und wir haben ihnen gleich unsere Nummer auf dem Arm gezeigt. Das war die Nummer, die uns eingebrannt wurde in Auschwitz. Und dann haben die uns umarmt und gesagt: „Wir helfen euch, wir helfen euch weiter.“ Sie sind zurück gefahren, sie haben also gedreht, in das ­kleine Städtchen Lübsch.

Die amerikanischen und russischen Soldaten haben sich umarmt und geküsst.

Und dann mussten wir erzählen. Und da ich sehr gut Englisch sprechen konnte, habe ich ihnen alles Mögliche erzählt von Auschwitz. Zum Beispiel habe ich ihm erzählt, dass ich in Auschwitz im Mädchenorchester war und ich Akkordeon gespielt habe – und so wahrscheinlich mein Leben gerettet wurde. 

Dann hat es vielleicht ‘ne halbe Stunde gedauert und plötzlich kam ein amerikanischer Soldat und brachte mir ein Akkordeon und sagte zu mir: „So, das schenk ich Dir.“ Ich weiß nicht, woher er das hatte. Aber auf jeden Fall hat er es mir geschenkt. Es war aber sehr schwer, dieses Akkordeon, aber ich hab’s mitgeschleppt ‘ne zeitlang. Wir haben dann gesungen, in diesem Restaurant, und die deutschen Menschen, die dort erst waren, sind alle weggegangen.

Plötzlich, als wir so zusammen saßen, da hörten wir einen furchtbaren Krach auf der Straße und wir haben gesagt: „Mein Gott, was ist das denn?“ Dann sind wir raus und sahen, wie die Rote Armee einmarschiert ist. Und die haben gerufen: „Kapitulation, der Krieg ist aus! Hitler ist tot!“ Wir haben uns natürlich total gefreut darüber. Und die amerikanischen Soldaten und russischen Soldaten, die haben sich umarmt und geküsst, das kann man heute gar nicht mehr glauben. Aber es war so. Die waren so glücklich, dass der Krieg zu Ende war.

Das war am 8. Mai. Dann haben beide, die Russen und die Amerikaner, gesagt: Also, das muss gefeiert werden, auf der Stelle! Neben diesem Hotel, da war der Marktplatz und dann sind wir alle auf diesen Marktplatz gegangen. Ich mit meinem Akkordeon, die Mädchen und auch die russischen und die amerikanischen Soldaten. Und ein russischer Soldat und ein amerikanischer Soldat, die sind in irgendein Geschäft gegangen und haben ein Hitlerbild rausgeholt, ein großes Hitlerbild. Und dann wurde das von dem Amerikaner und dem russischen Soldaten angezündet. Und wir alle, alle Mädchen und auch die Russen, haben um dieses brennende Bild getanzt.

Das war für mich ein neuer Anfang. Das war meine zweite Geburt.

Und ich hab’ da gestanden und hab’ gespielt. Ich habe Akkordeon gespielt. Alles, was mir so in den Sinn kam. „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliehen vorbei, wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen, es bleibet dabei, die Gedanken sind frei.“ Ja, das haben wir gesungen. Die russischen Lieder habe ich im KZ in Ravensbrück gelernt. Da habe ich nämlich mit diesen russischen Frauen zusammen gearbeitet, bei Siemens. Und die haben mir Lieder beigebracht. Ich kann mich erinnern an ein Lied. Das erzählt die Geschichte von einem russischen Soldaten, der seiner Frau ein rotes Halstuch nach Hause schickt. Als Lebenszeichen wahrscheinlich.

Das war meine Befreiung. Und es war eine großartige Sache. Ich habe immer gesagt und das sage ich auch heute so in Schulen, wenn ich mein Leben erzähle: „Das war für mich ein neuer Anfang. Das war meine zweite Geburt!“

Esther Bejarano - Aufgezeichnet von Felix Kuballa für die WDR-Reihe ‚Mein Kriegsende‘.

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Alice Schwarzer schreibt

Esther Bejarano: Lebensfroh

Foto: Peter Bisping
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Nach einer Stunde hält es die rund 200 SchülerInnen der Gesamtschule und des Gymnasiums in Siegburg nicht mehr auf den Stühlen: Standing Ovations für die Hip-Hop-Band Bejarano & Microphone Mafia. Deren Sängerin und Star ist auf dieser Tour Esther Bejarano: 95 Jahre alt, 1,47 Meter klein – und KZ-Überlebende. Ich stehe mitten unter den Jugendlichen und höre ebenfalls nicht auf zu klatschen. Selten habe ich eine so mitreißende und lebensfrohe Stunde erlebt wie diese.

Dabei hatte der Abend in dem hochmodernen Kulturzentrum der Diözese Köln sehr ernst begonnen. Bejarano hatte aus ihren „Erinnerungen“ vorgelesen – was auch die Kids rechts und links neben mir sehr still werden ließ.

Nach einer „sehr fröhlichen Kindheit“ war auch das jüngste der vier Kinder von Kantor Loewy in Saarlouis in die Mahlräder der deutschen Geschichte geraten. Die Eltern waren schon im Herbst 1941 deportiert und ermordet worden: Im Wald noch neben der selbst ausgehobenen Grube füsiliert. Auch die älteste Schwester hat das KZ nicht überlebt. Esther kommt 1942 nach Auschwitz. Sie hat Glück im Unglück. Die gelernte Pianistin landet, nach mörderischer Fronarbeit im Steinbruch, als Akkordeonspielerin im so genannten „Mädchen­orchester“. Das spielt am Tor von Auschwitz für Ankommende zu Selektionen und für Ausrückende zur Zwangsarbeit auf – die bewaffnete SS im Rücken.

Es folgen die Stationen: Ravensbrück, Todesmarsch, Flucht mit anderen „Mädchen“. Und der Moment, den die kleine Frau da vorne mit der so jungen Stimme „nie vergessen“ wird: Wie in dem mecklenburgischen Dorf von der einen Seite die amerikanischen und von der anderen die sowjetischen Befreier einrücken. Die sieben Überlebenden laufen den Amerikanern ent­gegen, zeigen die auf den linken Arm tätowierten Nummern – Esther ist die Nr. 41949 – und wurden von den GIs auf die Panzer gezogen und umarmt. Wenig später fallen die russischen und die amerikanischen Soldaten sich in die Arme. Und am Abend tanzen sie mit den Überlebenden und Dorfmädchen um den Brunnen und um ein in Brand gesetztes ­Hitler-Bild. Und wer spielt Akkordeon? Esther.

So hätte es eigentlich bleiben können – aber es kam anders. Und auch darum engagiert Esther sich bis heute. Nach der Befreiung folgt ein Leben quer durch die Welt mit Endstation Hamburg, inzwischen an der Seite ihres Mannes Nissim Bejarano, den sie in Israel kennengelernt hatte. Nach dem Sinai-Krieg wollte Nissim „nie mehr auf Palästinenser schießen“. Die Familie floh Israel. Ihre beiden Kinder werden Musiker, die Tochter Edna singt zeitweise bei der Rockgruppe „The Rattles“ und Sohn Joram, 67, wird Jazzmusiker und ist an diesem Abend Teil des Trios.

Der dritte Mann ist Kutlu Yurtseven, 46, Deutschtürke, Kölner und Mitgründer der Microphone Mafia. Er ist in den 13 Jahren Zusammenarbeit ein zweiter Sohn für Esther geworden.

So stehen an diesem Abend zwar drei Generationen auf der Bühne, doch die Gemeinsamkeiten sind viel größer als die Unterschiede: Neben der Leidenschaft für die Musik verbindet sie auch die für die Politik und die Bereitschaft zum Widerstand. Kutlu rappt gegen Fremdenhass, Joram spielt Bass für die Lebenslust und Esther singt um ihr Leben.

Ganz zum Schluss stimmt sie an diesem Winterabend in Siegburg ein Lied an, das die SchülerInnen wohl nicht mehr kennen, das aber zwischen den beiden Weltkriegen ein Welthit war: „Du hast Glück, bei den Frauen, Bel Ami. So viel Glück, bei den Frauen …“ Es ist das Lied, das Esther in Auschwitz zur Probe für die Aufnahme ins Mädchenorchester vorgespielt hat. Und obwohl sie nie zuvor ein Akkordeon in der Hand gehabt hatte, überzeugte sie. Und überlebte. Du hast Glück im Leben, mutige Esther …

Standing Ovations. Nicht nur für die Musik, auch für die Haltung. Soviel Spaß kann das machen, Courage zu haben und gegen Menschenverachtung und Krieg aufzustehen.

INFORMATION
Esther Bejarano & Microphone Mafia auf Tour: www.kutlu.koeln – Bejaranos „Erinnerungen“ und die CD „Ama La Vita“: www.aldenterecordz.shop

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