Das vererbte Trauma

Szene aus "Anonyma", dem Film über die im Krieg vergewaltigten Frauen.
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An Weihnachten 2009 machte Gerda Olschewski (Name geändert) ihrer Tochter und ihren beiden Enkelkindern ein ganz besonderes Geschenk: Sie überreichte ihnen einen Stapel Papier. Es waren elf Texte, die sie selbst geschrieben hatte. In sieben davon schilderte die 82-Jährige ihre Lebensstationen: von ihrer Kindheit in Schlesien bis hin zu ihrem Lebensabend in einem betreuten Wohnprojekt in Brandenburg. In zwei weiteren Texten aber stand etwas Schockierendes. Etwas, über das Gerda in all den Jahren noch nie gesprochen hatte: Sie war als 17-jähriges Mädchen kurz vor ihrer Flucht nach Westen von einem russischen Soldaten vergewaltigt worden.

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Davon hatten weder Tochter noch ­Enkelkinder etwas gewusst. Und dennoch hatte es nicht nur das Leben ihrer Mutter, sondern auch ihr eigenes geprägt. Endlich begriff Tochter Brigitte: Warum ihre Mutter immer ein angespanntes Verhältnis zum Vater gehabt hatte. Dass es nicht an ihr gelegen hatte, wenn die Mutter manchmal so unterkühlt gewesen war. Und: Warum sich ihre Mutter noch im Rentenalter von ihrem Mann hatte scheiden lassen. Heftige Kräche hatte es über diesen späten Schritt gegeben, der der Tochter völlig unverständlich gewesen war. Jetzt, nachdem sie die Berichte gelesen hatten, konnten sie anfangen, über all das zu sprechen. Endlich.

Gerda Olschewski ist nicht die einzige Frau, die an ihrem Lebensabend doch noch offenbart, was ihr jahrzehntelang das Leben und die Liebe schwermachte. Ganz wie sie versuchen rund 50 weitere Teilnehmerinnen des Projekts „Lebenstagebuch“, ihr Lebenstrauma zu verarbeiten: Diese Verletzung von Körper und Seele, die ­Sexualität mit Angst verknüpft und das Urvertrauen in andere Menschen bricht.

Ehen, Beziehungen, auch die zu den eigenen Kindern, und Selbstbewusstsein sind schwierig unter solchen Voraussetzungen. „Das Erlebnis der Vergewaltigung zieht sich durch das ganze Leben unserer Patientinnen“, weiß Psychologin Maria Böttche. Viele der Frauen leiden bis heute unter Depressionen, Alpträumen oder sogenannten Flashbacks, also dem Wiedererleben der Tat, die genauso überfallartig in den Kopf schießt wie ­damals die Soldaten die Luftschutzkeller auf der Suche nach „Kriegsbeute“ stürmten.

Aber die Frauen, die damals Opfer dieser Soldaten wurden, sind nicht die einzigen Betroffenen. „Das Trauma der Vergewaltigungen am Ende des Zweiten Weltkriegs setzt sich über mindestens zwei Generationen weiter fort. Ich erlebe, dass noch die Enkel heute Probleme haben, weil ihre Großmutter nie über ihre schrecklichen Erlebnisse hat sprechen können.“

Weil Psychologin Böttche und ihre KollegInnen vom Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer (bzfo) die zerstörerischen Folgen der Verdrängung kennen, haben sie gemeinsam mit der Uniklinik Greifswald das Projekt „Lebenstagebuch“ ins Leben gerufen (EMMA berichtete in der Ausgabe 6/08).

An der Greifswalder Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie interessiert sich Philipp Kuwert als einer der wenigen Wissenschaftler in Deutschland für die psychischen und physischen Folgen des Kriegsverbrechens, das 60 Jahre lang ­beschwiegen wurde, obwohl es Millionen deutschen Frauen 1945 widerfuhr. Kuwert wollte wissen: Welche Auswirkungen hat das Trauma von damals bis heute?

Also sorgt der Mediziner, der mit seinen 40 Jahren der Enkelgeneration der Betroffenen angehört, nicht nur für die wissenschaftliche Auswertung des Berliner „Lebens­tagebuch“-Projekts, sondern startete eine weitere Untersuchung: „Sexualisierte Kriegsgewalt im II. Weltkrieg“. 36 Frauen, die bei Kriegsende einer oder mehrerer Vergewaltigungen zum Opfer fielen, wurden von Kuwert und seinem Team befragt. Viele sind das nicht, angesichts der Millionen, denen „es“ passiert ist. „Viele Betroffe­ne sind schon tot oder aufgrund von Demenz nicht mehr in der Lage zu erzählen“, bedauert der Arzt. „Und ein Teil derer, die noch leben, sagt: ‚Dieses Fass mache ich jetzt nicht mehr auf!‘“

Aber es gibt auch diejenigen, die genau das am Ende ihres Lebens wollen: Den ­Deckel abheben und sich anschauen, was sie verdrängt haben – und wie es ihr Leben ­beeinflusst hat. Diese Frauen meldeten sich auf den Aufruf, den Kuwert im Oktober 2008, pünktlich zum Filmstart von „Anonyma“ an die Presse gab: „Wenn am Donnerstag in den Kinos ‚Anonyma – eine Frau in Berlin‘ anläuft, werden sich viele Frauen an ihre schrecklichen Erlebnisse zu Ende des 2. Weltkriegs erinnern. Frauen, die in den letzten Kriegstagen und unmittelbar danach vergewaltigt wurden, leiden oft bis heute an den traumatischen Folgen der Erlebnisse. Vielen ist nicht einmal ­bewusst, dass ihre Psyche bis heute leidet und manch quälende Erkrankung dort ihre Wurzeln hat.“

Eineinhalb Jahre später kennt der Wissenschaftler Zahlen: Jede der Frauen wurde durchschnittlich 17 mal vergewaltigt. „Das ist aber eben nur der Durchschnitt. Eine Frau zum Beispiel fiel ihren Vergewaltigern 70 mal zum Opfer.“ Die jüngste Verge­waltigte war sieben Jahre alt. Jede dritte Frau leidet bis heute unter den Symptomen der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wie Depressionen, Alpträumen oder Übererregung, die sich als Herzrasen, Zittern oder Schlafstörung zeigt.

„Dabei können wir davon ausgehen, dass wir es hier mit den stabilsten Frauen der Opfergruppe zu tun haben“, erklärt Kuwert. Denn: „Schwer traumatisierte Menschen haben eine geringere Lebenserwartung als andere.“ Sie neigen zum Beispiel eher zum Alkohol- oder Tablettenmissbrauch oder leiden an Herzkrankheiten, denn das durch ständige Übererregung ausgeschüttete Adrenalin schädigt das Herz. Kuwert folgert: „Diejenigen, die heute noch willens und in der Lage sind, über die Kriegsvergewaltigungen zu sprechen, sind die, die das Trauma vergleichsweise gut verarbeitet haben.“

Aber auch diese Frauen berichteten den Interviewern von starken Symptomen. Und sie erzählen „durchgängig von einer lebenslang schwierigen Sexualität“. „In wenigen Tagen werde ich 82 Jahre alt, war also zur Zeit des Einmarsches der Roten Armee in Berlin 18 Jahre alt“, schreibt eine spätere Teilnehmerin der Studie. „Ich war noch unberührt, als ich vergewaltigt wurde. Ich habe zwar später geheiratet und drei Söhne geboren, aber ich glaube, dass mein Sexualleben keinen normalen Verlauf genommen hat. Ich finde es gut, dass man versucht, diese bisher unter den Teppich gekehrten Tatsachen aufzuarbeiten.“

Traurige Tatsachen, die auch Psychologin Böttche aus den Lebenstagebüchern ihrer Patientinnen kennt. „Die Sexualität der Frauen ist mit Scham und Angst ­besetzt“, berichtet die Psychologin. „Viele Frauen schreiben, dass sie ‚lange keinen Mann wollten‘ oder nur geheiratet haben, weil sie sich Kinder wünschten.“

Das erzkonservative Familienbild der 50er tat sein übriges. Eine unverheiratete Frau: Ein Flittchen. Oder eine Lesbe? ­Jedenfalls ein Ding der Unmöglichkeit. Am Ende stehen „viele Scheidungen“, weiß Psychologin Böttche.

Das wundert weder Psychologin Böttche noch Psychiater Kuwert. Überrascht waren beide allerdings davon, dass sich nicht nur Frauen bei ihnen meldeten, die die Kriegsvergewaltigungen erlebt hatten, sondern viel öfter noch deren Töchter – und manchmal auch die Söhne.

„Meine inzwischen 87-jährige verwitwete Mutter hat während ihrer Flucht aus Pommern 1945 zweimal Vergewaltigungen durch russische Soldaten über sich ­ergehen lassen müssen. Diese ­schreck­lichen Erlebnisse haben sie selbst sowie ihre Ehe und ihre Beziehungen zu uns Kindern zeitlebens belastet“, schreibt eine Tochter. „Leider waren meine Eltern nicht in der Lage, das Geschehene durch offene Gespräche untereinander oder gar mit therapeutischer Hilfe zu verarbeiten.“

Und eine Schwiegertochter berichtet über ihre in Schlesien geborene Schwiegermutter: „In dieser für sie furchtbaren Zeit wurde aus der lebensbejahenden jungen Frau durch die Vergewaltigung durch russische Soldaten eine für ihr ganzes Leben gekennzeichnete Frau. Sie war ständig psychosomatisch krank, wurde tablettenabhängig, viele depressive Schübe belasteten die Partnerschaft und das familiäre Zusammenleben. Eine liebevolle ­Zuwen­dung zum Ehemann und die damit verbundene Sexualität fiel ihr sehr schwer, auch das Verhältnis zu den Kindern bestand in der Hauptsache aus der sich gehörenden Versorgung, aber eine innige liebevolle, über Körperkontakt zugewandte Annäherung an die beiden Kinder war ihr nur sehr schwer möglich.“

Es sind nun diese Kinder der ­Kriegs­generation, die an die Türen der Therapeu­tInnen klopfen und von eigenen Symptomatiken berichten. „Wir haben viele Anfragen von Töchtern, die ihrerseits große Probleme mit ihren Beziehungen haben“, erzählt Maria Böttche. „Häufig können sie keine Nähe zulassen, weil sie sie zwischen den Eltern nicht erlebt, aber auch von der traumatisierten Mutter nicht bekommen haben. Und oft haben sie sich als Kind selbst die Schuld daran gegeben, wenn die Mutter kühl war.“

„Gefreezed“ lautet der Fachbegriff für die nach einem Trauma „eingefrorene“ Seele, die, gerade wenn der Mantel des Schweigens über das Grauen gelegt wird, so manches Mal nie wieder auftaut. Resultat: Eine „massive Selbstwertproblematik“ auch bei den Töchtern. „Bei mir melden sich auch Töchter, bei denen sich Zwangshandlungen ausgebildet haben“, sagt Psychologin Böttche. Wie die Frau, die ihr schrieb: „Ich hole mir Halt und Schutz, indem ich mir den ganzen Tag die Hände wasche.“

Vielen dieser Töchter wird langsam klar, dass sie das Erbe ihrer traumatisierten und zum Schweigen verdammten Mütter angetreten haben. „Und diese Töchter fragen: ‚Warum gibt es so ein Therapie-Projekt nicht auch für uns? Wir geben das doch auch wieder an unsere Kinder weiter!‘“

Angesichts des Ansturms denken die ExpertInnen darüber nach, das „Lebenstagebuch“ auch auf die zweite Generation auszuweiten. Bis es soweit ist, vermittelt Böttche die Töchter an spezialisierte Trauma-TherapeutInnen.

Und sie versucht, das Schweigen zu brechen, das jahrzehntelang in den Familien herrschte. „Etwa die Hälfte der alten Frauen, die beim Lebenstagebuch mitmachen, offenbaren sich anschließend ihren Familien“, erzählt die Psychologin. So wie Gerda Olschewski, in deren Familie jetzt gesprochen wird.

Aber auch denjenigen, die ihre Texte und die Antworten der Psychologin ­darauf lieber für sich behalten, geht es besser. „Ich habe den großen Zusammenhang in meiner Lebensgeschichte erkannt, den roten Faden. Und das ist mir sehr wichtig. Meine Ängste sind deutlich ­zurückgegangen und die Attacken auch kürzer“, schreibt eine Teilnehmerin. Eine andere berichtet: „Ich habe deutlich mehr Respekt vor meinem Leben (vor allem auch Kindheit) erhalten und obendrein Selbstwert gewonnen. Vielleicht der ­Anfang für das Ende meiner ‚Probleme‘ (Schreckhaftigkeit, Bindungsängste, Menschenängste)?“

Nach dem ersten Projekt-Jahr steht fest: „Die Symptome wie Übererregung oder Depression gehen signifikant zurück. Einige Patientinnen fangen noch mal ein neues Hobby an oder engagieren sich ­ehren­amtlich, weil sie aus ihrer Starre ­ausbrechen“, freut sich Maria Böttche ebenso wie „über den Fakt, dass eine Therapie 65 Jahre nach dem Trauma immer noch wirksam ist und zu Erfolgen führt“.

Die letzten zwei der insgesamt elf Texte schreiben die Teilnehmerinnen des Lebens­tagebuchs am Ende an sich selbst, an das Mädchen von damals, das nach dem Willen der alten Frau heute nun nicht mehr länger zum Schweigen verdammt sein soll. „Ich würde ihr immer meine Hilfe anbieten und versuchen, sie zu beschützen, solange sie es möchte“, versichert die heute 78-jährige Herta der damals 13-jährigen. Und das Wichtigste: „Vor allem darüber sprechen, denn ­geteiltes Leid ist halbes Leid.“

Das Projekt Lebenstagebuch bietet auch weiterhin Plätze zur Behandlung an. - www.lebenstagebuch.de oder Behandlungszentrum für Folteropfer, Turmstr. 21, 10559 Berlin.

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Der Vergewaltigung entgehen

Hildegard Knef in dem Film "Die Mörder unter uns".
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Tage später kamen wir an das Lager. Ein Feld, ein paar Baracken, Stacheldraht. Soldaten lagen an den Barackenwänden, betrachteten unsern Einzug. Wir waren nicht mehr viele. Sie brachten uns in einen leeren Raum, schlossen ab. Morgens kam ein Offizier, rief: "Haare schneiden". Zwei russische Soldaten standen hinter ihm, klapperten mit den Scheren. Ich stöhnte, krümmte mich, jammerte, E. v. D. sagte wieder: "Er krank". Ich rannte an ihnen vorbei, tat, als ob ich die Latrine suchte, rannte zur hintersten Baracke, setzte mich zwischen die Gefangenen, sagte: "Ich bin 'ne Frau." Sie starrten mich an, hatten Angst, einige standen auf, gingen weg, andere blieben, rückten näher, schirmten mich ab.

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Abends war Appell, wir standen in Viererreihen, einer machte Meldung. Zwei russische Offiziere liefen langsam an uns vorbei, hinter ihnen ein paar Polen mit Gewehren. Die Offiziere blieben stehen, begutachteten die Neuzugänge, sprachen miteinander, gingen weiter.

"Was machen die Polen hier?", fragten sie später in der Baracke. "Die suchen Politische, die in Polen eingesetzt waren", sagte ein Gefreiter, "Die suchen Gestapoleute und so." Es war zu voll, um zu liegen, wir hockten, rutschten übereinander, dösten, hörten Keuchen. Zwei schlugen sich um eine Blechschüssel, ein Alter schluchzte: "Der hat sie mir geklaut, Mensch, die Eignen klauen einem die Klamotten." Der Jüngere schlug ihm ins Gesicht, sagte: "Du lügst, du Schwein." Erschöpft brachen sie ab, dösten weiter. "Wir müssen hier raus", flüsterte E. v. D., "Sie werden dich verraten, um ihre eigene Haut zu retten."

Ich setzte mich zwischen die Gefangenen und sagte: Ich bin 'ne Frau.

Im Morgengrauen schlossen sie die Tür auf, zwei junge Russen standen da, sagten: "Auf." Wir drängten an ihnen vorbei; der Jüngere, er war sechzehn oder siebzehn, hielt mich fest, zeigte auf meinen silbernen Einsegnungsring. Ich zog, er rührte sich nicht, ich zog stärker, er saß fest, saß auf geschwollener Hand, bewegte sich nicht, ich zerrte, die Haut platzte, der Ring blieb. Der Junge nahm ein Taschenmesser, machte sich daran, den Finger abzuschneiden. Ich sah ihn an, sah sein pickliges Kindergesicht, glaubte es nicht, glaubte es doch, sah nichts mehr, drückte seinen Hals, drückte den Adamsapfel, hörte das Messer fallen, sah seine Augen mit weißblonden Wimpern. Sie rissen mich weg, der Junge rannte mit seiner Maschinenpistole und seinem Munitionsgurt über den Barackenweg auf das Tor zu. E. v. D. lag an der Tür, der Junge hatte ihn umgerannt. Wir saßen auf dem Boden, warteten. Er kam nicht wieder, auch am nächsten Morgen nicht.

Wir standen in Appellformation, standen seit Stunden, es regnete. "Ob ich mit dem Taschenmesser die Haare schneiden kann", flüsterte ich. "Sei still", zischte E. v. D. Ein russischer Offizier kam aus der Baracke, ging rasch an uns vorbei, zwei Polen liefen hinter ihm her, stockten, sagten: "Du". Ein Volkssturm-Alter in brauner Jacke, grauer Hose und italienischer Militärmütze reckte sich hoch, hielt Hände an verdreckte Hose. "Wo du herkommen?"

"Berlin", zitterte er, "Berlin-Neukölln." – "Wo du gewesen?" – "Berlin, eingezogen bei Kriegsschluss." Neben mir nuschelte einer: "Die halten ihn für die Polizei, der hat die Jacke an." – "Du in Polen." – "Nein", brüllte der Alte, "nein, war nicht …" Sie schlugen auf ihn ein, er taumelte noch einmal hoch, sie schlugen, bis er tot war. Sie führten uns weg, riefen: "Ihr Schweine, alle Schweine." Mein Kiefer tat weh, die abgebrochenen Zähne jaulten. Zorn, Jähzorn hielt mich wach.

"Sie werden uns sieben, und wer nicht politisch war, den werden sie entlassen, das habe ich vom Leutnant gehört." – "Quatsch, die bringen uns nach Sibirien." – "Die sind froh, wenn sie uns los sind, die wollen bloß die Politischen." Sie rätselten, hofften, gaben auf.

Im Lager war Typhus, Ruhr- und über allem, zwischen allem, vor allem: Läuse. Wir knipsten Tag und Nacht, sie hatten Ersatz, wurden mehr, hatten Nachschub, waren Armee, Läusearmee.

Er zeigte mir ein kleines Bild: Das ist meine Tochter, sie ist umgekommen.

Am Nachmittag kam ein polnischer Offizier, er ließ die Verwundeten und Kranken heraustreten. E. v. D. blieb stehen, flüsterte: "Sie werden sie umbringen, den Rest nehmen sie mit." Der Pole stellte Fragen, machte Notizen, ließ sich Zeit. Mich sah er an, lange, bewegungslos. Um mich herum wurden sie unruhig, schnaubten, kratzten, er blieb stehen, sah mich nur an. Endlich sagte er: "Komm." Ich trat vor, er nahm den Helm ab, die Baskenmütze. "Was du hier machen?" Ich antwortete nicht, dachte: Schlag doch zu, schlag mich doch tot. Jähzorn kam hoch, überspülte, überflutete. "Was du hier machen?" Ich antwortete nicht, wartete auf den ersten Schlag. "Komm mit", sagte der Pole. Die Russen glotzten mich an, wir gingen an ihnen vorbei, durch das Lagertor, auf ein Bauernhaus zu.

Im ersten Stock war ein dunkles Zimmer, er nahm ein Streichholz, zündete eine Kerze an, setzte sich hinter einen Tisch, deutete auf eine Wäschetruhe, sagte: "Setz dich." Er kaute an einem Zigarettenstummel, zog eine Brieftasche heraus, nahm ein kleines Bild, hielt es über den Tisch: "Kennst du sie?" Es war ein Mädchen, es saß auf einer Bank, Beine übereinander geschlagen. Das Mädchen sah aus wie ich. Es war still im Zimmer, bis auf das leise Schmatzgeräusch, das er mit seiner Zigarette machte. Wir sahen uns an, nach einer Weile: "Wo kommst du her?" – "Aus Berlin, Wilmersdorf." – "Wer sind deine Eltern?" – Ich sagte es. – "Deine Großeltern?" – Ich sagte es.

Sein Deutsch war besser geworden, seit wir allein waren. Er zeigte auf das Bild: "Das ist meine Tochter, sie ist umgekommen bei einem Angriff auf Warschau."

Ich dachte an den toten Volkssturm-Alten, fragte: "Werde ich jetzt erschossen?" – "Vielleicht sind wir verwandt", sagte er. Er fragte mich aus, wollte wissen, wo die Familie gelebt, wann der Großvater nach Berlin, warum ich nicht Polnisch könne.

"Werde ich jetzt erschossen?", fragte ich. – "Ich bin Arzt", sagte er, war verärgert, stand auf, ging weg. Zwei Russen standen in der Tür, grinsten mich an. Der Arzt kam wieder, sagte: "Sie wollen dich verhören, sag alles, was du weißt." Sie brachten mich ins Erdgeschoss, stießen eine Tür auf, nahmen Haltung an.

Ich dachte: Sie werden mich erschießen, aber ich werde nicht kriechen.

Zwischen Rauchschwaden sah ich erhitzte Gesichter. Es waren fünf, sie saßen hinter einem großen Bauerntisch, vor einer Landkarte, drei trugen Offiziersuniform, zwei olivgrüne Jacken, die ich nicht kannte. Sie zeigten auf einen dreibeinigen Hocker, ich setzte mich, die Beine rutschten weg, ich lag auf dem Boden. Der Jähzorn flammte hoch, machte mich heiß, ließ die Läuse tanzen. Ich stand auf, wackelte vor Wut, vor Durst, vor Hunger, vor Angst. Sie waren überrascht, hatten nicht gewusst, dass der Hocker weichbeinig, lachten ein bisschen.

Ich dachte: Sie werden mich erschießen, aber ich werde nicht kriechen. Ein Offizier mit schiefen grauen Augen sagte: "Hitler kaputt, Germanski kaputt." Ich sah ihn an, dachte: Das haben schon die Muschiks gesagt, könnte dir auch war Besseres einfallen. Er sah's mir an, maß seine Wut mit meiner Wut, sprang auf, brüllte: "Was du hier machen, was du in deutscher Armee, du Spion!" Sie werden Fragen stellen, werden sie selber beantworten, werden mich erschießen, was soll der Quatsch dachte ich. "Was du in deutscher Armee?"

"Ich wollte nicht vergewaltigt werden", sagte ich. Er schlug mit der flachen Hand, es tat nicht besonders weh, es klatschte nur, ich ließ mich fallen, blieb liegen, dachte: Mit mir nicht, wenn du mich schlagen willst, bin ich so lange ohnmächtig, bis dir die Zähne ausfallen. Ich blieb liegen, sie gossen mir was Kaltes ins Gesicht, klopften ein bisschen an mir herum, gossen Kaltes nach, sagten: "Was du in Armee?"

Ich stand auf, sagte: "Ich wollte nicht vergewaltigt werden." Er klatschte wieder, brüllte:" Russische Soldaten vergewaltigen nicht."

Wie in der Schule dachte ich – wie bei der Weise – man darf nicht die Wahrheit sagen. Ich hatte keine Angst mehr, konnte nicht mehr zurück, wollte es kurz machen, es hinter mich bringen: "Ich habe es gesehen, die Frauen sind aus den Fenstern gesprungen an der Heerstraße, in der Nacht hab' ich es gesehen im Feuerschein, die Russen standen in den Fenstern."

Sie guckten sich an, zeigten wieder auf den Stuhl, vergaßen, dass er zusammengebrochen war. Der Grauäugige brüllte noch mal: "Russische Soldaten vergewaltigen nicht, deutsche Schweine vergewaltigen", setzte sich, sprach mit den anderen.

Er übersetzte, sie lachten, gaben mir Wodka. Er brannte im leeren Magen.

Ein Olivgrüner redete auf ihn ein, der Brüller übersetzte. Er zog mich vor die Landkarte, sagte: "Wie ist deutsche Armee gekommen?"

Ich zeigte auf Spandau, Nauen, Friesack, sagte: "Da hinter Friesack haben uns die Polen gefunden." – "Wo wolltest du hin?" – "Zu den Amerikanern." – "Warum?" – "Ich wollte nicht vergewaltigt werden."

Diesmal überhörte er es. Er trat kurz mit dem Fuß gegen die Wand, scharrte wie ein Pferd, kaute an seiner Papyrossi. "Wie hieß der General?" – "Das weiß ich nicht." – "Wie hieß der General?" – "Ich weiß es doch nicht, es war ein Panzergeneral, haben die Soldaten gesagt." – "Wie hieß er?" – "Ich weiß nicht, hab' ihn nie gesehen." – "Wie heißt du?"

Ich sagte: "Martina Wulf." In der Schule hatten sie mich manchmal Martina genannt, Martina-Albertina – Alike hatte ihr "Martl" draus gemacht –, und Wulf sollte ich mal heißen, von Wulfestieg abgeleitet, weil sie Knef nicht schön genug fanden für den Film, für die Plakate.

"Wir haben deinen Mann gefunden, du heißt Demandowsky, ihr habt vor Kriegsschluss geheiratet."

Einer hat ihn verpfiffen, dachte ich – wieso sagt er seinen Namen, den wusste doch keiner. "Das habe ich vergessen", sagte ich lahm.

Er übersetzte, sie lachten, schlugen sich gegenseitig auf die Schultern, lachten, gaben mir Wodka. "Vergessen", prustete er. Der Wodka brannte im leeren Magen, sie sagten: "Trink, trink Wodka."

Ich wachte auf, es war schwarz, ich tastete, stieß gegen eine Wand, gegen Bettpfosten. Es stank, stank süßlich. Ich zog mich hoch, auf dem Bett lag was Weiches, meine Hände griffen in Klebriges, ich schrie: "Hilfe, Hilfe" – die Tür ging auf, ein russischer Soldat stand da, hielt Kerzenstummel, beleuchtete aufgeschnittenen Bauch, verzerrtes Greisinnengesicht, er machte das Fenster auf, sah runter, nahm den Körper, warf ihn raus, sagte: "Gutt", strahlte mich an, schloss wieder ab. Ich legte mich auf den Boden, kotzte Wodka und anderes, schlief wieder ein.

Am Morgen holten sie mich raus, setzten mich auf einen Leiterwagen, fuhren los. Ein russischer Soldat hielt die Zügel, rief "Komm" – zog mich auf die Bank neben sich, griff in die Tasche, nahm losen Zucker, sagte: "Du." Ich nahm vorsichtig, er hielt seine Riesenhand vor meinen Mund, schüttete ihn rein, schlug mir auf die Schulter, jauchzte: "Du Frau, du gutt."

Sie zeterten, rannten hinter uns her, wollten mich haben.

Im Dorf standen Frauen in polnischer, in russischer Uniform, sie liefen nebenher, brüllten zu den Soldaten rauf. Eine zerrte an meinem Fuß, rief: "Schlag sie tot, schlag Deutsche tot." Der neben mir spuckte auf den Boden, schlug die dürren Klepper, sagte: "Du gutt." Sie zeterten, rannten hinter uns her, wollten mich haben. Am Barackentor hielten wir, sie standen in Sechserreihen.

E. v. D. griff nach seinem Stiefel, wollte mir damit sagen, ich soll das Messer wegwerfen. Am Abend kamen wir an ein Feld, um das Feld Stacheldraht; sie wurden durch das Tor getrieben, Wachen stellten sich auf, der Leiterwagen zoddelte weiter, hielt vor einem Bauernhaus. Ein Olivgrüner und die drei vom Tag zuvor waren schon da. Sie fragten mich wieder, fragten dasselbe, gaben mir Wodka, sperrten mich ein. Nach Stunden ging die Tür auf, sie schubsten jemanden rein, es war E. v. D.

Er sprach schnell: "Vielleicht lassen sie dich frei. Wenn du rauskommst, geh zu Viktor de Kowa, er ist ein Freund, unsere Ansichten sind nicht die gleichen, aber er ist anständig, er wird dir helfen, erzähl ihm alles. Du musst sehen, dass du wegkommst. Denk dran, sie können kranke Frauen nicht leiden, fassen sie nicht an – hinke oder sonst was, schmeiß das Messer endlich weg. Versteck dich am Tag."

Auszug aus: Hildegard Knef 'Der geschenkte Gaul' (TB Ullstein)

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