Jetzt kriecht die Erinnerung hoch

Eine alte Bewohnerin klagte: "Nachts kommen wilde Tiere an mein Bett."
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Die alte Frau auf Zimmer 325 wollte keine Ruhe geben. Sie hatte panische Angst. Nachts, so erklärte sie den Krankenschwestern, kämen Tiere in ihr Bett. „Die Alte spinnt“, dachten die Schwestern, „Psychose“ diagnostizierte die Stationsärztin. Sie verordnete der Patientin Haldol, ein Psychopharmakon mit starken Nebenwirkungen: Hirnleistungsstörungen, Krämpfe, Zittern. Es nützte nichts. Die Tiere blieben.

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Aber Pflegerin Martina Böhmer nahm sich die Zeit, mit der alten Frau zu sprechen. Und die fing schließlich an zu erzählen: Sie war nach Kriegsende von amerikanischen Soldaten vergewaltigt worden. Nun bekam ihre neue Bettnachbarin täglich Besuch von ihrem Mann – einem Amerikaner, die beiden sprachen Englisch miteinander. Die Altenpflegerin begriff. Sie sorgte dafür, dass die Patientin auf ein anderes Zimmer verlegt wurde. Nach ein paar Tagen waren die Tiere verschwunden.

Die alte Frau hatte Glück gehabt. Sie war auf Martina Böhmer getroffen. Die hatte erkannt, was eigentlich all diejenigen erkennen sollten, die in Krankenhäusern, Altersheimen oder auf gerontopsychiatrischen Stationen Frauen pflegen und betreuen: Viele, furchtbar viele dieser heute alten Frauen der Kriegsgeneration sind Opfer sexueller Gewalt geworden. Sie wurden nachts von russischen Soldaten aus Kellern und Bunkern gezerrt oder mussten in der amerikanischen Besatzungszone für „Zigarettenwährung“ fremde Männer über sich ergehen lassen, um zu überleben.

Oder ihrem Mann zu Willen sein, der an der Front getötet und vielleicht die Frauen der Feinde vergewaltigt hatte und nun brutalisiert und abgestumpft ins heimatliche Bett zurückkehrte. Und auch diejenigen, die der Gewalt der Sieger und Verlierer unmittelbar nach dem Krieg entkamen, hatten möglicherweise Onkel, Stiefväter oder Brüder, die nicht nur beim Wiederaufbau Hand anlegten. Es war einfach nicht die Zeit und es waren nicht die Zeiten, um über all das zu sprechen.

Heute stellen genau diese Frauen die große Mehrheit in den Altersheimen. Was fühlen die, wenn sie dort von männlichen Pflegern an intimen Stellen gewaschen werden? Wenn sie splitternackt auf den Toilettenstuhl gesetzt werden, während die Zimmernachbarin zuschaut? Wenn nachts im Dunkeln die Schritte der Nachtschwester über den Gang hallen? Wenn ein Pfleger ihnen einen Katheter legt mit den Worten „Machen Sie die Beine breit!“ Oder wenn sie „digital ausgeräumt“ werden, sprich: ihnen das Pflegepersonal bei Verstopfung den Kot mit den Fingern aus dem After holt und sie dabei von zwei Männern festgehalten werden?

Spätestens dann brechen die Traumata wieder auf, das so lang verdrängte und manchmal auch vergessene Grauen ist wieder da. Entsprechend reagieren die Opfer. Die einen schreien, schlagen um sich, haben Panik und Angstzustände. Andere werden apathisch, lassen alles teilnahmslos über sich ergehen, ziehen sich in ein inneres Exil zurück. Klassische ‚Posttraumatische Belastungssyndrome‘, kurz PTBS.

„Jede und jeder, der in der Altenpflege arbeitet, kennt solche Geschichten“, weiß Martina Böhmer. „Viele der Frauen, die ich in der Gerontopsychiatrie erlebt habe, machten mehr oder weniger offene Andeutungen über allzu strenge Väter, über männliche Verwandte, die in den Krieg gezogen waren und von ihnen nicht vermisst wurden. Über Ehemänner, die aus dem Krieg zurückkamen und mit denen es für sie ‚sehr schwierig’ war.“ Und die gelernte Altenpflegerin mit 20 Berufsjahren weiß auch: „Trotzdem wird die Diagnose PTBS bei alten Frauen so gut wie nie gestellt. Es gibt kaum eine Kollegin im Altenpflegebereich, die diese Diagnose überhaupt kennt.“

Damit sich das ändert, hat Böhmer ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben und bietet Fortbildungen an. Denn sie hat gesehen, was so alles mit den „Omas“ passiert, die in der Alltagshektik nicht so wollen, wie sie sollen. Oder die in Gerontopsychiatrien eingeliefert werden, weil die alten Abwehrmechanismen mit abnehmendem Kurzzeitgedächtnis und zunehmendem Langzeitgedächtnis nicht mehr funktionieren.

„In der Psychiatrie erlebte ich zum Beispiel eine 70-jährige Frau, die sich ständig auszog, den Mitpatienten auf den Schoß setzte und sich permanent wusch. Sie hatte die Diagnose Schizophrenie, bekam in Höchstdosen Haldol, es wurden Truxal, Imap, Dipiperon, teilweise in Kombination, bei ihr ausprobiert. Nichts half. Sie wurde fixiert, befreite sich daraus. Sie erzählte mir einmal, dass sie seit ihrem fünften Lebensjahr jahrelang von ihrem Bruder sexuell misshandelt wurde. Die Stationsärztin, der ich das erzählte, sah keinen Zusammenhang zwischen ihrer Geschichte und ihrem ‚irren’ Verhalten. Ich hatte gehofft, dass diese Frau auf eine reine Frauenstation verlegt würde und eine Psychotherapie angeboten bekäme. Sie bekam – Elektroschocks.“

Wie kann es sein, dass typische Symptome erlittener Gewalt bei Frauen der Kriegsgeneration immer noch ignoriert werden, obwohl das Problem Sexualgewalt in den letzten Jahren – dank jahrzehntelanger feministischer Aufklärungsarbeit – längst im Allgemeinwissen angekommen ist? „Alte Frauen sind in unserer Gesellschaft ‚Omas’, die keine Sexualität haben“, sagt Altenpflegerin Böhmer. Und so werden Symptome, die bei jungen Frauen inzwischen als „Abspaltung“ oder „Dissoziation“ erkannt werden, bei alten Frauen als „Demenz“ fehldiagnostiziert. So erlebte Böhmer in einer großen Traumaklinik, „dass die Diagnose ‚Posttraumatisches Belastungssyndrom’ nur bei Patientinnen bis 59 Jahre gestellt wurde. Die älteren kamen auf die gerontopsychiatrische Station, und da existierte diese Diagnose ganz einfach nicht.“

Außerdem hat möglicherweise nicht nur die alte Patientin ihre Erfahrungen mit russischen Soldaten verdrängt, sondern vielleicht auch die junge Krankenschwester ihre Erlebnisse mit dem Stiefvater. „Da knallen dann Frauengeschichten aufeinander“, sagt Böhmer. „Für die Frauen ist das ein schmerzhaftes Thema, für die Männer ein provokantes, das sie angreift.“

Und schließlich bleibt in der Alltagshektik oft scheinbar keine Zeit, die – von einigen Pflegekräften durchaus erkannten – Botschaften der alten Frauen zu berücksichtigen. Dann muss das Zäpfchen halt rein. Und so gibt es auch im Jahr 60 nach Kriegsende immer noch Altersheime, die steif und fest behaupten: „In unserem Haus gibt es so etwas nicht!“

„Die Gewalterfahrungen der alten Frauen werden in den Einrichtungen sehr stark verdrängt“, bestätigt Christine Sowinski, beim Kuratorium Deutsche Altershilfe für die Ausbildung der AltenpflegerInnen zuständig. Sie weiß: „Das Pflegepersonal deutet die Signale der Frauen oft falsch.“ Die Psychologin und Krankenschwester selbst hat in ihrer Altenheim-Zeit selbst „öfter so etwas vermutet“.

Zum Beispiel bei einer Bewohnerin, die „immer geschrien hat, wenn ich ihr beim Anziehen etwas über den Kopf gezogen habe.“ Christine Sowinski fragte vorsichtig nach. „Ich konnte leider nicht herausfinden, was der Frau passiert war. Aber ich habe mich mit den Angehörigen geeinigt, dass Pullover von da an tabu waren.“ Die Frau bekam fortan Blusen oder Kleidung mit Klettverschlüssen. Bei einer weniger sensiblen Krankenschwester wäre die alte Dame vermutlich „ruhiggestellt“ worden.

Immerhin: Seit einigen Jahren „hat ein Umdenken eingesetzt“, hat Sowinksi beobachtet. Helke Sander habe mit ihrem Film ‚BeFreier und Befreite’ viele aufgeschreckt und war „eine richtige Eisbrecherin“. Im Jahr 2003 hat das Kuratorium Deutsche Altershilfe das Thema Sexualgewalt in den ersten bundesweiten Ausbildungsleitlinien verankert. Vorher war die Ausbildung Ländersache.

Jetzt soll die „Pflegediagnose Posttraumatische Reaktion“ im Unterricht behandelt werden, und auch „Näheprobleme aufgrund von Gewalterfahrungen“ stehen auf dem Lehrplan. „Das ist revolutionär“, freut sich Sowinski. Aber sie weiß auch: Es kann noch Jahre dauern, bis die Theorie über die Pflegeschulen praktisch in den Altersheimen ankommt. Zumal die Empfehlungen für die Schulen nicht verbindlich sind. „Deshalb sind wir auf engagierte Lehrerinnen und Lehrer an den Pflegeschulen angewiesen.“

Vielleicht, so hoffen Psychologin Sowinski und Altenpflegerin Böhmer, trägt nun auch der 60. Jahrestag des Kriegsendes dazu bei, dass auch der Traumata von Millionen inzwischen alter Frauen gedacht wird – nicht nur in Filmen und Zeitungsartikeln, sondern auch in Krankenhäusern und Demenzstationen. „Wir Pflegenden können alten Frauen zeigen“, sagt Martina Böhmer, „dass sie wenigstens jetzt und von uns keine Gewalt, in welcher Form auch immer, mehr erfahren werden.“

Weiterlesen
Martina Böhmer: Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Lebensgeschichte alter Frauen (Mabuse-Verlag). 
www.martinaboehmer.de
www.kda.de  

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