In der aktuellen EMMA

Die Widerstände sind enorm!

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Liebe Frau Schwarzer, als Überlebende von dreißigjährigem Inzest durch meinen Vater, engagiere ich mich heute selbst in dem Opferschutzverein, der mich damals auffing. Ich versuche, das Tabuthema der familiären sexualisierten Gewalt öffentlich zu machen, stehe jedoch in meiner Art, über das Thema zu sprechen, gefühlt allein da. Als Betroffene beleuchte ich seit mehr als 15 Jahren auf meinen Social-Media-Accounts auch die Perspektive als ehrenamtliche Helferin, sowie denen des Opferschutzvereins „El Faro“ Berlin.

Die meisten Frauen können aus Angst vor erneuter Gewalt und Verfolgung nicht öffentlich reden oder sich öffentlich zeigen. In meinem Fall sind die Haupttäter verstorben. Aber weil andere Familienmitglieder von mir noch leben und mir sehr viele Steine in den Weg gelegt haben, bin ich nicht völlig frei, spreche aber trotzdem.

Erst durch das Bekanntwerden der Fälle im Canisius-Kolleg in Berlin, wurde 2010 von der Bundesregierung die erste unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauchs an Kindern und die Initiative „Geschichten, die zählen“ ins Leben gerufen.

Vieles ist seither passiert und bewegt sich. Jedoch ist es für Betroffene, die nach wie vor stark stigmatisiert und ungehört sind, sehr schwer, sich Gehör zu verschaffen oder sich zu vernetzen. Nicht zuletzt, weil es auch zwischen den Betroffenen durch ihre persönliche Geschichte nicht einfach ist.

Sie sprachen kürzlich in Berlin von den Hauptgründen, warum wir immer wieder die gleichen Schwierigkeiten in der Durchsetzung von Frauenrechten haben: Gewalt und Geschichtslosigkeit.

Auf meinem eigenen Weg, der nach dem Aufbrechen des Traumas durch den Tod meines Vaters ein sehr schwieriger war, wurde mir erst in vollem Umfang bewusst, welche Hürden vor mir lagen. Damals, mit Anfang dreißig, stand ich mit all den nun bewusst spürbaren und präsenten Erinnerungen vor der Frage: Nehme ich mir das Leben oder bringe ich meine letzte Kraft auf, um mich psychisch wieder zusammenzusetzen? Durch die Unterstützung einer Freundin, die Ähnliches erlebt hat, fand ich Hilfe in Berlin bei einem Verein, der sich aus Betroffenen gegründet hat, auf dem Konzept der gelebten Selbsthilfe arbeitet und sich mutig zwischen mich und den Rest meiner Familie gestellt hat. Für mich, in Kombination mit der dem Verein angegliederten Heilpraktiker-Fachschule, die ideale Lösung, um Schutz und Unterstützung, aber auch die Perspektive der Aus- und Fortbildung im Bereich familiäre Gewalt zu erhalten.

Der Weg zur Psychotherapie war mir aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Nicht zuletzt, weil meine Mutter, die Opfer und Täterin zugleich war, durch ihre psychische Erkrankung im psychiatrischen System nicht die Hilfe fand, die sie gebraucht hätte. Damals als Kind wusste ich schon, dass sie sich von meinem Vater trennen sollte. Dies war ihr jedoch auch aufgrund ihrer Erziehung und finan­ziellen Abhängigkeit nicht möglich. Es war die Zeit vor 1997, in der die Ver­gewaltigung in der Ehe noch keine Straftat war.

Ich wurde 1975 geboren und Mitte der 90er Jahre wurde meine Mutter schlussendlich in die Landespsychia­trie zwangseingewiesen. Sie verbrachte ihr restliches Leben im psychiatrischen System und war damit Opfer auf Lebenszeit. Das größte Mahnmal meines Lebens.

Ich eignete mir über die Fachschule, die sich auf den Schwerpunkt Psychosomatik spezialisiert hat, das nötige Wissen über meine Traumafolgen und die Reaktionsweisen im Alltag an und machte weitere Fachfortbildungen. Das mir durch Betroffene vermittelte Wissen war so authentisch und praxisnah, dass es für mich, die nie über die Gewalt und die damit verbundenen Gefühle sprechen durfte, eine unfassbare Erleichterung war. Das Tabu zum Thema Inzest war auch 2006 in meiner Wahrnehmung nach wie vor ungebrochen. Zu erleben, wie Frauen selbstverständlich und mit einer inneren Kraft darüber sprachen, war für mich die Hoffnung, auch für mich nicht aufzugeben und nicht im schlimmsten Fall so zu enden wie meine Mutter.

Die Widerstände auf meinem Weg waren enorm und existenziell. Nicht nur, dass ich meine berufliche Karriere, meine Freunde und mein komplettes altes Leben aufgeben musste. Darüber hinaus wurde ich von anderen Familienmitgliedern und meinem Expartner weiterhin bedroht und bis ins Ausland verfolgt. Das Ziel war es, sicherzustellen, dass ich sie nicht verraten würde und ihr Leben durch eine Strafverfolgung ruiniere.

Es ist übrigens für viele Betroffene so, dass die sexualisierte Gewalt und Ausbeutung nicht im Kindes- oder Jugendalter aufhören. Warum auch, wenn Täter nicht zur Rechenschaft gezogen und gestoppt werden? Gleichzeitig kann innerhalb des Schutzraumes Familie ein Täter nicht vollständig allein und ungesehen agieren. In meinem Fall waren beide Elternteile, sowie meine Großeltern, die mit im Elternhaus lebten, beteiligt. Auch der Rest meiner Familie ist als Mittäter anzusehen, was sie selbstredend abstreiten.

Als ich damals von einer Psychiaterin begutachtet wurde, sagte sie fassungslos zu mir, ich sei paranoid, bei dem, was ich ihr alles „auftischen“ würde. Auch mir hatten Täter und Täterinnen von klein auf eingebläut: „Man wird dir nicht glauben“ oder „Du wirst für verrückt erklärt!“ Ich habe mal gelesen, dass ein drogensüchtiger Mensch zirka sieben Anläufe braucht, um den Ausstieg zu schaffen. Dies trifft nach meiner Erfahrung auch auf den Ausstieg aus einer gewaltvollen Familie zu.

Mit anderen Frauen baute ich 2011 in Berlin eine Selbsthilfegruppe im Rahmen des Vereins auf und lernte die Seite der Helferin in der Opferschutzarbeit kennen. Euphorisiert und im Glauben, nach meiner Odyssee sollte es nicht mehr viel geben, was mich erschüttern konnte, wurde ich auch hier eines Besseren belehrt. Lernte ich doch nun, dass auch die Solidarität zwischen Betroffenen und Hilfsorganisationen nicht per se gegeben ist.

Bei den Betroffenen sah ich – wie auch auf meinem eigenen Weg –, dass es für viele schwer bis unmöglich ist, den Täterkontaktabbruch konsequent aufrechtzuerhalten. Abhängig war dies von der Schwere der psychischen Beeinträchtigungen und den Folgen der oft lebenslangen Gewalt, Einschüchterung, Abhängigkeit und Todesangst. Auf diese Weise sorgten Täter dafür, dass es schwer bis unmöglich schien, eine schlagkräftige Gemeinschaft aufzubauen. Auch bei den Hilfsorganisationen war echte Vernetzung, die über die Vermittlung von Kontakten und Angeboten hinausgehen sollte, aus finan­ziellen, konzeptionellen Gründen und mangelndem Interesse schwer.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schnell Traumafolgestörungen zu einer fatalen Diagnose führen können und Menschen auf diese reduziert werden. Dies gilt insbesondere für den Bereich der psychischen und geistigen Erkrankungen. Auch auf der körperlichen Ebene sind viele Erkrankungen bei Betroffenen durch jahre- und teilweise jahrzehntelange Gewalt entstanden. Die Ursache bleibt jedoch aus unterschied­lichen Gründen oft unbenannt. Zum Teil sicher auch, weil der Blick bei den Ärzten fehlt und natürlich aus der Scham und den Ängsten der Opfer. Eine Erkrankung, die letztendlich nur ein Symptom von Gewalt ist, ist ein guter Schutz für Täter. So wie die psychische Erkrankung meiner Mutter der lebenslange Deckmantel all der familiären Probleme auch in meinem Leben war. Als ich den Kontakt zu meiner Familie damals abgebrochen habe, streute ein Familienmitglied - ein Mann – das Gerücht, ich sei einer Gehirnwäsche in einer Sekte unterzogen worden, dass ich nun nach 30 Jahren behaupten würde, ich sei sexuell missbraucht worden.

Jeder, der sich unmittelbar in der Opferschutzarbeit mit den Betroffenen auseinandersetzt, weiß, wie gefährdet man auch als Helfer ist und wie man in den Fokus der Täter geraten kann.

Es passiert bei uns in Deutschland - jetzt und immer schon. Und der Widerstand ist so enorm, dass Hilfsorganisationen, renommierte Therapeuten und Helfer ebenfalls Gewalt in all ihren unterschiedlichsten Formen erleben, um mundtot gemacht zu werden und die Opfer weiter zu isolieren. Teile und herrsche – das altbewährte Prinzip – hat nach wie vor eine nachhaltige Wirkung.

Die Psychiatrien und unser Gesundheitssystem sind überlastet und voll mit Opfern, die zwar nicht physisch, aber psychisch tot sind. Denn ihre Erkrankungen und Folgen sind oft so weit fortgeschritten, dass sie allein kaum lebensfähig sind, sehr viel Hilfe und Unterstützung benötigen und vor Gericht als unglaubwürdig gelten. Ein untragbarer Zustand nicht nur für den einzelnen Menschen selbst, sondern auch für unser Hilfs- und Gesundheitssystem. Es ist eine Facette der strukturellen und epidemischen Gewalt, die über Jahrhunderte gewachsen ist. Dank #metoo und andere auch hier in Deutschland bekannt gewordenen Fälle geht es zwar weiter, jedoch ist der Gegendruck der Täter, ihrer Lobby und den für sie arbeitenden Strukturen enorm und die Familie als Ursprung bleibt in der Regel unbenannt.

„Die Scham muss die Seiten wechseln“, sagte Gisèle Pelicot, die das Glück hatte, mit ihrem Unglück öffentlich werden zu können. Es gibt noch so unendlich viel zu sagen, besonders weil vielen nicht bewusst ist, was für ein Weg der Ausstieg aus dem Tatort Familie bedeutet, wie schwer Aufarbeitung ist und dass der Kontaktabbruch oder auch eine Anzeige nicht die endgültige Lösung ist.

Bei Ihrer Lesung haben Sie mich sehr berührt. Obwohl ich Sie nicht kenne, fühle ich mich verbunden und dachte, ich mache es so wie Sie damals, als Sie über ein Schreiben versucht haben, mutige und laute Gleichgesinnte zu finden. Was wäre es doch für ein Durchbruch, gerade in der heutigen Zeit, wenn sich ähnlich wie bei dem unvergessenen Stern-Titelblatt „Ich habe abgetrieben!“ auch im Thema familiäre sexualisierte Gewalt/Inzest eine ähn­liche Bewegung und Empowerment erzielen ließe. Mein Traum ist ein Aufstand der Inzestüberlebenden.

Meine Erfahrung ist, dass Über­lebende sich Klarheit wünschen und nicht in der kollektiven Verdrängung und der Unsicherheit der Gesellschaft dem Thema gegenüber untergehen wollen. Überlebende sind starke Menschen, keine schwachen, denn sie leben tagtäglich mit dem, was die meisten glauben, nicht aushalten zu können. Es darf keinen „Maulkorb“ für die geben, die ohnehin schon allein sind und durch das Schweigen krank werden. 

El Faro, Verein zur Hilfe und Unterstützung von Opfern sexuellen Missbrauchs & Gewalt, Berlin – www.elfaro.de

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