Leben mit dem Monster

Fotocollage aus der Serie "Puppenhaus" von Cornelia Hediger.
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Jana hat das Monster an die Kette gelegt. „Manchmal rüttelt es noch gewaltig, aber dann weiß ich, was zu tun ist“, sagt sie. Jana ist 35 Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Als sie das erste Mal schwanger war, hat das Monster das letzte Mal so richtig gerüttelt. Was ist, wenn ich zunehme?! Da war sie wieder, diese Scheiß-Panik. Aber Jana hat das Monster im Griff. Bis dahin war es ein langer Weg. Jana arbeitet heute als Therapeutin für essgestörte junge Frauen. Die sollen nicht wissen, dass ausgerechnet die Frau, die Monster verjagt, selbst eins am Hals hat. Deshalb heißt Jana in diesem Text anders als in Wirklichkeit.

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Gerdas Monster hat sich losgerissen. Seither tobt es durch ihr Leben. Das hat Spuren hinterlassen. Die Haut spannt über ihren Knochen und die wachen Augen wirken viel zu groß in ihrem schmalen Gesicht. Gerda ist 55 Jahre alt, verheiratet, studierte Biologin mit Karriere in der Pharmaindustrie. Aber das ist vorbei. Bis vor kurzem war sie in einer Klinik, weil ein Gewicht unter 39 Kilo lebensgefährlich ist. Seit ihrer Entlassung, Gewicht 47 Kilo, fährt Gerda wieder 50 Kilometer Rad am Tag und scheut sich, Kohlenhydrate zu essen. „Manchmal denke ich, ich werde es nicht schaffen“, sagt sie. Gerdas neuer Chef kennt ihr Monster nicht. Deswegen heißt auch sie hier anders als in Wirklichkeit.

Nadines Monster schläft. Oder ist es tot? Schön wäre es! Nadine ist 36 Jahre alt, hat einen fürsorglichen Mann, eine kleine Tochter und einen Job, von dem Nadine prima leben kann. „Mit dem Kotzen bin ich durch“, sagt sie. Nur manchmal, wenn der „innere Druck mal wieder zu groß wird“, wünscht sie sich nochmal das befreiende Gefühl zurück: Essen bis es weh tut – und dann alles raus. Ihrem Mann hat sie von dem Monster nie erzählt. Deshalb will auch sie ihren wahren Namen nicht verraten.

Ich habe Angst, dass mein neuer Chef etwas mitbekommt ...

Dies ist nicht nur die Geschichte von Jana, Gerda und Nadine, sondern die von Millionen erwachsenen Frauen, die auch mit dem Monster leben. Das Monster heißt Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder Binge-Eating-Störung. Das sind die drei großen Formen der Essstörungen. Soweit die Theorie. Die Praxis ist komplizierter. Da treten Mischformen oder ganz atypische Fälle auf, die nicht eindeutig klassifiziert werden können nach den strengen Diagnosekriterien. Dass das Monster nicht nur Teenagerinnen, sondern auch erwachsene Frauen wie Jana, Gerda oder Nadine anfällt, wird nicht nur von den Medien ignoriert. Auch die Forschung zu Essstörungen bei Frauen jenseits der 35 liegt bisher weitestgehend brach.

Kein Wunder: Die Schulmedizin geht davon aus, dass es sich bei den erst seit rund 30 Jahren öffentlich thematisierten Essstörungen um psychische Erkrankungen handelt, die typisch sind für Mädchen in der Pubertät, an der Schwelle zum Erwachsensein. Dann, wenn die „Verletzbarkeit im Leben sehr groß ist.“ So formuliert es Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsklinik Bochum, wo auch Essstörungen behandelt werden. Er sagt: Wenn zum Beispiel eine Frau jenseits der 25 oder 30 an einer Essstörung erkrankt „ist das in der Regel ein Rückfall“. Häufig haben die Frauen „in jungen Jahren schon mal an Anorexie oder Bulimie gelitten.“ Im ersten Jahr nach der Therapie ist laut Herpertz das Rückfallrisiko am höchsten.

Die Prognosen klingen alarmierend: Die Magersucht zum Beispiel nimmt bei jeder zweiten Betroffenen trotz Therapie einen chronischen Verlauf. Bei den einen läuft es wie bei Jana. Sie haben das Monster an der Kette und meistern ihren Alltag. Bei anderen läuft es wie bei Gerda, die heute von einer Erwerbsminderungsrente und einem Mini-Job lebt. Die Magersucht schränkt das Leben massiv ein. Schlimmer noch: „Bei bis zu 15 Prozent nimmt die Krankheit über einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren einen tödlichen Verlauf“, sagt Stephan Herpertz. Die Sterberate bei Magersucht ist so hoch wie bei keiner anderen psychischen Erkrankung.

Bei der Bulimie ist es noch komplizierter: Hier erlebt etwa jede Dritte einen Rückfall. Doch so ganz genau kann man das nicht sagen, denn die Frauen leben oft jahrelang mit der Krankheit, ohne dass jemand etwas bemerkt.

Meinem Mann habe ich nie etwas davon erzählt ...

Dass eine Frau jenseits der 40 erstmalig eine Essstörung entwickelt, hält der Präsident der „Deutschen Gesellschaft für Essstörungen“ für unwahrscheinlich. Denn: „Mit zunehmendem Alter lässt sich eine Frau in ihrem Selbstbild nicht mehr so leicht erschüttern und Selbstwertprobleme nehmen ab. Insbesondere wird sie auf Stress und Lebenskrisen nicht mit Fasten und Diäten reagieren, was die Vorbedingungen für eine Magersucht oder eine Bulimie sind.“ Sind Frauen jenseits der 40 wirklich nicht so leicht zu erschüttern und spielt ihr Körper tatsächlich keine so große Rolle mehr für ihr Selbstwertgefühl? Will sagen: Sind die Ü40 und Ü50 jenseits von Gut und Böse?

ForscherInnen, die genauer nachfragen, kommen inzwischen zu einem anderen Ergebnis. „Es gibt Rückfälle im Alter“, sagt Barbara Mangweth-Matzek. Aber, und das ist der Psychotherapeutin von der Universitätsklinik für Psychiatrie in Innsbruck wichtig: „Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass Frauen über 40 zum ersten Mal eine Essstörung entwickeln.“ Schon seit einiger Zeit beobachtet Mangweth-Matzek, dass die Essstörungspatientinnen nicht nur immer jünger, sondern auch immer älter werden. Deswegen hat sie sich entschieden, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie wertete die wenigen internationalen Studien aus. Und befragte selbst über 800 Österreicherinnen zwischen 40 und 70 nach ihrem Körpergefühl, ihrem Ess- und ihrem Diätverhalten, sowie nach Symptomen in Richtung Essstörungen.

Erstes Ergebnis: Für ältere Frauen hat das Körperbild eine genau so große Bedeutung wie für junge Frauen – und die meisten Frauen sind mit ihrem Körper unzufrieden, unabhängig vom Alter.

Zweitens: Ein essgestörtes Verhalten ist bei Frauen über 40 genau so verbreitet wie bei Frauen unter 30. Die Wechseljahre sind dabei eine besonders verletzliche Phase. Drittens: Viele dieser älteren Frauen haben eine so genannte atypische Essstörung. Dann sind nicht alle Kriterien von Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa erfüllt. Viertens: Bei der Mehrheit der Befragten ist der Magerwahn ins Gegenteil umgeschlagen. Die Frauen leiden an einer so genannten Binge-Eating-Störung. Sie fressen gegen den Frust.

Was all diese Frauen im mittleren Alter gemeinsam haben: Sie verbindet eine „meist ähn­liche Lebenssituation“, sagt Mangweth-Matzek. In ihrer Beziehung sind sie nicht mehr begehrt, die Kinder sind ausgezogen, der Beruf ist langweilig. „Und dann denken sie: Ich muss was ändern. Dann tue ich doch mal etwas für meinen Körper!“ Daraus muss keine Essstörung entstehen. „Warum es in manchen Fällen passiert und in anderen nicht, darüber herrscht nach wie vor keine 100-prozentige Klarheit“, sagt die Psychotherapeutin. Aber Angst vor dem Altern und die Wechseljahre sind wesentliche Faktoren.

Also auch: die Angst vor dem Verlust der Weiblichkeit und des „Begehrtwerdens“. Dieser Anspruch hat sich heute um 10, 20 Jahre verschoben. Auch Frauen über 60 finden, dass sie begehrenswert sein könnten – wenn sie denn nur schlank wären!

Mangweth-Matzek geht davon aus, dass viele dieser Frauen sich keine Hilfe holen, weil sie, wie typisch, noch nicht einmal einen Namen für ihr Problem haben. Oder sie schämen sich und schweigen. „Nehmen sie eine Frau in den Wechseljahren, die eine Essstörung entwickelt. Wie soll die denn offen darüber reden können? Es ist doch schon ein Tabu, überhaupt über Wechseljahre zu sprechen“, sagt Mangweth-Matzek.

Betroffene bleiben unsichtbar, weil es keine Debatte gibt. Und es gibt keine Debatte, weil die Betroffenen unsichtbar bleiben. Dabei machen auch in Deutschland Therapeutinnen ähnliche Beobachtungen wie die Österreicherin. Immer häufiger kommen erwachsene Frauen in die Praxen. Frauen, die am Ende des Studiums nicht mehr klarkommen. Frauen, die schwanger sind. Frauen, die gerade ihren Job verloren haben. Frauen, die eine Scheidung hinter sich haben. Frauen in den Wechseljahren. Frauen, die über einen Todesfall nicht hinwegkommen.

Kurzum: Frauen, deren Leben gerade aus den Fugen gerät. Und die mit dem Mechanismus reagieren, den sie schon von Kindesbeinen an gelernt haben: Wenn sie schon nicht ihr Leben kontrollieren können, dann doch zumindest ihren Körper.

Meine Tochter soll nichts davon erfahren ...

Margrit Hasselmann vom „Landesinstitut für Schule Bremen“, die eigentlich Mädchen über die Gefahren von Essstörungen aufklärt, weiß, dass es besonders schwierig wird, wenn der Körper sich im Alter automatisch verändert: „Der Stoffwechsel und der Hormonhaushalt kippen, der Körper wird schwabbelig, die Haut bekommt Falten, der Bauch wird dicker und die Frauen merken plötzlich, dass sie die Kontrolle verlieren“, sagt sie. In solchen Momenten kann eine Essstörung, die eigentlich als überwunden galt, auch wieder aufflackern.

„Es fängt immer mit einer Diät an“, sagt Doris Weipert, Leiterin des „Forums für Essstörungen“ in Wiesbaden. Auch in ihrer Praxis sitzen heute nicht nur deutlich jüngere, sondern auch deutlich ältere Patientinnen als früher. Teilweise leiden diese Frauen seit Jahrzehnten an einer chronischen Magersucht, mit ständigen Aufs und Abs.

Für diese Frauen ist eine Diät wie Schnaps für einen Ex-Alki. Deswegen ist die promovierte Psychologin Weipert so alarmiert über die zahlreichen Ernährungsphilosophien, die aus dem Internet direkt in die Köpfe der Frauen purzeln. „Wir haben keinen entspannten Umgang mit Essen mehr“, beobachtet sie. Stattdessen jagt ein Ratgeber den nächsten. Worte wie „Diät“ kommen darin gar nicht mehr vor. Heutzutage machen Frauen „Ernährungsumstellungen“. Sie essen keine Kohlenhydrate und keinen Zucker mehr, um „etwas für ihren Körper zu tun“. Sie ernähren sich vegan, um „fit zu sein“. Sie trinken nur noch Gemüsesäfte, um sich „innerlich zu reinigen“. Oder sie machen tagelange „Detoxing-Kuren“, um ihre „weibliche Kraft wieder zu entdecken“. Weipert weiß: „Immer dann, wenn das Essverhalten einer rigiden Systematik folgt, bewegen sich die Frauen an der Schwelle zu einer Essstörung.“ Schon länger kursiert sogar ein Begriff für dieses zwanghaft korrekte Essen: Orthorexia nervosa.

Der Diätterror ist also jetzt mit Tarnkappe unterwegs. Damit kehrt sich sein Image ins Gegenteil. Es wird nicht mehr schräg angeguckt, wer im Restaurant an einem Salatblatt nagt, sondern wer sich ein Schnitzel mit Kartoffelpüree bestellt. Was, du isst nicht nur Fleisch, sondern auch noch Kartoffeln!? Willst du dich etwa umbringen?! Isch des wenigstens bio? Noch besser: bio-regional?!

Dass sich diese Philosophien des „richtigen“ Essens vor allem an Frauen richten, passt zu der uralten Vorstellung, dass das Weib rein und gesund sein soll. Schon wegen der Kinder. Eva Barlösius, Professorin für Soziologie an der Universität Hannover und Autorin der „Soziologie des Essens“, spricht von einer regelrechten „Ernährungsfrömmigkeit“. Das Essen ist zur Ersatzreligion geworden.

Und so fällt es den essgestörten Frauen auch leichter, sich selbst zu betrügen. Denn sie wollen ja „nur aus gesundheitlichen Gründen fünf Kilo abnehmen“. Und aus fünf werden dann zehn. Und aus zehn werden fünfzehn. Und wenn es nicht weitergeht mit dem Gewichtsverlust, kann frau sich ja immer noch den Finger in den Hals stecken.

Die Abnehm-Gurus, die den Frauen die Ernährungsbotschaften überbringen, betreiben geschickt ein Millionen-Geschäft. Wer einmal an einem „Programm“ mit vielversprechenden Titeln wie „I’ll make you sexy!“ teilgenommen hat, merkt schnell: Hier geht es nicht nur darum, kein Brot und keine Nudeln mehr zu essen. Hier geht es um ein Komplettpaket aus Kochen, Sport und Psycho. DU hast dich für diesen Weg entschieden! DU bist stark! DU schaffst das! Und DU bezahlst! Nicht nur die Tipps für den sexy body, sondern auch das passende Sportequipment, die passenden Küchenutensilien, die passenden Ernährungsersatzprodukte, die passenden Klamotten, die weiterführenden Kochbücher und selbstverständlich: das Langzeitprogramm. Damit aus 15 Kilo Minus nicht in Kürze 30 Kilo Plus werden.

Diese Angebote samt Bestellbutton stehen in den gleichen E-Mails und auf den gleichen Webseiten wie die Kochvideos, die beim Abnehmen helfen sollen. Es ist der digitalisierten Ernährungsindustrie gelungen, zwei Prinzipien zu vereinen, mit denen Frauen seit jeher abgezockt werden: die Diät und die Kaffeefahrt. 

Wie viele Frauen inzwischen auf dem Trip sind, ist ungewiss. Die wenigen Zahlen, die es überhaupt zu Essstörungen gibt, sind in der Regel Berechnungen auf Grund diagnostizierter Fälle. Wie paradox das ist, lässt sich an einem Detail beschreiben. Bis vor drei Jahren wurde laut der Diagnosekriterien DSM-IV eine Anorexie nur dann diagnostiziert, wenn auch die Tage ausblieben. Damit waren ältere Frauen, die ihre Tage gar nicht mehr haben, draußen. Das bei Erwachsenen so verbreitete Binge-Eating war da noch gar keine eigene Krankheitskategorie.

Manfred Fichter, der seit vielen Jahren zum Verlauf von Essstörungen forscht und von 1985 bis 2009 Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck am Chiemsee war, die erste Klinik in Deutschland mit Spezialstationen für Betroffene von Essstörungen, schätzt: 0,5 Prozent der Mädchen und Frauen in Deutschland leiden an Magersucht; rund 1,5 Prozent an Bulimia nervosa; und 1,6 Prozent an einer Binge-Eating-Störung. Diese Zahlen beziehen sich allerdings nur auf die „Risikogruppe der 15- bis 35-Jährigen“.

Manchmal denke ich, ich werde es nicht schaffen ...

In Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt derzeit 8.572.468 Frauen in dieser Altersgruppe. Hochgerechnet wären das also 308.608 Fälle. Fichter sagt: „Wenn sie die Dunkelziffer dazuzählen und die Frauen, die auf der Kippe stehen, dann können Sie die bekannten Zahlen verdoppeln, mindestens.“ Und wenn wir die über 35-Jährigen dazurechnen? Dann kämen wir auf Millionen.

Die große Zahl der „Frauen auf der Kippe“ haben einen Leidensdruck, der sich von dem der jungen Frauen mit Volldiagnose nicht unterscheidet. Nicht nur, weil Essstörungen körperliche Schäden zurücklassen. Und nicht nur, weil Essstörungen oft in anderen psychischen Erkrankungen münden, wie Depressionen. Sondern auch, weil Essstörungen das Sozialleben zerstören.

Das fängt mit kleinen Einschränkungen an: Der Restaurantbesuch mit Freundinnen wird abgesagt. Die Hobbys fallen flach – bloß nicht den Körper zeigen. Typische Begleiterscheinungen wie extremer Sport, permanente Einkäufe, die aufwändige Zubereitung nach zwanghaftem Ernährungsplan nehmen die ohnehin knappe Freizeit voll in Anspruch. Von den Kosten mal abgesehen: Insbesondere Fressattacken fressen Geld.

„Wenn sie am Tag für 50 oder 100 Euro essen und alles wieder erbrechen, geben sie monatlich weit über tausend Euro nur für Essen aus. Viele Betroffene verschulden sich immens“, weiß Stephanie Maier von ANAD, dem „Versorgungszentrum Essstörungen“ in München. Dieser Aspekt falle oft unter den Tisch. Maier leitet ambulante Wohngruppen und therapeutisch betreute Einzelwohnungen, in denen essgestörte Frauen Zuflucht finden. Sie kennt Frauen über 40, die sich nicht einmal, sondern mehrmals am Tag erbrechen. „Solche Fälle hatten wir früher nicht“, wundert sich die Sozialpädagogin.

Essstörungen haben das erste Mal in den 60er und 70er Jahren „dramatisch zugenommen“, erklärt Manfred Fichter. Twiggy lässt grüßen! Es war kein Zufall, schrieb die in England arbeitende amerikanische Psychotherapeutin Susie Orbach schon in ihrem 1984 erschienen Klassiker „Anti Diät Buch“, dass die Propagierung des Magerwahns in dieselbe Zeit fiel wie die aufkeimende Emanzipationsbewegung. Auch Alice Schwarzer sah das schon 1984 so: „Männer machen Karriere, Frauen Diäten. Wir sollen uns dünne machen. In jeder Beziehung“, schrieb sie in dem EMMA-Sonderband „Durch dick und dünn“. Dieses Heft brach in Deutschland das Schweigen. Zusammen mit Orbachs Buch löste der EMMA-Band erstmals eine breite Debatte aus und die ersten Hilfsprojekte für Essgestörte.

Wie fängt es an? „Jedes zweite Mädchen fühlt sich heute zu dick“, warnen Maya Götz und Andreas Schnebel in dem Band „Warum seh’ ich nicht so aus?“, den das „Internationale Zentralinstitut für Jugend- und Bildungsfernsehen“ (IZI) zusammen mit ANAD herausgibt. „Bei jedem dritten Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren gibt es Hinweise auf eine Essstörung“, warnte das Robert-Koch-Institut schon 2006 in der KiGGS-Studie. 2006 startete auch die Sendung „Germany’s next Topmodel“, die nachweislich Mädchen zum Hungern verführt. Auch Erwachsene gucken „Germany’s next Topmodel“. Die Sendung unter der Fuchtel von Heidi Klum, die selbst nur sieben Wochen nach der Geburt von Sohn Henry schon wieder für die Dessous-Firma „Victoria’s Secret“ über den Laufsteg stakste.

Das heißt: Jüngere Frauen haben das Problem, dass sie von einer Flut von Bildern meist junger Models mit völlig unrealistischen Körpermaßen schier erschlagen werden. Erwachsene Frauen haben das umgekehrte Problem: Es gibt keine Fotos von älteren Körpern. Das heißt: Auch ältere Frauen sehen immer nur diese extrem jungen, extrem dünnen Models. Mit Körpermaßen, denen die perfektionistischen und ehrgeizigen Essgestörten immer weniger gerecht werden können. Und die Monster zerren an den Ketten. Wie lange werden diese Frauen noch schweigen?  

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Die Bombe im Kopf

Heidi Klum und Wolfgang Joop bei der Fleischbeschau.
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Das unschöne Wort Sex-Bombe hat einen schönen Nebeneffekt: Diese  Frauen haben in der Regel Kurven. Kurven sind wieder in, heißt es. Doch auch wenn es neuerdings wieder Frauen mit Kurven auf den Laufsteg und in die Modekataloge schaffen – warum sollen Frauen und Mädchen sich eigentlich entscheiden müssen zwischen Silikonbrüsten und Skelettkörpern. Beides macht krank. Germany’s Next Top Model ist dabei nicht das einzige Problem. Aber ein besonders großes.

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Die krankhafte Logik liegt in dem Selbstbild, das die Sendung vermittelt

Und so schlug auch diese Nachricht ein wie eine Bombe: Bombendrohung beim Finale von Germany’s Next Topmodel! Von einer Frau! 10.000 ZuschauerInnen mussten während der Live-Übertragung im Mai die SAP-Arena in Mannheim verlassen. Wegen „technischer Probleme“ plärrte es anfangs noch über die Lautsprecher. Da hatte man schon längst die VIPs und deren Gäste in Sicherheit ­gebracht.

Später wird in den Medien stehen, die Anruferin habe Insider-Wissen gehabt. Anders hätte sie die direkte Nummer niemals kennen können, die sie an diesem Abend wählte. Die Frau ist bis zu dem Zeitpunkt, an dem dieser Text geschrieben wird, nicht gefasst. Die Bombe gab es nicht. 

So manche, die die verwackelten Handy-Videos der Evakuation anklickte, konnte sich für eine Sekunde die „klammheimliche Freude“ nicht verkneifen. Die Älteren fühlten sich an die „Rote Zora“ erinnert, den ­feministischen Arm der Polit-Terroristen der 70er und 80er Jahre. Bombendrohung gegen Heidi Klum. Die Frau, die seit zehn Jahren Bomben in Köpfe legt. Mit ihrer „mörderischen Sendung“, die „eiskalt den Tod junger Mädchen in Kauf nimmt“. 

So drastisch formulierte es der Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses für psychisch Kranke in Köln, Manfred Lütz, im Interview. Der Psychiater ist Vater von zwei Töchtern im Alter der Zielgruppe der Modelshow. ProSieben schickte ihm eine Unterlassungserklärung. Lütz unterschrieb nicht.

Der Zorn des Mediziners wurde entfacht durch eine Studie, die das „Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen" (IZI) veröffentlicht hatte. 241 Menschen, vornehmlich Mädchen und junge Frauen, die wegen einer Essstörung in therapeutischer Behandlung sind, waren ­gefragt worden, welchen Einfluss Casting-Shows auf ihre Krankheit haben. Man mag es kaum glauben, aber dieser Zusammenhang wurde bisher so gut wie nicht untersucht.

Ergebnis: Einige der Mädchen sahen die Koch-Show „Das perfekte Dinner“, um sich „satt zu sehen“; andere die Schönheits-OP-Sendung „Extrem schön – endlich ein neues Leben“, um auf die „armen Würstchen“ in der Sendung herabzublicken; noch andere schauten die Abnehm-Schau „The Biggest Loser“, um sich Tipps zu holen. So gut wie alle guckten Germany’s Next Topmodel. Seit 2006 läuft das Laufsteg-Drama, bei 12- bis 22-Jährigen hat die Sendung seither einen Marktanteil zwischen 40 und 50 Prozent. Das heißt auch: Manche Mädchen gucken Germany’s Next Topmodel, seit sie laufen können.

85 Prozent der Befragten erklärten, dass Heidis Modelshow ihrer Meinung nach Essstörungen wie Kotz- und Magersucht verstärken könne. Fast 40 Prozent attestierten der Sendung einen besonders starken Einfluss auf die eigene Erkrankung. Für ­einige war sie sogar der direkte Auslöser. 

Die Frauen verlieren nicht nur auf Fotos ihren Kopf

Der Pressesprecher des Senders, Christoph Körfer, reagierte umgehend auf die Kritik. Ganz im Gegenteil: Gesunde und nachhaltige Ernährung seien ein „wichtiges Thema der Show“, behauptete er. Das Schönheitsideal Size Zero hingegen spiele in Germany’s Next Topmodel „keine Rolle“. – Da möchte frau auch ohne Bulimie kurz kotzen gehen. Am besten vor die ProSieben-Sendezentrale.

Bei jedem dritten Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren gibt es heute Hinweise auf eine Essstörung. Bei mindestens zwei von 100 ist die Störung eskaliert zu einer schweren psychosomatischen Krankheit wie Bulimie oder Magersucht. Das sind die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer ist um vieles, vieles höher. Ein eindeutiges Krankheitsbild gibt es ohnehin nicht, aber unendlich viele Zwischenformen. Klar ist: Essstörungen sind wie Herpes an der Seele. Den Scheiß hast du ewig!

Und – auch das bestätigt die Studie des IZI: Sie sind Symptom für ein tiefer liegendes Leiden, das die Betroffene oft weder artikulieren noch kontrollieren kann. Stattdessen beginnt sie die wahnhafte Kontrolle über den eigenen Körper. Bis hin zur Selbstzerstörung. Shows wie die von Heidi Klum liefern Mädchen hierfür die perfekte Anleitung, schreiben Maya Götz, Caroline Mendel und Sarah Malewski, die Autorinnen der Studie.

Das „Krankmachende in der Logik von GNTM“ liege aber nicht nur in dem Vorgaukeln völlig unrealistischer Körpermaße: Nur vier Prozent aller Frauen wären körperlich überhaupt in der Lage, einem Supermodel zu entsprechen. Sondern die krankhafte Logik liegt in dem Selbstbild, das die Sendung den Mädchen vermittelt. Heidi erzieht die Frauen zum maximalen Gehorsam, zum Nicht-Auffallen und Nicht-Stören, kurz – wie EMMA schon 1984 in einem Sonderheft über Essstörungen warnte: Zum Dünne machen! Das Symbol für diese Disziplin ist der eigene, perfekte Körper, den es zu vermarkten gilt. Wer keinen perfekten Körper hat, ist selbst schuld und hat nicht genügend Ehrgeiz. Und, klar, isst zu viel.

„Der Frust, das Unwohlsein und die Minderwertigkeitsgefühle, die während der Rezeption (Anm.d.Red.: von Klums Show) entstehen, führen jedoch (leider) nicht dazu, einfach abzuschalten oder Rezeptionsmuster voller Widerstand gegen die Eigenlogik der Sendung zu entwickeln“, erklären die Wissenschaftlerinnen. Sondern zu noch mehr Komplexen und noch mehr Anpassung. Das Perfide: Gerade die leistungs­starken Mädchen mit Hang zur Perfektion sind davon besonders betroffen. 

Die Kommission für Jugendmedienschutz prüft nun die „jugendgefährdende Wirkung“ der Kultsendung. Mit Blick auf die sinkenden Einschaltquoten wird sich Heidis Drillorgie vielleicht auch von alleine erledigen. Einen Vorgeschmack auf das Ende lieferte das „Nachhol-Finale“. Es hatte den Charme einer Vorstadtdisko-Misswahl – trotz New Yorks Glitzerkulisse.

Gerade leistungs­starken Mädchen sind besonders betroffen

Bloß für Mädchen und Frauen bleibt der Alltag auch ohne Modelshow ein Minesweeper-Spiel: Überall Schlankheitswahn-Bomben! Unter dem Hashtag #thinspiration oder #thinspo zum Beispiel teilen junge Frauen im Netz Fotos von abgemagerten Körpern als Inspiration zum Hungern. Das ForscherInnenteam Jannath Ghaznavi und Laramie D. Taylor der University of California haben mit ihrer Studie zu diesem relativ neuen ­Phänomen Diskussionsstoff geliefert. Ihre Analyse von 300 Fotos auf Pinterest und Twitter ergab: Die in der Regel in sexy Posen dargestellten Frauenkörper sind nicht nur ­abgemagert bis auf die Knochen – ihnen wird meistens auch noch der Kopf abgeschnitten. „Man stelle sich eine Teenagerin vor, die im Netz unter den Schlagwörtern ‚attraktiv‘, ‚schön‘ oder ‚fit‘ nach Inspiration sucht. Sie wird vor allem Fotos von dürren, leicht bekleideten, sexualisierten, kopflosen Körperteilen finden“, sagt Ghaznavi.

Aus der Hirnforschung wissen Experten heute, dass Magersucht auch das Hirn schrumpfen lässt. In den meisten Fällen normalisiert sich die Größe, wenn die Person wieder an Gewicht zulegt. Aber manchmal kommt es zu Spätfolgen wie Depressionen oder Angstzuständen. Die Frauen verlieren also nicht nur auf Fotos ihren Kopf – sondern auch im ganz realen Leben.

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