Alice Schwarzer schreibt

Margarete Stokowski: Eine eigene Stimme

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Von welcher Perspektive aus sie schreibt, ist auf Seite 23 nachzulesen. Da räsoniert sie über den Schlüsselsatz von Simone de Beauvoir im „Anderen Geschlecht“: „On ne nait pas femme, on le devient“. Was im Deutschen mal übersetzt wird mit: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht“, mal mit: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Variante eins setzt den Akzent stärker auf das passiv erlittene Gemachtwerden von „Weiblichkeit“ bzw. „Männlichkeit“; Doing gender, wie es heute heißt. Variante zwei lässt die Entstehung offen: Man wird es. Aber wie?

67 Jahre nach Erscheinen des „Anderen Geschlechts“ und über 40 Jahre nach Aufbruch der Neuen Frauenbewegung macht sich die nachgeborene Margarete Stokowski, 30, in ihrem 252-Seiten-Essay auf die Suche nach den Spuren ihrer eigenen Prägungen. Sie will herausfinden: Wie bin ich die Frau geworden, die ich bin? Haben die anderen mich in eine Rolle gezwungen – oder habe ich auch selber dabei mitgemacht? Und wenn ja, wie und warum? Sie war zwei Jahre alt, als ihre polnischen Eltern mit ihr nach Deutschland, genauer Berlin-Neukölln zogen. (Vielleicht ist es dieser Bruch, der ihr den Abstand für einen anderen Blick gibt.) Der Weg des kleinen Mädchens aus der katholischen Schule führte die brillante Philosophie-Studentin zunächst nach Berlin-Mitte und sodann in ein Haus auf dem Land im Brandenburgischen.

Im Alter von fünf Jahren hatte Margarete sich noch entschieden dagegen verwahrt, für einen Jungen gehalten zu werden, nur weil sie von der Mutter so hergerichtet worden war. Als Mädchen und Teenager versinkt sie in einer Rosa-Welt, obwohl sie schon mit zwölf Physikerin werden will, „so wie Marie Curie“, und mit 16 leidenschaftlich Schach spielt.

Das Schachspielen vergeht ihr, nachdem sie vom Schachgruppenleiter Rüdiger, ein erwachsener Mann mit Tochter im Ballettunterricht, so ganz en passant vergewaltigt wird. Die 16-jährige Margarete hat, 23 Jahre nach Erscheinen von Susan Brownmillers „Gegen unseren Willen“, keine Worte für das, was ihr da auf dem zurückgeklappten Autositz im Grunewald widerfahren ist. Darum kann sie auch nicht darüber reden. Aber sie beginnt, sich zu ritzen.

Auch die Hungersucht bleibt ihr als Teenager nicht erspart. Über die allerdings ist die Erwachsene gelassen hinaus. Als eine Frauenärztin ihr – mit Blick auf den halbnackten Körper im Gynäkologenstuhl – jüngst zu verstehen gab, sie solle mal fünf Kilo abnehmen, da kriegt sie die Wut. Aber erst anschließend. Zunächst fehlen ihr immer noch die Worte.

Inzwischen hat Margarete Stokowski sich aus dem weiblichen Verstummtsein hinausgeschrieben und aus der weiblichen Passivität hinausgehandelt. Sie zitiert Angela Merkel, die einmal gesagt habe, „sie beneide Männer eigentlich nur um zwei Dinge: um ihre tiefen Stimmen und ums Holzhacken“. Stokowskis stolze Antwort lautet: „Stimmtraining ist möglich und Holzhacken erst recht.“ Und sie beweist es, hat vor ein paar Jahren einen Motorsägeschein gemacht und wärmt sich heute an dem dank der selbst gefällten Bäume glühenden Ofen. Also ein Happyend für unsere Autorin?

Nicht ganz. Denn es gibt da noch ein paar Probleme. Die sehr kluge und sehr bewusste Margarete Stokowski weiß darum. Auch wenn sie sich vorwiegend den Problemen dicht bei sich widmet. Die Weltlage beschäftigt sie weniger. Aber muss ja auch nicht. Frau kann schließlich nicht immer von allem gleichzeitig reden. Und Emanzipation beginnt bekanntermaßen bei sich selbst. Also fängt Stokowski mit dem „Untenrum“ an. Denn schließlich: „Wir können nicht untenrum frei sein, wenn wir es obenrum nicht sind, und umgekehrt. Das ‚Untenrum‘ ist der Sex und das ‚Obenrum‘ unser Verständnis von uns selbst und den anderen – und beides gehört zusammen.“

Zwei heiße Themen allerdings meidet Stokowski, die als SpiegelOnline-Kolumnistin auch journalistisch schreibt, wohl nicht zufällig: die Prostitution und den Islamismus. Dabei bewegen diese beiden Themen den internationalen Feminismus, durchaus kontrovers.

Bei der Prostitution stiehlt die Autorin sich raus, indem sie einmal knapp die „Prostituierten und Sexarbeiterinnen“ erwähnt, also die überwältigende Mehrheit der Ausgebeuteten und die Minderheit der „Freiwilligen“ gleichwertig nebeneinander stellt; Letztere lassen in der Regel andere anschaffen, als Bordell- und Studio-Betreiberinnen. Und zum Islamismus liefert Stokowski nur einen pseudo-kryptischen Satz: „Nicht alles, was im Namen des Feminismus geschieht, ist gut: Es gibt Frauen, die sich Feministinnen nennen und im selben Atemzug muslimischen Frauen die Fähigkeit absprechen, für sich selbst zu entscheiden.“
Dreimal dürfen wir raten. Meint Stokowski damit die Feministinnen, die Kopftuch und Burka als politisches Symbol verstehen und der Behauptung widersprechen, die Millionen Zwangsverschleierten in den islamistisch beherrschten oder tyrannisierten Ländern – sowie auch mitten unter uns – würden dies „freiwillig“ entscheiden? Oder meint sie die Feministinnen, für die das Kopftuch, ja sogar die Burka „nur ein Stück Stoff“ und eine „freiwillige“ Entscheidung sind? Zu befürchten ist: Sie meint die Kritikerinnen der islamistischen Verschleierung.

Dennoch, kein Zweifel, innerhalb dieser feministischen Szene, in deren Kontext sie sich in ihren „Danksagungen“ am Schluss stellt, ist Stokowski die zurzeit originärste Stimme. Da wird nichts kopiert. Da wird Eigenes durchlebt und durchdacht. Was nicht nur für die Stokowski-Generation interessant ist – die dieselben TVTrash-Serien gesehen und die gleichen Enthaarungs- und Gleitcremes benutzt hat – sondern auch für die ein, zwei Feministinnen-Generationen vor ihr. Denn die können bei ihr nachlesen, dass es hier zwar immer noch um dieselben Kernprobleme geht wie einst – Sexualität & Macht, Körper & Welt, Männer & Frauen –, dass sich jedoch die Bedingungen geändert haben.

Äußere Fesseln sind gefallen, innere Fesseln dafür umso enger gezurrt. Die Pionierinnen-Generation brachte Himalaya-Probleme wie das Berufsverbot für verheiratete Frauen (bzw. die dafür notwendige Erlaubnis des Mannes, 1976) zu Fall, oder das Recht des Ehemannes auf Vergewaltigung seiner Frau (1997). Und
sie brach Tabus wie den Missbrauch von Kindern oder die (Un)Lust der Frauen. Was die Töchter des Feminismus in der Illusion der Gleichberechtigung wiegte. Die Enkelinnen entdecken nun: Shit, wir machen den ganzen Quatsch wie Gefallenwollen-durch-Kleinmachen und Zurückstecken-aus-Liebe ja auch – aber jetzt
„freiwillig“.

„Wie kann die Zukunft aussehen?“ fragt sich Stokowski auf Seite 184 und antwortet zum Weg dahin: „Viele Feministinnen setzen sich heute nicht mehr nur für Geschlechtergerechtigkeit ein, sondern auch gegen andere Diskriminierungsformen.“ Heute? Nicht nur? Die Unterstellung, dass das „neu“ sei, ist bei einer so
belesenen Frau wie der Autorin nun doch überraschend, genauer: beunruhigend.

Kann Wissen über die Geschichte des Feminismus so total wegbrechen? Denn schließlich sind sowohl die Historische wie auch die Neue Frauenbewegung überhaupt erst durch den Kampf gegen die Ungerechtigkeit in der Welt entstanden, wie Sklaverei oder Klassengesellschaft.  Für meine Feministinnen-Generation gehört selbstverständlich beides zusammen! Erst durch unser Engagement für die Gerechtigkeit für alle, bis hin zum letzten bolivianischen Bauern, haben wir irgendwann entdeckt, dass es immer nur um die Gerechtigkeit für die Anderen ging – wir als Frauen aber noch nicht einmal mitgedacht waren. Der heutige Begriff der „Intersektionalität“ für den feministischen Kampf gegen alle Diskriminierungen und Machtverhältnisse mag also neu sein (und wie so vieles in dieser selbstverliebten Szene unverständlich für die meisten Menschen), die Haltung aber ist uralt.

Auch die „Selbstaufgabe aus Liebe“ und „der weibliche Körper als Schlachtfeld“ waren früh zentrale feministische Themen: von „Sexus und Herrschaft“ (Millett, 1971) über „Frauenbefreiung und sexuelle Revolution (Firestone, 1975) bis hin zu „Der kleine Unterschied“ (Schwarzer, 1975). Mehr noch: Fast alles, was Margarete Stokowski und ihre Mitstreiterinnen heute wieder beschäftigt, stand schon vor einem Jahrhundert bei Hedwig Dohm (die in der Tat auch von ihr zitiert wird) und vor über einem halben Jahrhundert bei Simone de Beauvoir und den Neuen Feministinnen: vom Sex & Gender über die Konstruktion der Geschlechter bis hin zum Eigenanteil der Frauen an ihrer Misere.

Die Paradigmenwechsel sind nicht wirklich welche, sondern nur neue Begrifflichkeiten für die alte Sache. Doch vielleicht sind vier Frauengenerationen in der Tat nicht viel im Verhältnis zu (mindestens) viertausend Jahren Patriarchat (siehe „Die Entstehung des Patriarchats“ von Gerda Lerner). Und vielleicht müssen wir uns damit abfinden, dass jede neue Frauengeneration immer wieder neu zu stolz ist, zum „anderen Geschlecht“ zu gehören, zu diesen relativen Wesen. Und dass jede neue Frauengeneration den Muttermord begehen muss, um selber in die Welt treten zu können (Warum Söhne nicht ihre Väter umbringen müssen, sondern
deren Flamme oft einfach weitertragen – das wäre auch mal eine interessante feministische Frage).

In einem Gespräch mit Susanne Mayer in der Zeit sagt Stokowski den schönen Satz: „Ich habe mich als Feministin erst in dem Moment bezeichnet, in dem ich gemerkt habe, dass guter Sex so anders ist als das ganze Zwanghafte und Gewalttätige oder auch nur Unfreie.“ Ja, so ging es so mancher.

Eine kleine Schwäche von Stokowskis Essay ist die Demonstration ihres breiten Bildungskanons, von Hegel bis Heller. Dass sie das alles gelesen hat, wunderbar. Nur – muss sie es auch beweisen? Denn eines ist schon jetzt klar: Margarete Stokowski kann sich auf ihre eigene Stimme verlassen.

Alice Schwarzer

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Margarete Stokowski: Untenrum frei (Rowohlt, 19.95 €)

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