War etwa sie aktiv?

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Vor kurzem war ich auf einer Hochzeit in der Ukraine, in der Nähe von Lemberg. Die Hochzeitsgemeinschaft bestand aus 120 Gästen, fast alle kamen aus einem kleinen Provinzdorf. Irgendwann im Lauf des Abends fragte mich der Cousin meines Freundes, ob ich nicht mit ihm kommen wolle, die Kellnerinnen anbaggern. Ich folgte ihm und machte eine Punktlandung. Es genügte, mich vorzustellen.

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Als Ausländer aus dem Westen hat man in Osteuropa ohnehin einen vielfach erhöhten Marktwert. Wenn man sich dazu noch die Mühe gemacht hat, Ukrainisch zu lernen, reicht das, um bei den meisten Ukrainerinnen eine so spontane wie nachhaltige Zuneigung auszulösen. In diesem Fall reichte es sogar für einen Heiratsantrag. Schon nach zehn Minuten gab mir die hübsche Olga zu verstehen, dass sie einen Ehemann suche, und ich der Richtige sei. „Was zählt, ist der Charakter“, fügte sie noch hinzu.

Trotzdem fühlte ich mich eher als Objekt denn als Subjekt. In Deutschland ist die Gefahr, dass mir so etwas passiert, bis auf weiteres begrenzt. Als Mann steckt man da eher in der Rolle des potentiellen Triebtäters. Letztendlich ist es aber egal: Weder für die einen noch für die anderen ist es befriedigend, so funktionalisiert zu werden.

Für einen guten, emanzipierten Flirt braucht es mehr. Man muss ausbrechen aus den einengenden Geschlechterrollen. Auch wenn die Grundlage des Flirtens natürlich immer noch die erotische Anziehung bleibt.
Vor ein paar Jahren, als ich noch studierte, verabredete ich mich mit einem türkischstämmigen Kommilitonen auf einer Party. Als ich ankam, war er bereits im Gespräch mit einer hübschen Frau. Schon nach einer halben Stunde musste er weg, vorher ließ er sich aber noch ihre Telefonnummer geben und kündigte an, er werde sie bald anrufen, dann würde er ein paar Fotos von ihr machen und sie auf das Cover der Zeitung bringen, für die er schreibe.

Obwohl ich müde war, unterhielt ich mich noch ein wenig mit ihr. Sie erzählte mir von ihren Kunstprojekten und störte sich nicht daran, dass sie mir ihren Namen dreimal ins Ohr schreien musste, bis ich ihn verstand. Sie interessierte sich für meine Haltung zur Welt im Allgemeinen und fing irgendwann auch noch an, sehr körperbetont zu tanzen.

Weil sie nur für ein paar Tage aus Frankreich zu Besuch war, trafen wir uns am nächsten Tag gleich wieder. Vorher informierte ich aber noch meinen Freund und erklärte ihm, dass es mir leid tue, aber wir uns so außergewöhnlich gut verstanden hätten, dass ich die Frau nun einfach treffen müsse. Er hatte dafür wenig Verständnis: „Mann, Johnny, die hatte ich doch klargemacht!“ beschwerte er sich. Danach meldete er sich kaum noch bei mir.

Umso besser klappte es mit der Französin.

Nach fünf intensiven gemeinsamen Tagen fuhr sie nach Hause. Anschließend führten wir ein halbes Jahr lang eine Fernbeziehung, folgten einander in mehrere Länder, heirateten irgendwann, und leben heute, nach fast sechs Jahren, immer noch zusammen.

Als wir Jahre später von unserem ersten Abend sprachen, erklärte meine Frau: „An diesem Abend habe ich ja die Initiative ergriffen. Denn wenn es mir wichtig ist, lasse ich es ungern auf die Willkür des Mannes ankommen.“ Ich war erstaunt. Schließlich hatte ich mich selbst als deutlich aktiver wahrgenommen. Aber vielleicht muss es ja genau so sein bei einem emanzipierten Flirt: Beide sind aktiv; beide haben das Gefühl, die Richtung zu bestimmen. So kann es weitergehen.

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