Bettina Flitner: Erinnern an die DDR

Zusammengeklebter Kopf von Karl Marx im Kulturhaus Mestlin. - Fotos: © Bettina Flitner.
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"Was fühlen Sie jetzt?“ Diese Frage stellte Bettina Flitner im Frühsommer 1990 Menschen aus Ost und West, als sie zwei Monate lang den nun brachliegenden Grenzstreifen an der Berliner Mauer erkundete. Und bekam Antworten wie diese von einer alten Frau: „Ich hab 500 Mark im Monat. Früher hat das Essen 30 Pfennige gekostet. Jetzt kommt’s aus dem Westen und kostet ab nächste Woche 4 Mark. Dann hör ich auf zu essen und spar auf die Beerdigung.“ – Oder die von einem Ehepaar: „Aus dem Osten? Nee. Wir wohnen seit 30 Jahren in Kreuzberg. Wir waren noch nie drüben. Da gehen wir auch nicht hin. Was sollen wir denn da?“

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"Da war was mit einer Mauer... Die DDR war abgetrennt von Deutschland. Und im Westen gab es Bananen und Schokolade." - Johanna, 14
"Da war was mit einer Mauer... Die DDR war abgetrennt von Deutschland. Und im Westen gab es Bananen und Schokolade." - Johanna, 14

Die Fotografin hört zu. „Manche erzählen mir in diesem Niemandsland ihr ganzes Leben. Oft bin ich abends so beladen mit Schicksalen, dass ich erstmal einen Tag Pause machen muss. Im Fernsehen Jubelbilder zur Einführung der D-Mark…“, schreibt sie damals. Was die Menschen ihr erzählen, komprimiert sie zu Zitaten, die sie mit ihren Fotos kombiniert (zum Fotoprojekt "Niemandsland").

Ein knappes Vierteljahrhundert später tut sie dasselbe in Mestlin, einem ehemaligen „sozialistischen Musterdorf“ in Mecklenburg-Vorpommern, in dem sie für einige Wochen lebt. Dort fragt sie: „Was ist die DDR für dich?“ (Zum Fotoprojekt "Musterdorf Mestlin").

Über ihre Zeit und ihre Erfahrungen in Mestlin schrieb Flitner eine genau beobachtete Reportage in EMMA: „Das Früher liegt jetzt hinter einem roten Vorhang. Der ist ganz zugezogen. Ob ich mal dahintergucken kann, frage ich Agnes. Agnes erhebt sich und schiebt den roten Vorhang langsam beiseite, dahinter ist eine Tür. Als sich der Schlüssel endlich dreht und die Tür sich öffnet, wird es plötzlich ganz kühl und dämmrig. Rechts, am Ende des Ganges, zeichnet sich ein Wandfresko ab. ‚Alles mit dem Volk, alles durch das Volk, alles für das Volk‘ steht über dem Bild, auf dem ein Traktor, ein Bauarbeiter und zwei Schüler mit Spaten zu sehen sind. ‚Ist doch schön, oder?', murmelt Agnes.

Das zwischen 1952 und 1957 erbaute Musterdorf wurde mit der Wende abgewickelt. „Die Kulisse steht noch, auch wenn sie bröckelt“, schrieb Flitner. „Nur, wie sieht es innen aus, in den Menschen?“ Das wollte die Fotografin genau wissen – und fragte nach.

„Diese Bild-Textkombination ist das Markenzeichen der Fotografin. Umbrüche, Widersprüche und Eindrücke sind es, die sie sucht und ins rechte Licht setzt. Immer stehen die Menschen dabei im Mittelpunkt“, beschreibt der Aussteller die Arbeitsmethode von Bettina Flitner. Bis Anfang 2024 sind beide Ausstellungen zur deutsch-deutschen Geschichte in der Berliner Kulturbrauerei zu sehen. 

„Niemandsland und Musterdorf – Fotoreportagen von Bettina Flitner 1990/2014“. Bis Anfang 2024 im Museum in der Kulturbrauerei, Berlin

www.bettinaflitner.de

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