Soldatin unter Männern

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Mit 23 ging sie zur Army. Für ihre Kameraden im Irak war sie die Schlampe oder Zicke – für die Besiegten die Folternde.
Immer noch wache ich manchmal frühmorgens auf und habe vergessen, dass ich keine Schlampe bin. Draußen ist es nicht mehr ganz dunkel, aber auch noch nicht ganz hell, und ich liege still da und versuche mir klar zu machen, dass ich das nicht bin. Manchmal, an den besseren Tagen, gelingt mir das auf Anhieb. Aber leider nicht an all den andern Tagen. Schlampe. Oder Zicke. Als Soldatin hast du bloß die Wahl zwischen diesen beiden.
Ich bin 28 Jahre alt. Fünf Jahre bei der militärischen Aufklärung, hier und im Irak. Ich gehöre zu den 15 Prozent der US-Armee, die weiblich sind. Und ebendiese 15 Prozent kämpfen gegen die Einschätzung, die sich in dem dämlichen Witz ausdrückt: „Was ist der Unterschied zwischen einer Zicke und einer Schlampe? Die Schlampe hat Sex mit jedem und die Zicke hat Sex mit jedem außer mit dir.“
Eine Soldatin muss sich abhärten. Nicht nur gegen den Feind, den Kampf oder den Tod. Sie muss sich innerlich darauf einstellen, dass sie sich monatelang in einer Horde rappeliger, übererregter Männer bewegt, die, wenn sie nicht gerade Angst haben umzukommen, immer nur an das eine denken. Sie starren dich die ganze Zeit an, glotzen auf deine Brüste, deinen Hintern, als ob es sonst nichts zu sehen gäbe, keine Sonne, keinen Fluss, keine Wüste oder keine nächtlichen Mörsergranaten. Aber die Sache ist noch vertrackter. Weil nämlich dein innerer Widerstand nachlässt. Ihre Blicke, ihre sexuelle Gier, sicher, die sind demütigend, aber du wirst durch sie auch zu etwas Besonderem. Ich möchte es eigentlich gar nicht aussprechen, weil es in der Seele wehtut, aber ihre Aufmerksamkeit, ihre Bewunderung, ihre Not: Die verleihen dir Macht. Als Frau in der Armee spielt dein Aussehen keine Rolle. Alles was zählt, ist, dass du weiblich bist. Im Irak hatte ich das Gefühl, dass ich mit der Rolle als „Königin für ein Jahr“ zurechtkommen könnte. Aber sie machte mir dann doch zu schaffen. Machte mich doch wütend. Ich weiß noch, dass der Gang durch die Kantine am Flugplatz einem Spießrutenlauf glich. Die Jungs hörten nicht auf, einen anzuglotzen. Manchmal fühlte ich mich wie im Zoo. Sie brauchten einen nur zu sehen und schon machten sie unpassende Bemerkungen. Und zwar ständig. Manchmal allerdings überkam es mich, und ich provozierte die Männer mit meinem Auftreten. Wie findet ihr mich? Schaut mich an. Nicht anfassen! Gelegentlich stieg mir die Sache also doch zu Kopf. Auch die Frauen rissen Witze. Es lag einfach am Ort. Das Leben dort hat uns allen den Kopf verdreht. Das Ganze war wie ein eigener, unblutiger Kampf im Rahmen des größeren, tödlichen Kriegs.
Dazu eine Geschichte. Wir saßen auf einem Berg nahe der syrischen Grenze. Damals war ich möglicherweise weiter draußen eingesetzt als alle anderen Soldatinnen im Irak. Ich war allein. Ich meine, allein mit den Jungs. Wochenlang. Sie waren frustriert. In geiler Stimmung. Sprachen ungeniert vom Abspritzen. Wir saßen in der gleißenden Sonne, es war glühend heiß, und wir hatten ziemlich wenig zu tun. – „Zeig uns deine Titten, du Zicke!“ Machogeschwätz. – „Nein.“ – „Ach komm, Kayla. Heb doch mal dein T-Shirt hoch. Bloß für einen Moment. Bitte! Zeig uns, was du hast!“ – „Nein.“ Grundsätzlich hatte ich nichts dagegen. Im College hatte ich für Aktkurse Modell gesessen. Ich hatte keine Hemmungen, meinen Körper zu zeigen. Doch machten die Typen in meinen Augen einen echten Fehler. Sie fingen an zusammenzuschmeißen. Zehn Dollar. Zwanzig. Vierzig. Fünf­undsechzig. Achtzig Dollar. Sie kamen bis 87 Dollar, und dann warf ein Klugscheißer ein paar M&Ms dazu, die er heimlich beiseite geschafft hatte. Sie machten mir ihr Angebot.
„Los, Kayla. Hier ist sauer verdientes amerikanisches Geld. Onkel Sams allmächtiger Dollar. Plus die M&Ms. Wir wissen doch, wie gern du M&Ms magst. Jetzt zeig uns deine verdammten Titten!“ – „Verpisst euch, ihr Arschlöcher!“ Die Sache war gelaufen. Ich hätte es ja vielleicht freiwillig gemacht. Für Geld nie. Für wen hielten mich diese Kerle? Für eine Hure?
Eines Nachts, nachdem ich aus Mossul zu unserem Posten im Gebirge zurückgekehrt bin, komme ich wieder einmal gegen zwei Uhr morgens von der Schicht, und ich bin überhaupt noch nicht schläfrig. Also wandere ich rüber zum Beobachtungsposten von COLT, um Matt zu besuchen. Ich weiß, wann sie ihre Schichten haben und dass Matt um just diese Zeit mit seiner Schicht anfängt. Ich will ihm Gesellschaft leisten, bis ich reif für die Falle bin. Es ist finster, nicht pechschwarz, aber richtig finster. Ich muss also nahe ran, bis ich sehen kann, wer da ist. „Hey, wo ist Matt?“ Es ist Rivers. „Ach“, sagt er lächelnd. „Ich habe ihn für seine Schicht nicht geweckt.“ Ich blicke um mich. „Warum das denn?“ – „Wieso?“, sagt er. „Ist doch kein Problem.“ Von einem Rivers lasse ich mich nicht in die Flucht schlagen, denke ich. Und außerdem gehört es sich für eine Frau auch nicht, unhöflich gleich wieder abzuhauen, nach dem Motto Okay, tschüss! Zu dir wollt’ ich sowieso nicht! „Sicher“, sage ich zögernd. „Kein Problem.“ Also stehe ich unbehaglich herum. Rivers und ich machen Smalltalk. Dann geht es plötzlich ruckzuck. Es ist finster, aber nicht so finster, dass ich nicht irgendwann mitbekomme, dass Rivers’ Hose offen steht. Dass er die eine Hand auf seinem Penis hat. Und dann hat er plötzlich auch eine Hand auf meinem Arm. Er zieht mich ziemlich kräftig an sich und steuert meine Hand zwischen seine Beine. „Was, verdammt noch mal …“ Ich weiche heftig zurück, aber Rivers ist stark. Er hält immer noch meinen Arm gefasst und hindert mich so, von ihm loszukommen. „Nein“, sage ich. „Nein, nein, nein, nein. Lass mich los. Lass mich, verdammt noch mal, los.“ „Was?“ Er klingt ehrlich erstaunt. „Niemand muss es erfahren. Wir brauchen es ja niemandem zu sagen.“ – „Idiot“, sage ich so ruhig, wie ich kann, während ich immer noch versuche, meinen Arm seinem Griff zu entreißen. „Ich bin nicht interessiert. Ich will das nicht.“ Ich überlege krampfhaft, wie ich den Kerl abschütteln kann. „Du Idiot, was ist mit deiner Freundin? Deiner Braut? Sie ist doch eine richtig hübsche Frau. Solltest du nicht auch an sie denken?“ – „Sie spielt keine Rolle. Und außerdem erfährt es ja niemand.“ Allmählich werde ich wütend. Ich weiß, dass ich mich besser wehren kann als damals mit 13, und ich habe meine Waffe – aber das hier ist beängstigend. Wie dieser Kerl mich mit Gewalt festhält. Irgendwo weiß ich auch, dass ich schreien kann und Matt wahrscheinlich aufwachen würde. Aber trotzdem …
Das Beschämende ist, in einer Lage zu sein, wo man vielleicht zu diesem Mittel greifen muss. Um Hilfe rufen muss. Wie irgendein blödes Dämchen in Nöten. Und der Gedanke, dass man dann erklären müsste, was hier gerade passiert ist. Aber schließlich lockert Rivers seinen Griff um meinen Arm. Er lässt mich los. Ich mache mich davon und gehe zu meinem Fahrzeug zurück. Als ich mich in dieser Nacht hinlege, denke ich: Das werde ich melden müssen.
Am nächsten Morgen schreibe ich gerade den Vorfall in mein Tagebuch, als Rivers auftaucht. „Hör mal, Kayla“, sagt er – ein begossener Pudel, wie er im Buch steht. Er schaut überall hin, nur mich sieht er nicht an. „Ich entschuldige mich. Ich war da völlig von der Rolle. Ich hoffe, du trägst es mir nicht nach. Es war blöd, und es war falsch. Ich hoffe also, dass du, na ja, meine Entschuldigung wegen dieser Sache annimmst.“ Kaum hat er es gesagt – weg ist er. Das gibt mir den Rest. Ich habe diesen ganzen berechtigten Zorn in mir aufgestaut. Und – puff! Eine Entschuldigung? Ich fühle mich betrogen: Dieser Kerl schlägt gewaltig über die Stränge, und jetzt verschafft er sich die Möglichkeit, alles erledigt sein zu lassen. Weil es ihm jetzt leid tut? Aber er hat sich doch entschuldigt, denke ich. Vielleicht hat er was verstanden. Vielleicht hat er es begriffen. Also verzichte ich darauf, von dem Vorfall mit Rivers irgendjemandem umgehend Mitteilung zu machen. Ich muss auch davon ausgehen, dass die Jungs sich alle hinter ihn stellen würden, wenn es zum Äußersten käme. Er gehört zu ihrem Trupp, zu ihrer Einheit, ihrem Spezialistenteam. Gehört zu den Jungs. Sosehr die Armee auch bemüht ist, es zu leugnen – Frauen, die Beschwerden einreichen, die unter die „equal opportunity“-Regeln (Gleichbehandlungsregeln) fallen, sind in der Truppe schlecht angesehen. Selbst wenn Frauen von den obersten Vorgesetzen ermuntert werden, sexuelle Belästigungen zu Protokoll zu geben, sich bei Vorfällen dieser Art zu Wort zu melden – in Wirklichkeit bekommt man Steine in den Weg gelegt.
Selbst Frauen mögen keine Frauen, die solche Beschwerden einreichen – sie wollen nicht, dass schlafende Hunde geweckt werden. Die Frauen wollen nicht in den Verdacht geraten, mutwillig mit Beschwerden um sich zu werfen. Nach wie vor ist die Annahme verbreitet, dass Frauen Belästigungen erfinden, um sich Vorteile zu verschaffen – um ihre Karrieren zu befördern oder um jemanden, den sie nicht leiden können, abzustrafen. Die Sache ist also höchst riskant. Schließlich rede ich mit Staff Sergeant Kelly. „Sagen Sie, wenn etwas mit einem der Jungs in Ihrer Einheit vorfällt, was ich richtig unannehmbar finde, meinen Sie, dass ich dann einem von Ihnen davon erzählen sollte. Zum Beispiel Ihnen oder Sergeant First Class Jakubiak?“ – „Ja“, sagt Kelly. Er fordert keine weiteren Erläuterungen. „Sie sollten unbedingt mit jemandem darüber reden.“ Kurz danach rede ich dann mit Sergeant First Class Jakubiak und berichte ihm, was passiert ist. Ich bitte ihn, nichts davon als förmliche Beschwerde aufzufassen. In der Armee gibt es einen ausgeklügelten förmlichen Beschwerdeweg. Es gibt Militärpersonal, das dazu da ist, Beschwerden wie diese zu bearbeiten. Aber ich möchte nicht die Karriere dieses Kerls wegen eines Vorfalls ruinieren, von dem ich annehme, dass er ein einmaliges Vorkommnis in seinem Leben ist. Also überlasse ich es seiner Einheit, die Sache intern zu regeln. Und einige Zeit später wird Rivers vom Berg abkommandiert, wird einer anderen Einheit zugeteilt. Ob das im Zusammenhang mit meiner Meldung steht oder nicht, weiß ich nicht.
Damit war die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Nicht ganz jedenfalls. Ir­gend­wann später, vielleicht einen Monat, nachdem Rivers versetzt worden war, kam für kurze Zeit ein anderer Typ von den FISTers, den ich noch nie gesehen hatte, zu uns herauf. Er vertrat jemanden in der Einheit, der auf Urlaub war. Er kam zu mir, um mit mir ein kleines Schwätzchen zu halten. „Hallo“, sagte er und tat scheißfreundlich. „Ich möchte dich gern zu einer Sache was fragen.“ – Ich blieb stehen und drehte mich um. „Also, was?“ Er fackelte nicht lange. „Rivers hat mir erzählt, du bist eines Nachts mitten in der Nacht hier rübergekommen. Er sagt, du hättest gesagt: ‚Ach bitte, ich möcht’ dir den Schwanz lutschen. Ich möcht’ so gern deinen Schwanz lutschen.‘ Und dass er gesagt hat: ‚Nicht doch. Ich habe eine Freundin, und ich liebe sie sehr.‘ Und dass du gesagt hast: ,Das ist aber schade, weil ich dir so gern den Schwanz lutschen möchte.‘ Und er hat gesagt: ‚Nein, nein. Das geht nicht.‘ Und dass du ungeheuer enttäuscht warst. Ungeheuer sauer.“ Ich hätte den Scheißkerl umbringen können, weil er so einen Blödsinn über mich erzählte. Ich hätte ihn umbringen können, weil ich ihn ohne Beschwerde hatte davonkommen lassen. Ich empfand das als abgrundtiefen Verrat. Das ist Unsinn, ich weiß, aber ich hatte das Gefühl, dass die Jungs von COLT mich verraten hatten. Als wären sie irgendwie alle verantwortlich. Noch lange Zeit danach hatte ich Schwierigkeiten, mit ihnen umzugehen. Irgendwann im August kippte alles – wie siedendes Wasser, das zu kochen anfängt. Man konnte spüren, wie aufgeheizt die Gemüter waren. Wir hielten nicht mehr zusammen. Unten in der Ebene gewann der Aufruhr täglich an Stärke und nahm immer üblere Formen an. Hässlich war es auch hier oben.  Wie etwa an dem Tag, als die Jungs – sich einen Football zuwerfend – Witze erzählten, die sich um Vergewaltigung drehten. (Können Witze über Vergewaltigung überhaupt witzig sein?)
Ich brach zusammen, geriet ins Trudeln und stürzte ab. Kein Halten mehr. Ich schlug unten auf – und fiel weiter.
In den vergangenen Tagen hatte ich alle möglichen Horrorgeschichten gehört: von Soldaten, die Türen von Privathäusern aufsprengten und die Leute auf die Straße zerrten, oder die ein armes Schaf kauften, nur um es zu knebeln und dann totzuprügeln. Von Soldaten, die hinter Leuten, die wegrannten, herschossen oder die Autos voller Menschen (Frauen, Kinder, egal was) zusammenschossen, weil die vor einem Kontrollpunkt nicht rechtzeitig anhielten.
Wir alle wussten, dass die einheimischen Frauen Angst vor Soldaten hatten und deshalb nicht unbedingt bei den Kontrollpunkten Halt machten. Sie waren nicht an den Umgang mit Männern gewöhnt, schon gar nicht mit amerikanischen Männern. Sie sahen Amerikaner mit Schusswaffen und gerieten in Panik. Ein verdammtes Chaos war das. Und dabei gab es keinerlei Warnschilder auf Arabisch, die den Einheimischen klar machten, dass sie sich einem Kontrollpunkt näherten. Keine Achtung vor den Bräuchen der Leute, vor deren eigenen Lebensrhythmen, vor dem Mist, den sie hatten durchmachen müssen. Es wurde zu wenig versucht, mit den Leuten zu reden. Zu viele Soldaten, die nach dem Motto handelten: „Jetzt machen wir sie fertig.“.
Wir erhilten neue Instruktionen, das Verhalten in Kampf- und Bedrohungssituationen betreffend. „Wenn Sie einen Mann mit einem Handy am Straßenrand telefonieren sehen, richten Sie die Waffe auf ihn. Und wenn er nicht vom Telefonieren ablässt, dürfen Sie ihn erschießen. Er könnte einem anderen durchtelefonieren, wo Sie sich befinden. Wenn Sie also vermuten, dass er über das Handy Informationen über Ihren Konvoi und über dessen Fahrtrichtung übermittelt, und wenn Sie den Eindruck haben, dass er eine Gefahr darstellt, sind Sie berechtigt, ihn zu erschießen.“ Ich kann nicht glauben, dass man uns so etwas sagt. Ich finde, das ist Wahnsinn. Jemanden zu erschießen, nur weil er telefoniert – das geht zu weit. Eine fremde Macht, die in die Vereinigten Staaten kommt, dort beschließt, Patrouille zu fahren, und Ihren Nachbarn erschießt, weil er sein Handy benutzt – kann sich das jemand von uns vorstellen? Vielleicht telefoniert er ja nur deshalb draußen, weil der Empfang im Haus gestört ist. Wir sind hier, um euch zu helfen! Wir sind hier, um euch zu helfen! Ja, und um euch zu erschießen – wenn uns das nötig erscheint. Wie soll man das Dilemma beschreiben? Sieht man jemanden auf sich zukommen, dann kommt er vielleicht, um Informationen zu bringen. Oder er trägt einen Sprengkörper am Leib und steht im Begriff, dich umzubringen. Vielleicht will er dich auch um etwas zu essen bitten. Du musst auf der Stelle reagieren. Du musst entscheiden, ob du diesen Mann in deine Nähe lassen willst. Du musst entscheiden, ob du ihn aus der Distanz erschießt. Oder ob du versuchst, auf die Entfernung mit ihm zu kommunizieren, und ihn aufforderst, stehen zu bleiben. Bei jedem Auto, das du an dir vorbeifahren siehst, musst du einschätzen, ob es sich um einen Versuch handelt, dich umzubringen. Oder wird der Fahrer oder Insasse dir nur zuwinken oder dich gar nicht beachten? Du musst eine Entscheidung treffen. Jedes Mal neu. Jedes Mal, wenn du jemanden in deiner Nähe siehst. Spricht man mit Infanteriesoldaten, die lange Zeit immer wieder in schwierigen Situationen waren, dann sagen sie einem, dass sie in jedem den Feind sehen. So bewältigen sie ihre Lage. So überleben sie. Ich halte mich für einen einigermaßen mitfühlenden Menschen. Ich spreche die Landessprache, und ich habe arabische Freunde; deshalb glaube ich, dass ich bessere Voraussetzungen als die meisten Soldaten mitbringe, diese Zivilisten als Menschen zu sehen. Nicht einfach als den Feind. Aber selbst ich erlebe Zeiten, in denen ich mich der Situation nicht mehr gewachsen fühle.
Mein Gott, warum können wir sie nicht einfach alle kaltmachen – oder sie sich gegenseitig abmurksen lassen? Ich habe nicht mehr die Kraft, mich zu engagieren. Ich kann nicht ständig auf diesem schmalen Grat wandern. Es ist zu schwierig. Ich werde zu wütend. In wachsendem Maß befinden sich viele von uns in einem Zustand permanenter Wut. Wenn wir an die einheimische Bevölkerung denken, kommen uns jetzt nur noch Gedanken wie diese: Leute, was macht ihr eigentlich? Wir sind hier, um euch zu helfen! Und ihr versucht, uns umzubringen! Seid ihr irre? Wollt ihr überhaupt Frieden? Oder Freiheit? Oder Demokratie? Wollt ihr überhaupt was? Oder wollt ihr nur ständig morden? Was ist los mit euch?
Eines Tages tritt ein HUMINT-Vernehmungsoffizier an mich heran und will wissen, ob ich bereit sei, als Expertin für Arabisch an Vernehmungen teilzunehmen. Ich denke mir, er fragt, weil er eine weibliche Gefangene verhören will. Oder weil er einfach meine Sprachkenntnisse braucht. Aber wie sich herausstellt, täusche ich mich da. Ich bin vertraut mit den Käfigen. Ich weiß über die Befragungen Bescheid. Ich weiß, dass wir Tag und Nacht laute Rockmusik spielen, um die Häftlinge zu nerven. Dass wir alles tun, um sie wach zu halten. Ich weiß, dass wir die Häftlinge zwingen, sich an „I love Bush“- oder „I love America“-Gesängen zu beteiligen. Dass wir alles tun, damit sie das Kotzen kriegen. Als wir in die Gegend der Käfige kommen und ich mein Namensschild und mein Rangabzeichen mit Klebeband verklebt habe (das ist die übliche Praxis, um Vergeltungsversuchen vorzubeugen), sagen sie mir, was sie von mir erwarten. „Wir bringen die Typen rein. Immer nur einen. Ziehen ihm die Kleider aus. Bis er splitterfasernackt ist. Dann nehmen wir ihm die Augenbinde ab. Und dann sollen Sie demütigende Sachen zu ihm sagen. Was immer Ihnen einfällt. Sachen, die ihn verlegen machen. Alles, wovon Sie meinen, dass es ihn kränken muss.“ Ich bin verblüfft, aber ich mache auch nicht auf dem Absatz kehrt. Ich verlasse nicht fluchtartig den Raum. Ich möchte helfen – möchte verhindern, dass Dinge passieren, wie sie Staff Sergeant Kelly passiert sind – deshalb tue ich, was man mir sagt. Ich gehe also in den Verhörraum. Ein paar Jungs von HUMINT sind da, zusammen mit einigen anderen Jungs von der militärischen Aufklärung, die als Wachen dienen. Auch ein ziviler Dolmetscher ist anwesend. Der für den ganzen Käfig zuständige Sergeant First Class ist nicht dabei. Der Gefangene betritt den Verhörraum mit einer Augenbinde und mit hinter dem Rücken gefesselten Armen. Die Sache spielt sich ab, wie vorher besprochen. Sie ziehen ihm die Kleider aus. Sie stellen ihn mir gegenüber. Als sie ihm die Augenbinde abnehmen, bin ich die erste Person, die er zu sehen bekommt. Der zivile Dolmetscher und der Vernehmungsoffizier (der ebenfalls Arabisch spricht) hänseln den Häftling, machen sich über sein Geschlecht lustig, bezweifeln seine Manneskraft, spotten über die Größe seiner Genitalien, deuten auf mich. Halten ihm vor, dass er in Anwesenheit dieser blonden Amerikanerin gedemütigt wird.
Sie erniedrigen den Häftling und versuchen, ihn fertig zu machen. Ihn zu brechen. Zwischendurch stellen sie auch Fragen zu Themen, die von nachrichtendienstlichem Wert sein könnten. Ich beobachte das und habe den Eindruck, dass dieser Häftling von äußerst beschränktem nachrichtendienstlichem Wert ist. Aber das zu beurteilen steht mir nicht zu. Den Häftling einzuschätzen ist nicht meine Aufgabe. Ich kenne seine Akte nicht. Man drängt mich mitzumachen. Diesen nackten, weinenden Mann zu verhöhnen. Was soll ich sagen? Was kann ich sagen? „Glaubst du, dass du mit dem Dingelchen da eine Frau befriedigen kannst?“, frage ich, mit der Hand deutend. Für diese Arbeit bringe ich keine Begabung mit. Ich sage ihm also, er soll uns lieber verraten, was wir wissen wollen, weil wir sonst immer weitermachen. Aber ich empfinde fast Mitleid mit ihm. Als nach einem weiteren Häftling zwei Stunden später die Sache vorbei ist, sage ich dem Vernehmungsspezialisten, dass ich das nicht mehr machen will. Dann erkläre ich ihm, dass es gegen die Genfer Konvention verstößt, was wir mit den Häftlingen in den Käfigen machen. Es sei rechtswidrig, sage ich ihm, Häftlingen Brandwunden zuzufügen oder sie zu ohrfeigen.  Meine Bemerkungen scheinen ihn nicht zu überraschen oder zu beunruhigen. „Stimmt“, sagt er. „Aber Sie müssen wissen, dass diese Leute Verbrecher sind. Das ist die einzige Sprache, die sie verstehen. Diese Leute respektieren nur Macht, Gewalt. Unter Saddam war es noch unvergleichlich schlimmer für sie. Sie hören nicht auf uns, wenn wir ihnen nicht grob kommen. Außerdem halten sich auch die Terroristen nicht an die Genfer Konvention – warum sollten wir es dann tun?“ – „Aber Sie wissen doch, dass nicht all diese Männer Terroristen sind.“ – „Sicher“, sagt er gleichgültig. „Klar. Weiß ich.“ Eine Beschwerde reichte ich nicht ein. Ich ging nicht zu Vorgesetzten. Ich tat nichts, um diese Vernehmungen zu beenden. Ich stand nicht auf und sagte: „So geht das nicht. Das muss aufhören.“ Nichts dergleichen tat ich. Ich sagte nur: „Damit will ich nichts mehr zu tun haben.“ Wie viel Mitschuld trage ich also?
Am 8. Februar 2004 kam ich nach Hause. In Fort Campbell schneite es leicht. Vor fast genau einem Jahr war ich das letzte Mal hier gewesen, und als ich damals abfuhr, schneite es ebenfalls. Kleine, spitze Flocken, die ins Gesicht stachen. Einen Augenblick lang hatte ich das surrealistische Gefühl, nie weg gewesen zu sein; als wäre alles ein schlechter Traum gewesen oder als wäre mir irgendwie ein Jahr meines Lebens abhanden gekommen. Noch am gleichen Abend, an dem ich heimkam, setzte ich mich mit Shane Kelly in Verbindung. Er war nach einem dreimonatigen Aufenthalt im armeeeigenen Walter-Reed-Gesundheitszentrum im Januar nach Fort Campbell zurückgekehrt. Und danach hingen wir ständig zusammen. Ich war unglaublich froh, zurück in Amerika zu sein. Lange, lange Zeit aber mied ich die Gesellschaft von Zivilisten. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich da drüben besser aufgehoben wäre. Man hat Schuldgefühle, weil man nicht bei den Kameraden, nicht bei den eigenen Leuten ist. Den Leuten der eigenen Einheit. Man hat das Gefühl, immer noch dorthin zu gehören. Ich erlebte einen Kulturschock. Alle in Amerika waren dick und rund. Alle machten irgendeine Abmagerungskur. Wie war es möglich, dass eine solche Kur einem vorschrieb, Speck zu essen, während sie einem gleichzeitig verbot, Bananen zu sich zu nehmen? Das ging über meinen Verstand. Ich hatte das Gefühl, dass die Leute nichts kapierten. Dass sie egoistisch waren und nicht würdigten, was sie hatten. Ich kam heim, und das Einzige, wofür sich die Menschen interessierten, waren Sachen, die mir nichts bedeuteten. Was ging mich Jennifer Lopez an? Was sollte ich davon halten, dass ich eines Morgens im Fernsehen bei CNN einen Bericht über Entenküken zu sehen bekam, die aus einem Abwasserkanal gerettet wurden –während für die Nachricht über Soldaten, die im Irak umgekommen waren, das kleine Schrift­band genügte, das unten über den Bildschirm lief?
Keine Zugeständnisse mehr! Das ist es, was die Armee mich gelehrt hat, wenn ich ein Fazit ziehen soll. Früher war ich eine Frau wie so viele. Lesen Sie all die Studien, die über uns gemacht worden sind, wenn Sie mir nicht glauben wollen: Wir Frauen nehmen uns ständig selbst zurück. Ich klang etwa so: „Also, na ja, ich denke, vielleicht würde ich gern, wenn du nichts dagegen hast, das und das machen. Ich bin mir nicht sicher. Entscheide du.“ Bei einem Typen war ich genauso.  Und als ich zum ersten Mal nach Fort Campbell kam, ging ich ins Büro meines Zugs und sagte: „Äh, ich glaube, wir müssen antreten? (Dabei wusste ich genau, dass wir antreten mussten.) Und die Leute gingen nicht einfach los zum Antreten. Sie standen auf, um nachzusehen, ob es stimmte. So redete ich die ganze Zeit über, und ich fand mich selbst zum Kotzen. Ich hätte selbstbewusster auftreten müssen. Es hätte mir auch nicht so peinlich sein dürfen, dass ich helle war. Warum sollte ich mich dafür schämen, dass ich tüchtig war? Wenn Frauen tüchtig sind, dann werden sie nicht als Frauen angesehen, die ihren Mann stehen. Man wirft ihnen vor, sie seien Schreckschrauben oder Zicken. Beim Militär verstärkt sich dieser Konflikt noch, weil es sich um ein so männerdominiertes Milieu handelt – einen irren, kleinen gesellschaftlichen Mikrokosmos auf Steroidbasis. Im Kampfgebiet aber konnte ich mir Zögerlichkeit nicht leisten. Ich musste Selbst­sicherheit beweisen. Ich konnte mich nicht einfach verkriechen. Wenn man das im Kampfgebiet tut, kommt man im Zweifelsfall um. Ich musste weitermachen. Musste es schaffen. Und plötzlich ging mir auf, dass der Geist unglaublich stark ist. Ich konnte es schaffen. Ich konnte fast alles, was ich wollte.
Aber da waren nach wie vor die depressiven Regungen. Monate nach der Rückkehr verursachte es mir immer noch ein komisches Gefühl, dass ich nicht ständig meine Waffe mit mir herumtrug. Es gab Zeiten, in denen ich fast schon versucht war, mir eine Pistole zu kaufen, weil ich im Haus keine Waffe hatte. Was, wenn etwas passierte? Ich umkurvte immer noch weggeworfene Sachen, die auf der Straße lagen. Im Irak hätte es ein selbstgebastelter Sprengsatz sein können. Eine Limodose am Straßenrand konnte ein selbstgebastelter Sprengsatz sein. Ein Einkaufsbeutel war vielleicht einer. Regungen wie diese erschienen mir völlig normal. Wie etwa auch meine Reaktion auf Autofahrer, die sich nicht an die Verkehrsregeln hielten. Wenn mich jemand im Straßenverkehr schnitt, schwappte, mitten in Tennessee, mein Adrenalin über. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn mir erlaubt worden wäre, meine halbautomatische M-4 außerhalb des Stützpunkts zu tragen. Ich fürchte fast, es gäbe hier in der Gegend ein, zwei miese Autofahrer weniger. Große Probleme hatte ich mit dem Schlafen. Vor dem Einsatz hatte ich selten Schwierigkeiten damit gehabt. Jetzt wachte ich auf, und die Betttücher waren nass geschwitzt. Und an meine Träume konnte ich mich nie erinnern. Ein ganzes Jahr lang nach meiner Rückkehr hatte ich keine Erinnerung an meine Träume. Mein erster 4. Juli zu Hause war furchtbar. Jedes Mal, wenn ein Feuerwerkskörper in der Nachbarschaft knallte, blieb mir das Herz stehen. Sah ich die Feuerwerkskörper hochgehen, machte es mir nicht sonderlich viel aus. Aber sah ich nicht zu und unterhielt mich gerade mit jemandem, wenn einer explodierte, dann fuhr ich erschrocken auf. Je mehr ich erfahre, was zu diesem Krieg geführt hat, umso schwerer verdaulich wird das Ganze. Ich habe ein Jahr meines Lebens drangegeben. Und wofür, verdammte Schei­ße?! Worum ging es dabei überhaupt?            
 
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch "Jung, weiblich, in der Army. Ich war Soldatin im Krieg" (DVA). Übersetzung: Ulrich Enderwitz.
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