Alice Schwarzer schreibt

Fred Vargas über ihr Leben

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Wir sind morgens um zehn im Hotel verabredet. Gestern hatte sie eine Lesung. Ausverkauft. Schließlich ist sie eine in neun Sprachen übersetzte Bestsellerautorin, und nach neun Romanen längst kein Geheimtipp mehr. Fred Vargas, 50, sitzt an der Bar und qualmt. Gauloise. Filterlos. Jeans, Stiefel, eine Art Matrosenjacke, die Haare verstrubbelt, der Teint blass, radikal ungeschminkt. Klar, sie könnte auch ganz anders – aber sie hat sich so entschieden. Und so passt die Archäologin und Zoologin, kurz: Archäzoologin, auch viel besser in ihre fiktive Welt, deren Anti-Helden, diese Loser und Prostituierten, sie alltäglich begegnet in ihrem Viertel rund um den Friedhof Montparnasse mitten in Paris. Da sind die drei Evangelisten, diese skurrilen Wissenschaftler, die einer Karriere adieu gesagt haben und in einem Abbruchhaus ihre WG betreiben; da ist der etwas schwerfällige Kommissar Adamsberg, der Chef der Mordbrigade im angrenzenden 13. Arrondissement, der seine Fälle nicht durch Recherche, sondern in Tagträumen zu lösen scheint; und da ist Camille, von Beruf Musikerin, deren ganze Leidenschaft das Studium von Handwerkskatalogen ist. Zwischen Adamsberg und Camille wird es wohl nie ein Happyend geben, obwohl sie inzwischen sogar einen gemeinsamen Sohn haben. Aber was soll Camille mit diesem melancholischen Fremdgänger – und was Adamsberg mit dieser verwilderten Motorradfahrerin? So bleibt uns Vargas-Fans der Trost, dass Fred (Frederique) Vargas wohl nie eine Lösung finden wird für das so komplizierte Leben, aber immer eine für ihre nicht minder komplizierten Verbrechen.

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Fred Vargas, wie leben Sie eigentlich?
Wollen Sie das wirklich wissen? Ich hasse es, über mich zu reden! Also, ich habe mir vor einiger Zeit ein kleines Haus in Montparnasse gekauft, dem Viertel, in dem ja auch viele meiner Bücher spielen. Und das bewohne ich zusammen mit meiner Zwillingsschwester Jo, die Malerin ist. Sie hat unten ihr Atelier, und ich schreibe im ersten Stock.

Zwillingsschwester? Gleicht sie Ihnen?
Ja und nein. Sie näht und ich werkel, sie hat Geschmack und ich habe keinen. Oft sagt sie zu mir: Nein, so kannst du nicht rumlaufen! Ich habe gar keinen Blick für so was, ich laufe irgendwie rum. Früher war das noch schlimmer. Da sah ich aus wie ein Junge. Da ich nicht hübsch bin, habe ich mir gesagt: Dann kann ich es auch gleich lassen. Irgendwann hat dann meine Schwester zu mir gesagt: Du übertreibst! Inzwischen trage ich die Haare etwas länger und sehe auch femininer aus. Aber ohne Jo …

Was sagt Jo denn dazu, dass Sie Krimis schreiben?
Sie fand das von Anfang an gut. Es gefiel ihr einfach, dass ich jetzt auch etwas Künstlerisches mache. Ich habe ja angefangen zu schreiben, um ein bisschen aus diesem Studierstaub rauszukommen. Jahrelang über die Pest oder übers Mittelalter forschen, das kann hart sein. Schreiben ist für mich die reine Erholung. Da kann ich alles machen, brauche nichts zu beweisen.

Tauschen Sie sich mit Ihrer Schwester über Ihre Ideen aus?
Ich tausche mich mit meiner Schwester über alles aus! Ich teile ihr alles mit, was ich erlebe.

Jo ist sozusagen Ihre andere Hälfte?
Es ist schlimmer. Sie ist nicht meine andere Hälfte – wir sind eine Acht. Alles, was ich erlebe, muss erst durch sie durchgehen, bis es bei mir ankommt – und umgekehrt. Was ich ihr nicht erzählt habe, habe ich nicht wirklich erlebt. Und wenn wir uns nicht sehen, müssen wir andauernd miteinander telefonieren. Oft auch, um über völlig uninteressante Dinge zu reden. Aber solange die eine es nicht der anderen mitgeteilt hat, existiert es nicht. Also, wenn wir uns zehn Tage lang nicht gesehen haben, reden wir vier Nächte lang durch.

Ist das nicht schwierig für andere Beziehungen? Ist da überhaupt noch ein Platz frei?
Nein. Der Platz neben mir ist besetzt. Ich weiß nicht, ob das ein Problem für die Männer ist. Ich habe aber nicht den Eindruck. Sie wissen alle, dass sie irgendwann dem prüfenden Blick des Zwillings standhalten müssen. Doch da die andere grundsätzlich das Glück der einen will, gehen unsere Einschätzungen immer in dieselbe Richtung. Es gibt kein Veto. Nur ein einziges Mal hat meine Schwester eine negative Bemerkung gemacht über einen Typen, der mir gefiel. Ich weiß nicht, hat sie gesagt, der gefällt mir nicht so richtig. Ich habe genauer hingesehen und in der Tat: Er war nichts für mich.

Sie haben ja auch einen Sohn, der jetzt 19 Jahre alt ist.
Ja. Er ist Musiker. Er hat alles gemacht, was ich nicht kann: Musik, Physik, Mathematik. Und er hasst es, Romane oder Krimis zu lesen. Vor einem Monat ist er ausgezogen. Das war für uns beide ein Schock. Er hat aber noch sein Klavier bei mir, und da er Musiker ist ... Bis jetzt sehen wir uns noch täglich.

Sie haben sich vor drei Jahren von Ihrer Tätigkeit als Forscherin am CNRS, dem Nationalen Forschungszentrum, beurlauben lassen. Und zwar nicht nur, um in Ruhe Ihre Krimis zu schreiben, sondern vor allem, um etwas anderes zu erforschen ...
Stimmt! Ich habe einen Schutz gegen die Vogelgrippe gefunden, der nicht nur etwas für einige wenige wäre, sondern der Millionen Menschen nutzen könnte.

Aber ist die Vogelgrippe denn noch akut? Man hört so gar nichts mehr darüber.
Weil die Medien sich nicht mehr dafür interessieren. Aber ich verfolge Tag für Tag ihre Entwicklung und sehe, dass sie ihre Kreise zieht, weiter und weiter. Ich gehe davon aus, dass nur fünf Prozent der Menschheit die Chance haben werden, ihr zu entgehen. Die Vogelgrippe hat einen ganz ähnlichen Verlauf wie die Spanische Grippe, an der 1918 allein in Europa über 40 Millionen Menschen gestorben sind.

Sie sind als Forscherin Epidemie-Spezialistin. Sie haben den Ansteckungsverlauf und die Entwicklung der Pest erforscht.
Ja. Auch daran sind übrigens noch Anfang des 20. Jahrhunderts allein in Indien zwölf Millionen Menschen gestorben, und Millionen in China. Und immer die Ärmsten. Die Reichen können sich bei jeder Art von Epidemie ganz anders schützen. Der Ausgangspunkt bei meiner Forschung ist darum: Wie kann eine möglichst große Anzahl von Menschen vor der Vogelgrippe geschützt werden?

Und wie?
Meine Idee ist lächerlich einfach. Aber es war mir egal, dass erstmal alle gelacht haben, da musste ich durch. Denn ich bin mir sicher, dass das die Lösung ist. Die Gesichtsmasken sind keine, denn sie müssten alle vier Stunden gewechselt werden, und das über Monate. Das können nur die Reichen bezahlen, die Armen müssen sterben.

Wie verläuft eigentlich die Ansteckung bei der Vogelgrippe?
Über den Speichel und die Speicheltröpfchen beim Reden. Die fliegen über zwei, drei Meter und halten sich bis zu drei Stunden. Besonders Kinder, die alles anfassen und sich dann ins Gesicht langen, sind gefährdet. Ich habe also ein Schutz-Cape erfunden, einen knöchellangen Plastikmantel, der auch den Kopf einhüllt, dank eines helmartigen Gestells, nur die Hände schauen raus. Ich habe die Idee in den letzten Monaten noch verbessert. Zur Zeit wird der Prototyp im Nationalen Forschungslabor getestet. Bei einer Massenproduktion könnte das Cape einen Euro kosten.

Wie kommt es, dass Sie sich so stark dafür engagieren?
Weil das Schlimmste an so einer Panepidemie noch nicht einmal die Krankheit selbst ist – das Schlimmste ist der Zusammenbruch des gesamten Sozialsystems. Innerhalb von zwei, drei Tagen hält nichts mehr: keine Verwandtschaft, keine Freundschaft, kein Anstand – jeder verrät jeden und versucht nur noch eines: Die eigene Haut zu retten. Ich habe das beim Studium der Pest gesehen. Familien lassen Alte und Hilflose im Stich. Nachbarn rauben dir mit Gewalt das Medikament, Starke trampeln Schwache nieder. Es bricht die totale Anarchie aus. Und das hinterlässt Wunden, bis weit über die Zeit der Epidemie hinaus. So wie wir bis heute die Narben des zweiten Weltkriegs spüren, so würden wir bei einem Ausbruch der Vogelgrippe lange am Zusammenbruch der Menschlichkeit zu tragen haben.

Sie kommen aus einer Familie, die, wie Sie selbst sagen, "ganz links und sehr politisch" war und sind schon als Kind zusammen mit Ihrer Schwester und Ihrem Bruder auf alle Demos gegangen. Was sagen Sie zum Wahlausgang?
Ich bin sehr bedrückt darüber, dass Sarkozy Präsident geworden ist. Ich traue ihm überhaupt nicht. Für Royal war der Wahlkampf sehr hart. Sie hat verloren, weil sie eine Frau ist. Ihre eigenen Leute sind ihr in den Rücken gefallen. Hat Sarko eine Dummheit gesagt, hieß es: Das ist seine Position. Hat Sego eine Dummheit gesagt, hieß es: Sie ist blöd. Wäre sie hässlich, hätte man draufgehauen. Aber sie ist sehr schön, also sagte man: Politik ist kein Schönheitswettbewerb.

Fred, welcher Figur in Ihren Romanen sind Sie persönlich eigentlich am nächsten, in wem stecken Sie drin: in Adamsberg? In Camille?
Ach, ich denke wenig über mich selbst nach. Für mich als Zwilling hat das Ich keine Bedeutung. Aber Camille … ja, da könnte schon etwas von mir drinstecken.

Alle Bücher von Fred Vargas im Aufbau Verlag.

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