Von der Lust des Worte-Erkennens

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"Was ist denn so kompliziert an den Texten der F.M.? Ich meine ja, sie sind einfach und komplex, nicht kompliziert." Was Elfriede Gerstl 1994 in der EMMA über ihre Freundin und Kollegin "Fritzi" schrieb, mag viele verwundert haben. Immerhin gilt Friederike Mayröcker als eine der ­exzentrischsten und schwierigsten deutsch­sprachigen Dichterinnen der Gegenwart.
In ihrem "Tod durch Musen" zum Beispiel heißt es: "(poet.) knallen; schnuppe am lampendocht/gebrüll weintoll entfesselte dame! und schon sind wir mitten drin in der suspekten abstraktion". Und ihr Prosatext „mein Herz mein Zimmer mein Name“ fließt gar in einem einzigen Satz auf über 300 Seiten dahin. Die jüngst verstorbene Gerstl befand: "Vor lauter Fast-Food-Essen der Linearität von Ketchup und Stories, die übersichtlich einer Pointe zueilen" hätten leider manche verlernt, sich so auf Literatur einzulassen.

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Auch Mayröcker selbst versichert immer wieder, dass sich ihr Schreiben jeder und jedem erschließen könne. Sie verbirgt in ihren Texten keinen höheren oder tieferen Sinn, sondern lässt sich von den Wörtern leiten, lauscht ihnen Klänge, Rhythmen, versteckte Bedeutungen ab, entfaltet überraschende Assoziationsketten und -räume. Die Wiener Schriftstellerin beschreibt ­diesen Vorgang als eine Tätigkeit, für die es eine gewisse "Verrücktheit" brauche. Immer wieder beschwört sie die manische "Lust des Worte-Erkennens, Worte-­Aufleuchtens, des Einfangens der Worte mit dem Schmetterlingsnetz der Inspira­tion (in welchem Zustand ja ALLES MÖGLICH ist)". Sie bekennt sich also ganz altmodisch zum poetischen Abheben wie zur unermüdlichen Arbeit, bei der sie versucht, die ihr "durch Welt und Leben aufgeprägten Spuren auf das Präziseste in Sprache umzusetzen".

Mayröcker begann schon als 15-Jährige zu schreiben. Ihr erstes Gedicht "An meinem Morgenfenster" erschien 1946 in der Zeitschrift Plan, es beginnt mit den Worten "o Schwärme silberleibiger Tauben". Ihre frühen Arbeiten wirken so zart, dass Kritiker sich über eine verträumte, feminine, ja "mädchenfrische" Dichterin freuten. Doch das so gelobte Lyrik-Talent wandte sich zügig spröderen Formaten zu und schrieb bald im Umfeld der Wiener Gruppe um H.C. Artmann, Andreas Okopenko und Konrad Bayer experimentelle Texte. In ihren "Anleitungen zu poetischem Verhalten im Prosaband Fantom Fan" (1971) stellte Mayröcker klar, dass sie unter Poesie nicht unbedingt Zartheit versteht: "Lassen Sie Wörter aufjaulen!/ Machen Sie öfters mal boingg-boingg!"

Dafür wurde man im Nachkriegsösterreich nicht geliebt, und so kam ihre Karriere nur langsam in Gang. Ihr Erstling "Larifari. Ein konfuses Buch" erschien 1956. Erst sieben Jahre später, 1963, folgte das zweite, der Gedichtband "metaphorisch". Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, arbeitete Mayröcker bis 1969 an verschiedenen Wiener Schulen als Englischlehrerin, 24 Jahre lang. Da blieb wenig Zeit für ein ­Bohèmeleben, das man ihr bei den provokanten Texten gern unterstellte, doch das ihr offenbar sowieso nicht lag.

Auch als Mayröcker schon längst eine der wichtigsten deutschsprachigen Lyrikerinnen war, lebte sie zurückgezogen, ganz aufs Schreiben konzentriert, eingeigelt in ihrer mit Zetteln, Notizen und Büchern vollgestopften Wohnung in Wien. Ihr – oft beschriebenes und fotografiertes – Arbeitszimmer bekam geradezu legendären Charakter, mit "Papierwucherungen bis hinaus in die Küche, den Vorraum, den Flur".

Hier entstand ein Werk, für das ihr die Literaturkritik und -wissenschaft zu Füßen liegt und das mit fast allen wichtigen Literaturpreisen geehrt wurde. Interpretations-Experten arbeiten sich seit Jahrzehnten daran ab, doch es entzieht sich erfolgreich jeder Einordnung. Eine Besonderheit ihrer Arbeit lässt sich allerdings festhalten: seine Lebensnähe. Mayröckers poetische Texte arbeiten mit Versatzstücken aus Träumen, Gesprächen, Briefen und Büchern, sie beschwören Gegenstände, Landschaften und Farben. Mayröcker, die auch zeichnet, nannte sich öfter einen "Augenmenschen". Und sie widmet sich elementaren Gefühlen: Schmerz, Trauer und Freude. In "Lection" (1994) kreist eine Ich-Erzählerin um den Alltag mit einer sterbenskranken Mutter, es ist ein ebenso sperriges wie ­anrührendes Buch über den Abschied von einem geliebten Menschen.

Mindestens ebenso eindringlich ist ihr "Requiem für Ernst Jandl". Der labyrinthische Text über ihren "Lebens- und Liebesfreund", den sie 1954 kennenlernte und dem sie 40 Jahre verbunden blieb, kämpft mit der Wucht eines großen ­Gefühls. Mayröcker findet unverbrauchte Worte für einen Schmerz, der kaum in Worte zu fassen ist.

Die heute 85-Jährige schreibt auch über das Altsein, zum Beispiel in "Paloma", einem Buch, das in 99 Briefen das verlogene Anti-Aging-Versprechen ad absurdum führt. Eben noch beschwört die Dichterin die zeitlose Kraft der Sprache: "Möchte ­saphirene Texte schreiben tatsächliches Blau, wie die südlichsten Wiesen der südlichste Winter". Dann folgt, dass sie ihre Einkäufe nicht mehr bewältigen kann – wegen eines Blutdruckproblems. "Senilität ist selbstverständlich nicht zivilisiert", ­zitiert Mayröcker ihre Kollegin Gertrude Stein und berichtet von fehlenden Zähnen und Gedächtnislücken. Doch der Blutdruck mag schwächeln, ihre poetische Sprache trägt wie eh und je. Immer wieder neu entfaltet sie jenen schwer erklärlichen Sog von Bildern und Gedanken, Assoziationen und Klängen, die ihre Texte so ­unverwechselbar machen.

Mayröckers 80. Geburtstag feierte der Suhrkamp Verlag mit einer über 800 Seiten dicken Ausgabe ihrer "Gesammelten Gedichte". Doch das imposante Buch ist schon längst nicht mehr vollständig. Denn natürlich schrieb und veröffentlichte Mayröcker weiter: manisch, unermüdlich und grandios. Jetzt, pünktlich zum 85. Geburtstag am 20. Dezember, erschien "dieses jäckchen (nämlich) des Vogel Greif". Es enthält ihre zwischen 2004 und 2009 verfassten Gedichte.

Zum Weiterlesen:
Friederike Mayröcker: dieses jäckchen (nämlich) des Vogel Greif (Suhrkamp, 22.80 €)

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