Friedrichs-Preis Korrespondentin Atai

Golineh Atai berichtet aus Simferopol/Krim.
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Es ist Verlass auf sie. Wenn sie in den Nachrichten auftaucht, in der Hand das Mikrophon, hinter sich den (Kriegs)Schauplatz, dann wissen wir: Sie wird nicht voreingenommen sein oder sensationsbeflissen zuspitzen - im Gegenteil. Sie wird uns nach bestem Wissen und Gewissen informieren. Einfühlungsvermögen plus kritische Distanz. Darum erhält die ARD-Korrespondentin Golineh Atai im Oktober zu recht den renommierten "Hans-Joachim-Friedrichs-Preis", benannt nach dem einstigen Sportreporter und späteren Tagesthemen-Moderator.

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Die 39-jährige Deutsch-Iranerin ist in Teheran geboren und im Alter von fünf Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Als Korrespondentin war sie in den vergangenen Jahren an heißen Schauplätzen wie Kairo und Dafur, zuletzt beeindruckte sie mit ihrer gelassen-informativen Berichterstattung aus Kiew und von der Krim.

Die Preis-Jury begründet ihre Wahl mit den Worten: Atai überzeuge mit ihren "ruhigen und keinen vordergründigen Zuspitzungen verfallenden Reportagen und Interviews aus der arabischen Welt und aus dem Krisenstaat Ukraine". Ihre Berichte vom Maidan-Platz seien "vorbildlich in ihrer sichtbaren Suche nach dem vollständigen Bild und glaubwürdig im offenen Eingeständnis, dieses Bild im Nebel der Ereignisse nicht liefern zu können." Aus der Reihe der KorrespondentInnen rage sie "durch ihre Fähigkeit heraus, selbst in kurzen Nachrichtenbeiträgen Argumente und Gegenargumente der Konfliktparteien verständlich zu werten".

Atai arbeitet seit 2013 im ARD-Studio Moskau und hat in den letzten Jahren für den WDR immer wieder auch Beiträge für "Die Story" und "Weltweit" realisiert.

EMMA gratuliert der geschätzten Kollegin!

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Alice Schwarzer schreibt

Russland und der Westen

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In Deutschland passiert gerade etwas sehr Ermutigendes: Die Menschen glauben den Medien nicht mehr. Obwohl die Berichterstattung in Sachen Ukraine, Krim & Russland sich in überwältigender Mehrheit und unerschütterlicher Selbstgerechtigkeit einig ist in der Verurteilung von Putin und Verharmlosung des Westens, scheinen immer mehr Menschen das anders zu sehen. Laut Umfragen bilden sich zwei Drittel ihre eigene Meinung. Jenseits von Tagesschau, Spiegel und Bild.

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Auch 69 Jahre nach 1945 haben die Deutschen, quer durch alle Generationen, offensichtlich keinen Bock auf Krieg. Sie haben die deutsch-russische Geschichte nicht vergessen. Und sie haben ein Gespür für politische Propaganda. Denn sie haben schon einmal so gnadenlos falsch gelegen, dass sie so schnell nicht wieder mitmachen möchten im Chor der Selbstgerechten, der in der Regel Unrecht gebiert.

Sehr viele Deutsche waren gegen beide Irakkriege, viele haben ziemlich rasch die Propaganda-Lügen im Kosovokrieg durchschaut („Nie wieder Auschwitz“), und die Mehrheit hat zu Recht gebilligt, dass Deutschland sich auch in jüngster Zeit nicht an humanitär verbrämten, militärischen Interventionen wie in Libyen oder Syrien beteiligte.

Alle in den letzten zwanzig Jahren vom Westen "befreiten" Länder gehörten einst zur Sowjetunion.

Jetzt also Russland. Präsident Putin ist die Inkarnation des Bösen und wird mit Hitler verglichen. Moskau wird beschuldigt, einen neuen kalten Krieg anzetteln und in die Ukraine einmarschieren zu wollen. Was eine Verkehrung der Tatsachen ist.

Denn es war zunächst der Westen, der seit dem Fall der Mauer keine Ruhe gab und unaufhaltsam Richtung Osten drängte – und weiter drängt. Zwölf Länder des ehemaligen Warschauer Paktes sind heute Mitglieder der Nato. Und im Süden Russlands reihen sich die USMilitär basen an der Nordgrenze Afghanistans – oder rasseln die Gotteskrieger in den islamistisch beherrschten Ländern mit Maschinengewehren und Raketenbasen. Die jetzt in diesen Ländern herrschenden Islamisten waren in den 80er Jahren nicht zuletzt von Amerika unterstützt worden. Sie sollten den so genannten „grünen Gürtel“ um die Sowjetunion bilden: den Gürtel der Gotteskrieger. Was funktioniert hat.

Kein Zweifel: Russland ist heute eingekreist. Jetzt also auch noch die Ukraine? Der Geburtsfehler des Ukraine- Konflikts war, dieses Land vor die Alternative zu stellen: EU oder Russland! Denn die Ukraine ist traditionell ein Brückenland, neigt halb zum Westen, halb zum Osten, und genau das hätte sie auch bleiben sollen. Aber das scheint jetzt verspielt. Statt diese West/Ost-Lage als Stärke zu begreifen, ist sie nun eine Schwäche und befindet sich das Land in einer Zerreißprobe. Für diese Zerreißprobe tragen beide Verantwortung: Putin und der Westen.

Wenige Westländer, allen voran Deutschland, haben nach der Eskalation versucht, zu Befriedung und Kompromiss beizutragen. Doch der wurde innerhalb weniger Stunden von dem sehr gemischt besetzten Majdan-Platz (von aufrecht empört bis nationalistisch bzw. faschistoid) hinweggefegt – und sodann von einem traditionell käuflichen Parlament bestätigt. Der heute amtierende Präsident Alexander Turschinow, Ökonom und Timoschenko-Vertrauter, ist also auch nicht gerade demokratisch legitimiert. Was den Westen nicht hindert, dies hochtönend von Russland in der Krim zu fordern.

Überhaupt der Ton. Die West-Medien scheinen in ihrer Herablassung Russland gegenüber und der Schuldverteilung – guter Westen, böser Osten – quasi gleichgeschaltet. 97 Prozent der auf der Krim lebenden Menschen votierten (bei einer Wahlbeteiligung von 90 Prozent) für die Zugehörigkeit zu Russland? Und das „störungsfrei“ unter den Augen internationaler Beobachter, wie es heißt? Na und! „Wir“, die EU und Amerika, „erkennen das nicht an“ und drohen mit „Sanktionen“. Und wir drohen nicht nur, wir handeln.

Der Westen führt gerade seinen ersten erfolgreichen „Finanzkrieg“. Entwaffnend offen schrieb die FAZ: „Die modernen Waffen sind nicht länger Panzer, Flugzeugträger oder unbemannte Drohnen. Die Konflikte dieser Welt werden mit Kapitalattacken, Finanzsanktionen und Ratingagentur-Offensiven geführt. Durch den Druck der Finanzmärkte wird eine Ökonomie und damit ein ganzes Land in die Knie gezwungen. Der erste Schauplatz der neuen Kriegsführung ist Russland.“ – In der Tat: Bereits im März stürzten die russischen Kurse und der Rubel ins Bodenlose.

Gegen Russland wird gerade der erste erfolgreiche "Finanzkrieg" geführt. Vom Westen.

Vorgeblich handelt der Westen wie immer im Namen von Demokratie und Menschenrechten. Doch ob wir ein Vorgehen als „demokratisch“ und „völkerrechtlich legitimiert“ bezeichnen, scheint nicht von der Art des Vorgehens abzuhängen, sondern auch von der jeweiligen Interessenlage. Stichwort: Irak; Stichwort: Afghanistan; Stichwort: Kosovo; Stichwort: Serbien; Stichwort: Libyen; Stichwort: Syrien.

Dabei fällt auf, dass all diese Länder, die in den letzten 20 Jahren unter der Flagge der Heilsbringung von der Nato in die Knie gezwungen wurden, in den Zeiten der Teilung der Welt in West- und Ostblock der Machthemisphäre der Sowjetunion angehörten. Heute herrschen in diesen „befreiten“ Ländern das Chaos und/oder die Islamisten. Überall hat der Westen zehntausende, ja hunderttausende von Toten hinterlassen, auch solche in den eigenen Reihen. Und verbrannte Erde.

Seit Auflösung dieser Blöcke schreiten wir unaufhaltsam gen Osten. 1990 noch hatte der Westen dem damaligen russischen Präsidenten Michail Gorbatschow, der die Öffnung friedlich eingeleitet hatte, versprochen, den Machtbereich der Nato nicht weiter gen Osten auszudehnen. Seither ist viel passiert, zu viel. In Russlands Nachbarländern Polen und Tschechien sind amerikanische Raketen stationiert. Würde die Ukraine Teil der EU, stünde die Nato bald an der russischen Grenze.

Heute ist inzwischen selbst Gorbatschow, der einstige Gegenspieler Putins, an seiner Seite: Der Präsident der Öffnung hält Putins Strategie der eisernen Faust inzwischen für richtig. Denn die Einkreisung Russlands macht nicht nur Putin Sorgen. So lange ist es schließlich noch nicht her, dass Nazi-Deutschland Russland überfallen hat – am Ende lagen da 25 Millionen Tote: Kinder, Frauen, Männer. 25 Millionen.

Die letzten Überlebenden sowie die Kinder und Kindeskinder der Ermordeten leben heute in Russland. Präsident Putin ist eines dieser Kinder. Seine Eltern waren in dem von der deutschen Wehrmacht 827 Tage, also zwei einhalb Jahre lang, belagerten Leningrad (heute Petersburg). Der Vater hatte schwer verletzt überlebt, die Mutter war traumatisiert, der ältere Bruder Victor starb mit anderthalb Jahren in der umzingelten Stadt. Die Zahl der Toten in Leningrad in der Zeit der Belagerung wird auf eine halbe bis anderthalb Millionen geschätzt. Das Grauen in der eingeschlossenen Stadt, zuletzt ohne Essen und ohne Wasser, ist kaum vorstellbar.

Die Kinder und Kindeskinder der von 25 Millionen von Deutschland ermordeten Russen leben heute.

Ein Russland ohne einen wie Putin würde vermutlich in der Faust der Mafia enden. Das scheinen auch die berechtigten Putin-Kritiker nicht immer zu Ende zu denken. Putin ist heute das kleinere Übel – und in den Augen seiner Landleute mutiert er gerade zum Helden.

Am 8. Mai wird auch Russland den 69. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges feiern. Dann marschieren die allerletzten Veteraninnen und Veteranen stolz mit ihren Orden durch die Straßen. Jetzt wurden Stimmen laut, die den Ausschluss des russischen Präsidenten von der gemeinsamen Siegesfeier in der Normandie forderten. Ausgerechnet. Ausgerechnet der Präsident des Landes, das den höchsten Preis bezahlt hat.

Am 25. Mai sind Wahlen in der Ukraine. Seit Wochen ist von Einschüchterung der heutigen Oppositionellen, Schlägertrupps der Ultrarechten, ja sogar Toten zu hören. Es ist zu befürchten, dass die Wahlen in der zerrissenen Ukraine nicht so gemäßigt verlaufen werden, wie die auf der Krim. Der Krisenherd an der Nahtstelle zwischen Europa und Russland schwelt weiter. Zeit, wieder Brücken zu schlagen – statt sie niederzureißen.

 

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