Selbsthilfe statt Warten

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Ich habe vier Jahre Grundschule überlebt: überlebt als berufstätige Mutter eines Sohnes und als Frau eines in der Regel von 8 bis 19 Uhr abwesenden Arztes.
Ich konnte mich am Vormittag immer voll auf unsere "Betreute" verlassen, wie Benedict (heute 10) sie liebevoll nannte. Offiziell hieß meine große Hilfe "Betreute Grundschulzeiten an der Kalandschule e.V.". Ich habe sie 1996 mit anderen Eltern - meistens Frauen - an der Grundschule, in die unsere Kinder eingeschult wurden, mit begründet (siehe auch EMMA 5/97).
Von 7 Uhr 45 bis 13.15 Uhr wurden anfangs 30 SchülerInnen in zwei Räumen betreut, heute sind es 65 Kinder in drei Räumen, Benutzung des Hofes und der Turnhalle zum Toben und Fußballspielen inklusive. Anfangs arbeiteten zwei, heute drei Erzieherinnen und in den sehr vollen fünften und sechsten Stunden zusätzlich noch zwei Aushilfskräfte, die seit eineinhalb Jahren auch Hausaufgaben beaufsichtigen.
Ich habe mit der Zeit immer stärker auch die Vorteile für meinen Sohn gesehen und gespürt. Die Schule war für ihn von Anfang an Lebensraum, er lebte sich leichter in der Grundschule ein. In der Betreuten spielte er und bastelte Geschenke, und Freundschaften festigten sich. Er tobte sich nach dem Unterricht aus oder machte Hausaufgaben. Wir beide waren, wenn er nach Hause kam, auch emotional entlastet.
"Das Spannungsfeld Kind-Familie, Schule-Familie haben wir entzerrt", so fasst Erzieherin Carmen Schwarz (46) solche Erfahrungen zusammen, "für viele Eltern ist die Betreute Grundschule wirklich ein Segen, aber auch für die Kinder überwiegen die Vorteile."
Zu einem fachlichen Austausch treffen sich inzwischen regelmäßig die Mitarbeiterinnen aller Betreuten Lübecker Grundschulen. "Das hat bei uns zu mehr Sicherheit und Selbstbewußtsein geführt", sagt die Leiterin Iris Bouquet, "und niemand nennt uns mehr einen Verein von Hausfrauen!"
Aber eine echte pädagogische Zusammenarbeit findet seitens der Schule noch selten statt. "Wir fühlen uns manchmal wie ein Fuchs im Hasenbau", sagen die Erzieherinnen.
Natürlich brauchen die Erst- und Zweitklässler und ihre Eltern - von Stundenplan her gesehen - die Einrichtung am nötigsten. Doch können deshalb SchülerInnen aus den 3. und 4. Klassen ausgeschlossen werden, deren Mütter - genau wie ich - auf die Betreuung nicht verzichten wollen, auch wenn es Wartelisten gibt? Was hätte ich tun sollen, wenn eine Lehrerin länger krank ist oder drei Tage hitzefrei sind und ich unterwegs bin?
Seit diesem Jahr bietet unsere BGS auch eine Ferienbetreuung an: Eine Woche in den Oster- bzw. Herbstferien und am Anfang und Ende der Sommerferien je eineinhalb Wochen.
Anfangs zahlten wir 140 DM pro Kind und Monat, heute nur noch 100 DM. Denn die Stadt Lübeck und das Land Schleswig Holstein fördern seit zwei Jahren unsere Betreute Grundschulen (BGS) nicht nur mit Worten - sprich Beratung - und kostenloser Nutzung von Schulräumen, sondern auch mit staatlichen Geldern, die in der mittelfristigen Finanzplanung fest verankert sind. Diese Fördermittel sind Zuschüsse zu den Löhnen der professionellen ErzieherInnen oder pädagogischen AsisstenInnen, wenn die von Arbeitsamt geförderten Arbeitsverhältnisse zu Ende gehen.
Wir haben Schule gemacht. Im Schuljahr 1994/95 waren in Lübeck nur fünf, heute sind es schon 19 Schulen, die diese Betreuungsform anbieten. In ganz Schleswig-Holstein gab es im Schuljahr 1990/91 erst 22 vergleichbare Angebote, heute versorgen landesweit 338 Betreute Grundschulen jeden Tag rund 9.000 Kinder! Bei jeder zweiten sind Elternvereine die Träger, in kleinern Orten auch Kommunen oder die Arbeiterwohlfahrt etc..
Die Politik hat am Ende auch begriffen, dass Betreute Grundschulen die billigste Lösung für ein noch lange ungelöstes Problem sind. Ministerpräsidentin Heide Simonis selbstkritisch: "Wir haben in Deutschland für Eltern, d.h. für Frauen die ungünstigste Schulwirklichkeit Europas. Ich finde, es ist ein ermutigender Gedanke, dass Initiativen von Bürgerinnen und Bürgern eine so große Eigendynamik entfalten können, dass sich die Politik tatsächlich darauf beschränken kann, gesetzliche und strukturelle Rahmenbedingungen zu schaffen."
Das ist besser als nichts. Aber - erst das Mindeste! Und es ist ein politisches Signal auf dem Weg zur Ganztagsschule.

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