Gegenwehr: Brüll zurück!

Artikel teilen

Es passiert immer nur den anderen – bis es einer selbst passiert. Es war vielleicht halb zwei, eine Sommernacht in Barcelona, eine rauschende Party in einem alten Theater. Trotzdem war ich so müde, dass ich entschied, ohne meine Freunde nach Hause zu gehen. Ich lief eine Hauptverkehrstraße lang, kreuzte die Touristenpromenade Las Ramblas und bog in das Labyrinth aus schmalen, schummrigen Gassen des Barrio Goticos ein; der gotischen Altstadt von Barcelona, in der auch meine Wohnung lag. An der Straßenecke stand der Typ.

Anzeige

Als ich merkte, dass er mir folgte, ging ich schneller. Er hielt Schritt. Als ich losrannte, ohne mich umzudrehen, hörte ich ihn losrennen. In dem Moment, als ich vor meiner Haustür ankam, warf er sich auf mich und drängte mich gegen das Gitter vor meiner Haustür. Ich schrie nicht, weil ich Angst hatte, dass er dann zuschlagen würde. Aber ich schubste ihn weg, sah ihm in die Augen und sagte auf Spanisch, dass er sich verpissen soll. Der Typ trat einen Schritt zurück und starrte mich an.

Da stand ich also, mit dem Rücken zur Wand in einer düsteren Gasse und wusste nicht, wie ich mich wehren sollte, ohne dass die Situation eskaliert. Eine Situation, von der ich bisher immer gedacht hatte: Mir passiert das nicht! Dann das Absurde: Der Mann faltete seine Hände, sagte „Perdón!“ (Entschuldigung!), drehte sich um und rannte weg. Das war vor sieben Jahren.

„Wir müssen unsere Geschichten erzählen, um sexualisierten Übergriffen auf der Straße ein Ende zu setzen“, sagt die New Yorkerin Emily May. Darum hat May gemeinsam mit FreundInnen das Internet-Netzwerk „Hollaback!“ (etwa: Brüll, schnauz oder schrei zurück!) gegründet. „Wir fanden es so frustrierend, dass wir alle keine Antwort ­darauf hatten, wie eine Frau eigentlich mit diesen täglichen Übergriffen umgehen soll. Wenn Frauen gar nicht reagieren, machen sie sich zum Opfer. Wenn sie sich wehren, kann die Situation eskalieren. Und die Polizei kümmert sich auch nicht richtig darum.“

Emily, 29, entwarf eine Plattform, auf der Frauen täglich über ihre persönlichen ­Erfahrungen mit „street harassment“ – ­sexu­alisierte Übergriffe auf der Straße – schreiben können. Auf einer Karte markieren sie Orte, an denen sie belästig worden sind. Und manchmal veröffentlichen sie auch ein Foto von dem Täter.

„Sexuelle Übergriffe werden weder am Arbeitsplatz noch zu Hause geduldet, warum sollen wir sie auf der Straße hinnehmen?“, fragt May. Es melden sich übrigens auch Männer, die ­fassungslos über das Verhalten der Geschlechtsgenossen sind. May: „Das Problem ist nicht, dass alle Männer auf der Welt Frauen belästigen. Aber alle, die es tun, machen unser Leben gefährlicher.“

Die Idee fand durch die schnelle Verbreitung des Projekts im Netz in anderen US-Großstädten wie Washington bald Mitstreiter. Mittlerweile sind Hollaback-Seiten für Toronto und London, sowie ganz ­Aus­tralien und Israel online. Eine Seite für Berlin ist in Arbeit. May sagt: „Unser Ziel ist es, ein internationales Netzwerk zu gründen, bis es für jede Stadt eine Seite gibt.“

Männer, die in der U-Bahn ihren Schwanz auspacken. Autofahrer, die Passantinnen langsam hinterher rollen und sie plump angraben. „Meine Mitbewohnerinnen und ich waren grade auf dem Nachhauseweg von einem Abendessen, als plötzlich …“ oder „Ich stieg in den 176er-Bus und dieser Typ saß mir direkt gegenüber“. So ähnlich beginnen alle Storys auf Hollaback: mitten im Alltag und mitten in der Öffentlichkeit.

Es gab vor drei Jahren auch eine Seite im deutschsprachigen Raum, initiiert von einer Schweizerin. Die Seite ist mittlerweile wieder offline. „Fotohandy ist das neue Pfefferspray“ titelte die taz damals – und ging der Frage nach, ob Frauen den „digitalen Pranger“ möglicherweise missbrauchen könnten, um einen unschuldigen Mann im Internet bloßzustellen.

Ein Beispiel für dieses Problem blickt einen direkt von einem Foto auf der New Yorker Hollaback-Seite an: Ein Mann in der U-Bahn. Daneben beschreibt eine Frau in einem kurzen Text, wie der Typ im dicht gedrängten Nahverkehr vor ihr stand, sie anstarrte und seine Hoden kraulte. „Snap’em!“ fordert Hollaback – schnappt sie!

„Wir betreiben die Seite seit fünf Jahren und es hat sich noch keiner gemeldet und gesagt: Ich war’s nicht, löscht das Foto!“ sagt May. Und wundert sich, warum Frauen, die offen über sexuelle Übergriffe sprechen, immer als Lügnerinnen abgestempelt werden. „Dazu gehört doch eher eine Menge Mut!“

Mindestens jede zweite Frau in Deutschland kennt Formen sexueller Übergriffe auf der Straße: von blöden Kommentaren wie „Geiler Arsch“ oder „Du bist ja lecker!“, über exhibitionistische Handlungen oder Handgreiflichkeiten bis zu tatsächlichen Über­fällen. Das ergab eine Dunkelzifferstudie des Frauenministeriums.

„Die Belastung durch sexuelle Belästigung wird häufig ­unter­schätzt.“ Auch das steht in dieser Studie. Weil das Phänomen nicht ernst genommen wird. Diese Sätze kennt jede Frau: Stell dich noch nicht so an! Ist doch schön, wenn er dir ein Kompliment macht! Als starke Frau kommst du damit doch klar! Der meint das nicht so! „Es ist ja zum Glück nichts passiert!“, so lautete auch die gängige Reaktion, wenn ich meine Geschichte erzählte.

Anette Diehl arbeitet seit 23 Jahren beim Frauen-Notruf in Mainz. Wegen sexueller Belästigung auf der Straße melden sich hier nur sehr vereinzelt Frauen. „Natürlich gibt es das Problem auch in Deutschland. Aber diese Form der Gewalt gegen Frauen hat sich mittlerweile so etabliert, dass sie in unserer Gesellschaft als Lappalie gilt und Frauen die Übergriffe einfach hinnehmen“, sagt sie.

Was ein „sexueller Übergriff“ ist, das ist immer subjektiv. Jede Frau empfindet das anders und für jede Frau beginnt er an einem anderen Punkt. „Für mich ist der Hauptunterschied zwischen Belästigung und irgendeiner nervigen Bemerkung, dass Belästigung Angst macht“, sagt Emily May dazu.

Die sehr erfolgreiche Hollywood-Komödie „Er steht einfach nicht auf dich“ schildert die Problematik in der ersten Szene: Ein kleiner Junge schubst ein kleines Mädchen im Sandkasten auf den Boden und sagt: „Du stinkst wie die Kacke von meinem Hund“. Das Mädchen rennt bestürzt zu seiner Mutter. Die Mutter sagt: „Schatz! Weißt du, warum der kleine Junge das macht? Weil er dich gern hat!“

Das wirkt im Film komisch. Dabei erzählt eine solche Szene, wie schon kleine Mädchen lernen, sich „nicht so anzustellen“. Es ist ganz normal für Frauen, sich zur eigenen Sicherheit im Alltag einzuschränken. Lauf nicht alleine nach Hause! Geh nicht alleine in den dunklen Park! Das hättest du dir doch denken können! Das ist gefährlich! „Diese ständige Anpassungshaltung kostet Frauen sehr viel Energie“, sagt Anette Diehl. Und es sei doch wahrlich absurd, von Frauen zu erwartet, ihr Verhalten an das Risiko anzupassen, anstatt das Risiko zu mindern.

Eine Seite wie Hollaback findet die Frau vom Deutschen Notruf deshalb gut. Nicht nur, um Erfahrungen, sondern auch um Auswege aus den bedrohlichen Situationen auszutauschen. Schließlich dauern die Begegnungen manchmal nur Sekunden und der erste Impuls ist: wegrennen und vergessen.

„Ich kann Frauen immer nur empfehlen, zu schreien und andere gezielt auf sich aufmerksam zu machen“, sagt Martina Sundermann, Leiterin des Kriminalkommissariats 12 in Köln. Zum Schutz – und um am Ende einen Zeugen zu haben. Denn selbst wenn ein Übergriff zur Anzeige gebracht wird, heißt das noch lange nicht, dass der Täter auch ermittelt und später verurteilt werden kann. „Bei einer solchen Tat auf der Straße, ohne Zeugen und ohne Bilder und als einziger Hinweis eine Personenbeschreibung – da stehen die Chancen für eine Aufklärung meist schlecht“, ­bestätigt der Berliner Staatsanwalt Martin Steltner. Sexuelle Übergriffe auf der Straße: eine rechtliche Grauzone?

„Die Fälle sind schwer in einem Tatbestand unterzubringen“, sagt Kommissarin Sundermann. Wenn ein fremder Mann eine Frau auf der Straße verbal sexuell belästigt oder ihr in den Hintern kneift, ist das per Gesetz eine „Beleidigung“, hier mit sexuellem Hintergrund. Allerdings: Sein Verhalten muss von der Frau auch als herabwürdigend empfunden worden sein und das sollte sie bei der Anzeigenerstattung auch so zum Ausdruck bringen.

Von einem „öffentlichen Ärgernis“ spricht man, wenn ein Mann (oder eine Frau) öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt, die nicht zwangsläufig mit Nacktheit verbunden sind. Ein Exhibitionist ist ein Mann (und nur ein Mann) erst dann, wenn er sich entblößt und zum Beispiel onaniert, also eine eindeutige sexuelle Handlung vorliegt – das kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft werden. Drängt ein Mann eine Frau an eine Wand, hält sie fest und begrapscht ihre Brüste, handelt es sich um eine „sexuelle Nötigung“.

In Deutschland wurden im vergangenen Jahr über 25.000 Fälle von „Beleidigung auf sexueller Grundlage“ erfasst. Etwa 20.000 Fälle wurden aufgeklärt. Über 16.000 Täter waren männlich. Dazu kommen 7.340 ­erfasste Fälle von „Exhibitionistischen Hand­lungen“ und „Erregungen öffentlichen ­Ärgernisses“. Stellt man diese Zahlen in ein Verhältnis zu der eingangs erwähnten Dunkelzifferstudie (jede zweite Frau ist betroffen), geht also nur ein Bruchteil der Betroffenen zur Polizei und erstattet Anzeige.

Auch das ist ein Ziel von Hollaback: die Wahrnehmung von Street Harassment in der Öffentlichkeit zu ändern. In New York fand Ende Oktober eine Anhörung zu sexuellen Übergriffen auf der Straße vor dem New Yorker Stadtrat statt – die erste in der Geschichte der Stadt. Emily May und viele andere Frauen berichteten über ihre Erfahrungen. Ihre Forderungen: eine Studie über die Auswirkungen von sexueller Belästigung auf der Straße auf Frauen und Mädchen. Sowie eine stadtweite Informations-Kam­pagne, die Frauen, Mädchen, Männern und Jungen vermittelt: Sexuelle Übergriffe sind nicht okay. Und belästigungsfreie Zonen, besonders im Umfeld von Schulen.

„Die Übergriffe auf der Straße sind eine Form von permanentem sexuellem Terrorismus“, sagte eine Teilnehmerin. „Frauen wissen nie, wann und wo sie passieren werden und wie sehr sie eskalieren können“.

Alle, die eine Hollaback-Seite für ihre Stadt initiieren wollen, können sich bei dem Team in New York melden und ­bekommen ein Start-Paket, um die Seite anzulegen. „Es geht darum, dass sich die Bewegung ausbreitet“, sagt May. „Und zwar schnell!“

Weiterlesen
www.ihollaback.org

Artikel teilen
 
Zur Startseite