Gerechtigkeit für Renee Rabinowitz

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Über ein Jahr musste Renee Rabinowitz auf dieses Urteil warten. Aber die 83-Jährige hat Gerechtigkeit erfahren. Das Jerusalemer Amtsgericht hat ihrer Klage gegen die israelische Fluggesellschaft El Al stattgegeben: „Unter absolut keinen Umständen darf ein Besatzungsmitglied einen Passagier auffordern, sich von dem für ihn vorgesehenen Sitzplatz zu entfernen, weil ein benachbarter Passagier auf Grund dessen Geschlechts nicht neben ihm sitzen möchte“, urteilte Richterin Dana Cohen-Lekah.

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Er wollte im Flieger nicht Arm an Arm mit einer Frau sitzen.

Die Juristin Renee Rabinowitz war im Dezember 2015 auf einem El-Al-Flug von New York nach Tel Aviv kurz vor dem Start von einem Flugbegleiter gebeten worden, den Platz zu wechseln. Neben ihr sollte ein jüdisch-orthodoxer Passagier Platz nehmen - und der hatte sich beschwert, weil er nicht Arm an Arm mit einer Frau sitzen wollte. Überrascht gab Rabinowitz zunächst nach und wechselte den Platz. Aber die Holocaust-Überlebende konnte diese „Erniedrigungserfahrung“ nicht vergessen. „Wie kann es sein, dass ein Kerl mir als älterer, gut ausgebildeter, welterfahrener Frau vorschreiben kann, dass ich nicht neben ihm sitzen soll?“ fragte sie sich.

Renee Rabinowitz war mit ihren Eltern als Kind in Belgien nur knapp den Nazischergen entkommen. Sie flüchteten nach Amerika. Von da zog die Witwe vor wenigen Jahren nach Tel Aviv. Ihr zweiter Mann starb vor einigen Jahren. Beide Ehemänner waren Rabbiner.

Rabinowitz entschloss sich dazu, die Fluggesellschaft El Al zu verklagen. Unterstützt wurde die Juristin von dem „Religiösen Aktionszentrum“, das der jüdischen Reformbewegung angehört und schon ähnliche Fälle mit Erfolg begleitet hat. Zum Beispiel eine Klage gegen die öffentlichen Verkehrsunternehmen, die Frauen nun nicht länger vorschreiben dürfen, wo sie sitzen müssen. Bis 2011 hatte es Busse gegeben, in denen – auf Drängen der Orthodoxen – Männer vorne saßen und Frauen hinten (wie in der Zeit der Rassenapartheid in Amerika, wo die Weißen vorne saßen und die Schwarzen hinten.). Inzwischen können Frauen sich jetzt auch in israelischen Bussen hinsetzen, wo sie wollen – wenn sie die Nerven dazu haben.

Viele finden sich damit ab, weil es sich "nur" gegen Frauen richtet.

„Die Leute finden sich damit ab, weil es sich gegen Frauen richtet“, erklärte die Vorsitzende des „Religiösen Aktionszentrums“, Anat Hofmann, der Jerusalem Post: „Wenn es um Schwarze oder Araber gehen würde, hätte es einen Aufschrei der Empörung gegeben.“

Die Fluggesellschaft El Al hatte Rabinowitz einen Rabatt von 200 Dollar auf ihren nächsten Flug angeboten. Mit dem Argument, dass ja niemand sie dazu gezwungen habe, den Platz zu wechseln. Das Gericht in Jerusalem sieht das anders: Die Fluggesellschaft muss nun 6.500 Schekel Entschädigung zahlen, das sind umgerechnet etwa 1.600 Euro.

Denn bei dem Vorfall handelt es sich keineswegs um einen Einzelfall. El Al ist bekannt dafür, dass sie Frauen auffordert, sich umzusetzen, wenn Streng-Gläubige das verlangen, berichtet die FAZ. Das dürfte mit diesem Urteil nun vorbei sein.

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„Wir leben bald wie Frauen in Teheran"

Nili Philipp lässt sich nicht einschüchtern. „Wir geben Beit Shemesh nicht auf!“ steht auf dem Plakat.
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Es war ein sonniger Tag im August 2011, an dem Nili Philipp mit ihrem Mountainbike zu den Hügeln um Beit Shemesh aufbrach. Als sie die Hauptstraße Richtung Jerusalem hochradelte, passierte sie ein Schild: „Frauen ist es verboten, eng anliegende Kleidung zu tragen“. Philipp blickte auf ihre Leggins und trat noch kräftiger in die Pedale. Plötzlich spürte sie einen Schlag gegen ihren Helm. Philipp stürzte vom Rad. Ein Mann mit Schläfenlocken hatte einen faustgroßen Stein auf sie geworfen.

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Zitternd schob sie ihr Fahrrad zur nächsten Polizeistation. Dort erklärten ihr die Beamten, dass sie leider nichts unternehmen könnten. Und dass sie besser einen Kampfsport lernen solle.

Heute, drei Jahre später, sitzt Nili Philipp auf der Terrasse eines Cafés im Einkaufszentrum von Beit Shemesh und berät sich mit ihren Freundinnen. Einen Kampfsport hat sie nicht gelernt. Die 46-Jährige hat einen anderen Weg gefunden, sich zu verteidigen: Gemeinsam mit vier anderen Frauen hat sie die Stadt verklagt. Der Bürgermeister, fordern sie, soll die Schilder abnehmen, die ultraorthodoxe Einwohner eigenmächtig aufstellen, und die Frauen vorschreiben, wie sie sich kleiden sollen.

Für ultraortho-
doxe Juden ist
der Körper der
Frau eine Sünde

Für März ist die erste Anhörung angesetzt. In Israel, wo Frauen häufig religiös motivierte Diskriminierungen erfahren, gilt das Verfahren als Präzedenzfall. Beit Shemesh bei Jerusalem gilt als eine Bruchstelle der Gesellschaft, in der säkulare und religiöse Kräfte immer heftiger aneinandergeraten. Rund 40 Prozent der 100 000 Einwohner sind heute ultraorthodoxe Juden, für die der Körper der Frau eine Sünde ist, die es mit langen Röcken, hochgeschlossenen Blusen und nach der Heirat noch zusätzlich mit Kopftuch oder Perücke zu verbergen gilt.

Nili Philipp trägt eine langärmlige Strickjacke und Jeans. Die Anwaltsgehilfin kleidet sich stets gedeckt, dennoch rufen Schuljungen ihr „Schickse“ hinterher, wenn sie auf dem Heimweg vom Büro am Bankautomaten anhält, der in einer ultraorthodoxen Wohngegend liegt. „Schickse“ ist Jiddisch und ein abfälliges Wort für „Nichtjüdin“. Für Philipp, die großen Wert auf die religiöse Bildung ihrer Kinder legt und regelmäßig in die Synagoge geht, ist es eine Beleidigung.

Die gebürtige Kanadierin ist mit ihrem amerikanischen Ehemann vor 14 Jahren nach Beit Shemesh gezogen, weil viele Verwandte in der Nähe wohnen, die Stadt nur 30 Kilometer von Jerusalem entfernt liegt, von Wäldern umgeben ist und gute Schulen hat – ideal, um fünf Kinder großzuziehen. Der ultraorthodoxe Anteil der Bevölkerung beschränkte sich damals auf ein kleines Stadtviertel, das sie gerne besuchte, weil seine Bewohner noch so malerisch wie in einem osteuropäischen Schtetl lebten und die Windeln dort billiger waren.

Männer wiesen Frauen in öffentlichen Bussen an, hinten zu sitzen

Doch dann zogen immer mehr ultraorthodoxe Juden her, die sich die steigenden Mieten in Jerusalem nicht mehr leisten konnten. „Die Extremen unter ihnen haben die Macht an sich gerissen“, klagt sie. Nach und nach tauchten immer mehr Schilder mit einschüchternden Warnungen für Frauen auf. In öffentlichen Bussen wiesen Männer weibliche Fahrgäste an, hinten zu sitzen. Ein Supermarkt begann, Tücher an Kundinnen auszuteilen, damit sie ihre Schultern bedecken. Gleichzeitig nahmen tätliche Angriffe auf Frauen zu.

Sechs Wochen, nachdem Nili Philipp einen Stein gegen den Kopf bekommen hatte, begleitete sie ihre jüngste Tochter in die neue Mädchenschule in der Nähe eines religiösen Viertels. Eine Gruppe ultraorthodoxer Männer beschimpfte die Siebenjährige prompt als „Schlampe“, weil sie keine Strumpfhose unter ihremRock trug. In den folgenden Tagen wurde die Gruppe Männer vor der Schule immer größer. Sie schmissen Eier auf die Schülerinnen. Erst als Bilder der verängstigten Kinder in den Nachrichten ausgestrahlt wurden und landesweit für Empörung sorgten, verschwanden die Männer vom Schulzaun. Nili Philipp sah ohnmächtig zu.

Ein Jahr darauf wurde eine ihrer Bekannten attackiert. Die junge Mutter ging in einem ultraorthodoxen Stadtteil einkaufen. Trotz langen Rocks und Bluse wurde sie beschimpft. Als sie mit ihrem Baby auf dem Arm zurück zum Auto rannte und die Türen verriegelte, schlugen Männer mit Stöcken auf den Wagen ein, eine Scheibe ging zu Bruch. Einen Tag später ging Philipp wieder zur Polizeistation. Dieses Mal zeigte sie die Stadt an. „Beit Shemesh steht für ganz Israel“, sagt Nili Philipp. Sie verweist auf die Geburtenrate streng gläubiger Juden, die oft sieben und mehr Kinder bekommen – mehr als doppelt so viel wie der Rest der Bevölkerung. „Wenn wir jetzt nicht aufwachen, leben wir hier bald wie die Frauen in Teheran.“

Von einem Tag auf den anderen verschwanden alle öffentlichen Frauenbilder

Wie weit die Anpassung an die wachsende religiöse Minderheit geht, wird inzwischen selbst im Stadtzentrum deutlich. Philipp zeigt auf eine Baustelle auf der anderen Straßenseite. Dort wird ein zweites Einkaufszentrum hochgezogen. Poster auf dem Bauzaun veranschaulichen, wie es hier demnächst aussehen soll: Väter, die mit ihren Söhnen spielen. Jungen auf Skateboards. Männer mit Einkaufstüten.

„Eines morgens waren plötzlich alle Frauen von den Bildern verschwunden“, erzählt sie. Als sie bei den verantwortlichen Stellen nachhakte, sagte man ihr, dass man befürchtet habe, dass sich religiöse Einwohner von den Abbildungen moderner Frauen provoziert fühlen könnten.

Orly Erez-Likhovski kennt Hunderte solcher Berichte. Die Juristin führt Nili Philipps Klage gegen die Stadtverwaltung von Beit Shemesh. Sie arbeitet für das „Israel Religious Action Center“ in Jerusalem, das einen jährlichen Report über Geschlechtertrennung an öffentlichen Orten herausgibt. Ähnliche Schilder wie jene, gegen die die Frauen von Beit Shemesh vor Gericht ziehen, kennt sie überall im Land. In Krankenhäusern weisen diese Schilder getrennte Eingänge für Männer und Frauen aus. Auf Friedhöfen verbieten sie Frauen, an Beerdigungen teilzunehmen.

Bei einem Konzert in der Altstadt von Jerusalem, erzählt die Anwältin, habe die Stadtverwaltung die beteiligten Bands unlängst gebeten, auf den Auftritt von Musikerinnen zu verzichten, um die Gefühle religiöser Zuhörer nicht zu verletzen. „Befürworter der Geschlechtertrennung verweisen auf eine vermeintliche Tradition“, sagt sie. „Dabei beobachten wir diese Entwicklung erst seit ungefähr 15 Jahren.“ Das zunehmend radikale Auftreten ultraorthodoxer Gruppierungen sei eine Reaktion auf die wachsende Liberalisierung der israelischen Gesellschaft.

Anwältin Orly Erez-Likhovski kämpft für diskriminierte Frauen

2011 ist die bekannte Anwältin gegen die Geschlechtertrennung in Dutzenden öffentlichen Buslinien bis vor das Oberste Gericht gezogen. Sie hat den Fall gewonnen. Seitdem rufen sie immer häufiger Frauen an, die Diskriminierungen melden – auch Frauen aus dem ultraorthodoxen Umfeld selbst (EMMA 2/2012).

Und was tut der Bürgermeister von Beit Shemesh? Er warnt indes vor Ausschreitungen, sollte er gezwungen werden, die Kleidungsvorschriften zu entfernen. Die Angriffe auf Frauen in Beit Shemesh, von denen Philipp und ihre Freundinnen berichten, bezeichnet er als „glatte Lüge“.

Mosche Abutbul ist selbst ein orthodoxer Jude. In einem Interview hat er kürzlich verlauten lassen, Beit Shemesh sei eine „reine Stadt“, in der es keine Homosexuellen gebe. Am Abend haben sich Schwulen- und Lesbengruppen zu einer Demonstration im Stadtzentrum versammelt. Nili Philipp ist auch gekommen. Sie hat sich ein Schild an die Jacke geheftet: „Wir geben Beit Shemesh nicht auf“.

Ein befreundetes orthodoxes Ehepaar hat sie neulich gefragt, ob sie nicht lieber woanders hinziehen wolle. „Das kommt nicht in Frage“, hat sie geantwortet. Danach ist sie zum Kopierladen gegangen und hat Poster gedruckt. Auf dem Bauzaun des neuen Einkaufszentrums sind jetzt auch wieder Bilder von Frauen zu sehen. Nili Philipp hat sie kurzerhand zwischen die Männer geklebt.

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