Ein Leben ohne Netz

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Elsner war die zu frühe Schwester von Jelinek – und ist an der Gleichzeitigkeit von Klarsicht und Bewusstsein zerbrochen.
"Originell an ihrem kosmischen Sex ist allein, dass sie das Wort 'ficken' ganz bedenkenlos hinschreibt – das ist einer so jungen Autorin gewiss zugute zu halten. Aber im übrigen weist ihre Vorliebe für vegetative Monstrositäten, Kannibalen und Mitesser nur wieder auf den schon bei der Elsner deutlich gewordenen Weiber-Masochismus zurück: Weil sie in der Küche nicht mehr und in der Politik noch nicht herumwühlen können, wühlen sie in den eigenen Eingeweiden und in denen anderer Leute herum."
So zeittypisch unverfroren formulierte es ein anonymer Gutachter im Jahr 1969 für den Rowohlt Verlag, der daraufhin Elfriede Jelineks erstes Manuskript 'bukolit' ablehnte. Ein Jahr später brachte Rowohlt dann 'wir sind lockvögel baby!' als Jelineks ersten Prosaband heraus. Anzunehmen, dass der Rowohlt Verlag den Nobelpreis für Elfriede Jelinek nicht zum Anlass nehmen wird, dieses Verlagsgutachten zu publizieren. Was dem anonymen Gutachter 1969 sofort klar war, dauerte in der Wissenschaft bis 1995: Es war Christine Flitner, die erstmals Gisela Elsner und die neun Jahre jüngere und ungleich etabliertere Elfriede Jelinek als die "beiden wichtigsten Satirikerinnen der deutschsprachigen Literatur nach 1945" wahrnahm. Flitner untersuchte die Rezeption der Autorinnen und fand viele Gemeinsamkeiten. Am Anfang steht bei beiden die Zuweisung des "bösen Blicks", der früher oder später in "weiblich-krank" uminterpretiert wird.
Gisela Elsner wurde am 2. Mai 1937 in Nürnberg als Tochter eines Siemens-Direktors geboren; nach dem Besuch einer Klosterschule studierte sie Germanistik und Theaterwissenschaft, heißt es lapidar in den Kurzbiografien. Zwischen den beiden Lebensabschnitten klafft ein Abgrund. Elsner ist 17, als sie den Ausbruch aus der Familie wagt. Im Jahr ihres Abiturs erscheint ihr erstes, gemeinsam mit Klaus Roehler verfasstes Buch 'Triboll' mit surrealistischer Kurzprosa.
Elsners radikale Abkehr von der Selbstzufriedenheit der Wiederaufbaugesellschaft, ihre Flucht in die Beziehung, die nach wenigen Jahren und einem gemeinsamen Sohn scheitert, mündet in ein Leben ohne Netz. Ihr immer radikaleres gesellschaftspolitisches Engagement – 1977 tritt sie der DKP bei – trägt Züge der Verzweiflung und verstärkt ihre Vereinsamung. Hinzu kommt die zunehmende Ablehnung durch den Literaturbetrieb.
Viele Elemente dieses Lebenswegs sind durchaus zeittypisch für die "zu früh geborenen" Autorinnen der Nachkriegsgeneration. Das trieb viele Frauen in den Selbstmord (auch Gisela Elsners Schwester, der sie im Roman 'Abseits' 1982 ein Denkmal setzte). Auffällige lebensgeschichtliche Parallelen finden sich zu Ingeborg Bachmann: Hang zu Exzentrik und Selbststilisierung (bei Gisela Elsner als Kleopatra und black lady), Tablettensucht und nach hymnischer Aufnahme der hübschen Debütantinnen zunehmende Ablehnung der radikaler werdenden Schriftstellerinnen. Was die beiden Autorinnen nicht teilen, ist die (Wieder)Entdeckung durch die neue Frauenbewegung. Weder der Film über Elsners Selbstmord ('Die Unberührbare' 1999, gespielt von Hannelore Elsner unter der Regie von Sohn Oskar Roehler) noch der 2001 erschienene Briefwechsel mit Ehemann Klaus Roehler ('Wespen im Schnee') hat zu einer Beschäftigung mit ihrem Werk angeregt.
Die Nachrufe auf Gisela Elsner, die sich am 13. Mai 1992 in den Tod gestürzt hat, erklärten mit großer Einmütigkeit ihr Romandebüt 'Die Riesenzwerge' aus dem Jahr 1964 zum absoluten Höhepunkt ihrer schriftstellerischen Karriere. Bei Erscheinen war in den Besprechungen allerdings noch viel Verstörung und Ablehnung zu lesen. Zu unvermutet traf Anfang der 1960er Jahre die schonungslose, sprachartistisch vermittelte Satire einer 27-jährigen Autorin. Rückblickend wurde das erste Buch erhöht, und wurden damit die folgenden sieben Romane und zwei Erzählbände pauschal abgewertet.
Kritiker wie Hellmut Jaesrich oder Marcel Reich-Ranicki verstiegen sich gar zur Behauptung, der Erfolg ihres Romanerstlings, für den Elsner den renommierten Verlegerpreis 'Prix Formentor' erhielt, sei allein ihrem attraktiven Äußeren zuzuschreiben – das der Rowohlt Verlag geschickt für Werbezwecke einsetzte. Die Instrumentalisierung der äußeren Erscheinung von Autorinnen wurde also nicht erst Ende der 1990er Jahre mit der Ausrufung des "Fräuleinwunder" im deutschen Feuilleton erfunden. "Ohne Frage ist es ihren engen Freunden Grass, Roehler, Wagenbach und anderen zu verdanken, dass sie den 'Prix Formentor' erhielt", lautet die durchaus typische Interpretation von Fritz J. Raddatz. An Häme mangelt es gerade bei ungewöhnlichen Autorinnen nicht.
Elsner ist mit ihren Büchern in vielerlei Hinsicht eine Pionierin. Bereits Anfang der 1960er Jahre entwickelt sie Verfahren der sprachlichen Decouvrierung, verzerrenden Übertreibung und literarischen Groteske, die heute als Markenzeichen von Jelinek gelten. Die Übersetzung psychischer Deformation und Überforderung in grammatikalisch verkürzte Redeweise weiblicher Figuren wird später Marlene Streeruwitz weiterentwickeln, die mit unmotivierten Punkt-Setzungen und elliptischer Syntax nicht nur Schwäche, sondern auch Stärke von Frauen zu fassen versucht.
Damals passten Elsners artistisch hergestellte Kälte, die Distanz zu ihren Figuren und zum Teil auch ihre Themen nicht in die soeben neu eingerichtete Nische "Frauenliteratur". Ihre "empirischen Satiren" dekonstruieren und verfremden das vorgefundene Sprach- und Wirklichkeitsmaterial. Solche Verfahren bringen männlichen Autoren das positive Image eines unbestechlichen Gesellschaftskritikers ein, gelten bei weiblichen Autoren aber als unnatürliche Verweigerung des (weiblichen) Mitleids mit den Erniedrigten.
'Die Riesenzwerge' sind eine der luzidesten Bestandsaufnahmen der sozialen Realität der Adenauerzeit, doch die zeitgenössischen Kritiker wollten in Elsners sezierendem Blick nicht sich selbst erkennen. Die gezeigte Gesellschaft "ist von gestern", urteilte die Frankfurter Rundschau, und Urs Jenny meinte: "Gisela Elsner ist Mitte zwanzig, doch ihre grotesken Alpträume scheinen der Kleinbürgerwelt der Jahrhundertwende zu entstammen."
In zehn, nur lose miteinander verquickten Kapiteln entwickelt Elsner ein monströses Panorama des bürgerlichen (Nachkriegs)Alltags aus dem Blickwinkel eines sechsjährigen Jungen. Sein unbeteiligter Kamerablick registriert mit erschreckender Akribie, reiht die beobachteten Details aneinander, ohne Kommentar, ohne Wertung und ohne kausale Verbindungen. Er sieht mächtige Gebärden wie von Riesen, doch die Akteure dahinter sind kümmerliche Zwerge, wie der tyrannische Kriegskrüppel Kecker, der klägliche Rest vom Mythos des braven Wehrmachtssoldaten. Zerdehnung der Wahrnehmung in Zeit und Raum, Verzerrung der Perspektiven und Kippeffekte ins Surreale provozieren gewohnte Realitätserfahrungen. Mit sicherem und diszipliniertem Griff setzt Elsner slapstickartige Effekte ein und lässt in grotesker Überzeichnung psychische Prozesse in physische Gewalt kippen.
"Mein Vater ist ein guter Esser." Mit dieser Paraphrase auf den Einsatz eines klassischen Bildungsromans – "Mein Vater war ein Kaufmann", lautet der erste Satz von Adalbert Stifters 'Nachsommer' – eröffnet Gisela Elsner ihre Kampfansage an die Welt des Bildungs-Spießbürgers. Es ist ein fulminanter Auftakt am Familientisch, der sich in der Wirtschaftswundergesellschaft wieder zu füllen beginnt. Die Essgewohnheiten werden zum Abbild der innerfamiliären Machtverhältnisse, mit Erklärungsmustern für alle Variationen gängiger Essstörungen. Wie jene der Mutter, die immer dünner wird und – zumindest in Anwesenheit des Vaters – über gestammelte Halbsätze nie hinausgelangt.
In ihrem folgenden Roman ‚Der Nachwuchs‘ (1968) spielt Elsner mit der Figur des adipösen jungen Nöll das umgekehrte Beispiel eines passiven Protestes gegen den rastlosen Wiederaufbau durch.
'Die Riesenzwerge' erschienen fünf Jahre nach Günter Grass' Erfolgsbuch 'Die Blechtrommel', mit dem Elsners Debüt prompt verglichen wurde. Doch ihre Analyse der autoritären Strukturen ist radikaler und kompromissloser. Während Grass identifikatorisches Lesen fördert, verhindern Gisela Elsners groteske Realitätsverzerrungen konsequent jede Einfühlung.
Gesellschaftskritik gehört in den 1960er Jahren zwar zum Pflichtrepertoire, nur geht sie fast immer moralisierend vor und rückt mit Vorliebe Außenseiter und Randgruppen in den Mittelpunkt. Doch solche Gesten sozialer Betroffenheit interessieren Gisela Elsner ebenso wenig wie die aufkommende neue Subjektivität. Ihre Bücher liegen oft gegen den Trend der Zeit. In dem 1977 erschienenen Roman 'Der Punktsieg' etwa versucht sie, literarisch in die Sphären der Macht vorzudringen.
Und während Autorinnen beginnen, Frauen als Opfer von Unterdrückung und Gewalt zu zeigen, führt 'Die Zähmung. Chronik einer Ehe' (1984) ein umgekehrtes Fallbeispiel vor: Hier wird der erfolglose Schriftsteller Alfred Giggenbacher das Opfer seiner tüchtigen Gattin Bettina und rutscht unversehens in die Rolle des Hausmannes. "Warum lässt du nicht alles stehen und liegen und widmest dich deinem Roman", fragt ihn sein Freund. "Weil die Wohnung verrotten und verkommen würde", antwortet Giggenbacher wahrheitsgemäß und wie so viele Ehefrauen vor und nach ihm. In der "unnormalen" Umkehr der Geschlechterrollen wird der für Frauenfiguren "normale" Prozess der Zurichtung auf neue Art lesbar.
Bereits 1970, knapp zwei Jahrzehnte vor Elfriede Jelineks 'Lust', legt Gisela Elsner mit ihrem Roman 'Berührungsverbot' einen Anti-Porno vor. Sie zeigt die vermeintliche Befreiung von bürgerlichen Sexualnormen als gesteigerte Pervertierung der Moral, die zu neuen Formen struktureller Gewalt führt. Die Spießigkeit bleibt letztlich auch im sexuellen Exzess erhalten und die Akteure sind nicht in der Lage zu verarbeiten, was in ihrem Leben durcheinander geraten ist. Das Erlebte bricht die grammatische Struktur der Sätze auf und entlädt sich in einem Akt enthemmter männlicher Rohheit. Doch es wird, wie die NS-Vergangenheit, rasch kollektivem Vergessen überantwortet.
Die sezierenden Beschreibungen des Fortpflanzungsaktes provozierten damals so stark, dass die Zeitschrift konkret in der Schweiz wegen eines Vorabdrucks konfisziert wurde, und der Roman in Österreich das Etikett "jugendgefährdend" erhielt. Das war 1989 bei Elfriede Jelineks 'Lust' nicht mehr denkbar: Das Buch wurde im 'Literarischen Quartett' besprochen und landete auf der SWF-Bestenliste.
Das Schicksal einer zu früh Gekommenen ist möglicherweise eine Erklärung dafür, dass Jelineks stetig steigende Erfolgskurve einer Elsner versagt blieb. Vielleicht stellte auch das engere literarische Biotop im kleinen Österreich für Elfriede Jelinek letztlich einen Vorteil dar, in dem sie sich trotz aller Schmutzkampagnen allmählich als moralische wie literarische Instanz etablieren konnte. Hilfreich war dabei sicher Jelineks geschickte Instrumentalisierung der Klaviatur medialer Logik. Gisela Elsner scheint ihre Kampfbereitschaft kompromisslos nach allen Richtungen ausgelebt zu haben und nahm sich mit dem frühen Freitod schließlich selbst radikal aus dem Spiel.
1988 erscheint als Elsners letztes Buch bei Rowohlt der Roman 'Das Windei', eine groteske Parodie auf den Mythos der Wiederaufbaugeneration. Ihr allerletzter Roman 'Fliegeralarm' erschien beim Wiener Zsolnay Verlag und fiel bei der Kritik durch – ein herausragendes Beispiel für das Versagen der literarischen Öffentlichkeit, das bis heute nicht revidiert wurde. Er ist 1989 erschienen und das war offenbar ziemlich genau ein Jahrzehnt zu früh – die Debatte um die literarische Verarbeitung des Luftkriegs begann erst 1999.
Elsner schildert die Bombardements auf Nürnberg aus der Perspektive zweier Kinder, die verbissen SS, KZ und Endsieg spielen – in schrecklicher Verwilderung, aber auch im verzweifelten Kampf gegen Angst und Haltlosigkeit. Sobald die Sirenen heulen, greift der kleine Junge, "ZÄH WIE LEDER", zu seinem Talisman, einer Schachtel mit Miniaturnachbildungen der Wehrmacht samt Führer, um sich im Luftschutzkeller regelmäßig in die Hose zu machen. Ebenso zwanghaft schnappt sich der Vater Mutters Nähkästchen und beginnt es für die Dauer des Bombardements angelegentlich und versunken neu zu schlichten – dem Chaos und der Todesangst setzt er die ordnende Tätigkeit an "Schweißblättern" und Garnen entgegen.
Der Kunstkniff, mit dem Elsner das Unbegreifliche darstellbar macht, liegt in ihrer Sprachartistik ebenso wie in der Kinderperspektive, die eine Verschränkung von Opfer- und Täterrolle ermöglicht. Die Kinder sind Opfer, insofern sie den Bombardements wie der ideologischen Indoktrination hilflos ausgeliefert sind, und sie sind Täter, da sie in aller Unschuld die Schuld des Nationalsozialismus reproduzieren, dessen Sprach- und Denkstrukturen ihre Fantasie beherrschen. Sie spielen KZ-Wärter – und tatsächlich kommt ein zum Juden ernannter Junge durch sie ums Leben! –, Führer und Krieg; sie freuen sich über die wunderschönen Bombenruinen und hoffen, dass nach dem Endsieg gar nichts mehr übrig sein wird. Sie sind kleine Täter und große Opfer und etwas wird bleiben in ihnen. Und dieses Etwas ist nachhaltig und auch gefährlich – das hat Elsner schon in ihrem Debütroman 'Die Riesenzwerge' unmissverständlich klar gemacht.
Der Frauenbewegung fühlte sich Gisela Elsner selber nicht zugehörig. Vielleicht ist das auch ein Grund, dass die feministische Literaturwissenschaft bis heute eine Beschäftigung mit ihrem Werk nur sehr sporadisch in Angriff genommen hat. Schließlich sind ihre Texte auch in den Anthologien der Frauenbewegung nicht zu finden, denn daran, so Gisela Elsner, "nehme ich auch nicht teil, weil ich diesen biologischen Aspekt einfach nicht akzeptiere". Es war wohl auch diese Haltung, an der sie zerbrochen ist. Am Frausein eben, zu dem sie so viel zu sagen hat.
Evelyne Polt-Heinzl, EMMA 5/2005
Von der Autorin erschien 'Zeitlos', neun Schriftstellerinnen-Porträts, darunter neben Elsner auch von Suttner und Sir Galahad (Milena Verlag).
Von Gisela Elsner noch lieferbar: 'Die Riesenzwerge', 'Wespen im Schnee' (beide Aufbau Verlag), 'Die Zähmung. Chronik einer Ehe' (Verbrecher Verlag), 'Abseits' (Rowohlt Verlag).

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