Lebenslang zwischen zwei Stühlen

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Am 19. Dezember 1908 wird Gisela Sophia Freund "Unter den Kreidefelsen von Rügen" geboren – wie es die Fotografin mit dem Sinn für Inszenierungen ein Leben lang erzählte. Das Gemälde von Caspar David Friedrich hing tatsächlich über dem Sofa der Eltern in Berlin Schöneberg. Denn Vater Julius war zwar Kaufmann, aber auch Kunstsammler. Seine Sammlung wird es dann auch sein, die der von den Nationalsozialisten als "jüdisch" gebrandmarkten Familie im Exil das Überleben ermöglicht.

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Ende der 1920er Jahre geht die politisch engagierte Berlinerin nach Frankfurt, wo sie Soziologie studiert. Sie will schreiben. Doch die Ereignisse überrollen sie. Die Nazis marschieren, und die Studentin beginnt zu fotografieren. Sehr früh begreift die Sozialistin, dass sie Deutschland verlassen muss, denn sie ist nun doppelt gefährdet: als politisch und rassisch Verfolgte.

Am 31. Mai 1933 kommt Gisela Freund am Gare du Nord in Paris an. Erst ein Vierteljahrhundert später, im September 1957, sollte sie zum ersten Mal wieder in die umgekehrte Richtung fahren. Dazwischen liegt ein Leben zwischen drei Kontinenten und eine Zeitreise durch das 20. Jahrhundert. In Paris wird Gisela zu Gisèle und einer der bekanntesten weiblichen Fotografen ihrer Zeit.

Bettina de Cosnac hat diesen Weg von Deutschland und Frankreich nach Argentinien und Amerika und wieder zurück in einer gerade erschienenen Biografie nachgezeichnet. Die Autorin erzählt mit ungewöhnlicher Ambivalenzfähigkeit den Werdegang einer spannenden, aber auch irritierenden Person, die viel erzählt, aber offenbar genauso vieles verschweigt. Als Freund am Ende ihres 91-jährigen Lebens nach ihrer Heimat gefragt wird, da antwortet sie: "Ich tanze in vier Sprachen."

Ihr mäanderndes Leben wird in dem fundiert recherchierten Buch so liebevoll wie kritisch erzählt. Gisèle Freunds Weg, von der promovierten Soziologin, die eine frühe Theorie der Fotografie verfasste, über die Porträtistin der intellektuellen Avantgarde der 30er und 40er Jahre – darunter auch eines der schönsten Fotos von Simone de Beauvoir – bis hin zu der Reporterin, deren entlarvenden Fotos von der legendären First Lady Argentiniens, Evita Perón, zu einer Staatskrise zwischen dem südamerikanischen Staat und Freunds damaligem Gastland Amerika führte.

Ab 1970 wird die Deutsche in Frankreich international berühmt. Ihre Arbeiten werden auf der Documenta in Kassel und in zahlreichen Ausstellungen gezeigt. Es folgen Bücher, Preise und 1988 eine späte Anerkennung in ihrer Geburtsstadt Berlin: die erste Retrospektive im Martin-Gropius-Bau. Und ihre Wahlheimat, wo in den 1980ern die Sozialisten an der Regierung sind, verleiht Freund die höchste Ehrung: die Aufnahme in die Légion d'Honneur. "Es ist eine der tiefsten Befriedigungen, noch zu Lebzeiten anerkannt zu sein", schreibt sie.

Diese Frau saß, so scheint es, lebenslang zwischen allen Stühlen – und gleichzeitig auf allen Stühlen drauf. Eine vor den Nazis geflohene Jüdin – die Hoffotografin des französischen Präsidenten Mitterand wurde. Eine gescheiterte Schriftstellerin – die eine berühmte Fotografin wurde. Eine überzeugte Sozialistin – die Erbin eines großen Vermögens war (was sie ihr Leben lang verbarg). Eine verheiratete Frau – deren drei große Liebesbeziehungen Frauen waren.

Die entscheidendste Frau in Freunds Leben war wohl Adrienne Monnier (1892–1955), zentrale Figur der schillernden Frauenszene von Rive Gauche (dem linken Seine-Ufer von Paris): Freund lebte mit Monnier zusammen und verdankte ihr die Kontakte zu den Persönlichkeiten dieser Zeit – doch sie tarnte diese Beziehung bis zum Tod als Freundschaft.

Am 31. März 2000 stirbt Gisèle Freund in ihrer Wohnung Rue Lalande 12. Sie wird auf dem Friedhof Montparnasse beerdigt, auf den sie in den letzten Jahrzehnten von ihrem Fenster aus blicken konnte – und nur einen Steinwurf entfernt von vielen Berühmtheiten, die sie porträtiert hat.

Zum Weiterlesen:
Bettina de Cosnac: Gisèle Freund. Ein Leben (Arche, 24 €)

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