Hedwig Dohm: Blumenduft

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Hast du wohl schon dein Näschen, mein Kind, in ein Gläschen voll Rosen- oder Veilchenöl gesteckt? Das duftet herrlich, nicht wahr? Fast schöner als die Rose im Garten, als das Veilchen im Grase. Willst du wissen, mein Kind, wie es zuerst gekommen, dass man das feine Öl aus den Blättern und Kelchen der Blumen herausgepresst? So höre!

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Es stand ein Königsschloss auf einem hohen Felsen am Meer; dürr und öde war alles ringsumher, und nur die Meereswellen dröhnten mit dumpfem Schlage gegen die Felsen. Nicht Blumen, nicht Bäume gediehen auf dem unfruchtbaren Erdreich, selbst der König gedieh nicht recht, denn er war ein mürrischer, finsterer, alter Herr, und die arme Königin hatte bald, nachdem sie einer Tochter das Leben geschenkt, ihre sanften blauen Augen für immer geschlossen; sie sei gern gestorben, sagten die Leute, der König habe sie hart behandelt.

Nur eine zarte Pflanze gedieh auf dem Schloss am Felsenrand, eine Blume, die den Liebreiz aller übrigen Blumen in sich vereinigte, es war Lila, die kleine Prinzessin, die schlank war wie eine Lilie, leuchtend frisch wie ein Maienröschen und lieblich wie ein Vergissmeinnicht.

Lila langweilte sich auf dem öden Schloss; zwar hatte sie einen Garten, aber die Blumen darin waren künstlich von Seide und Sammet angefertigt, und sie dufteten nicht. Lila hatte einen Lehrmeister und Hofdamen, kleine Prinzessinnen und Gräfinnen aus der Nachbarschaft wurden eingeladen, um mit ihr zu spielen, aber sie langweilte sich doch.

Die Gespielinnen saßen immer so steif in ihren Atlaskleidern da, tranken Schokolade und wagten kaum, sich zu rühren, weil sie glaubten, die Kronen könnten von ihren Häuptern fallen, und die Gräfinnen, weil sie doch nicht weniger steif sein wollten als die Prinzessinnen.

Der Lehrmeister gefiel der Prinzessin auch nicht, er sah immer so ernsthaft aus, das verdross sie. In einem Bilderbuch hatte sie einmal Neger abgebildet gesehen.

"Papa", sprach sie zum König, "ich will einen Neger zum Lehrmeister haben!"

Da musste sich der Lehrmeister auf allerhöchsten Befehl kohlschwarz anstreichen, das war ein Spaß; zwei ganze Tage kam die Prinzessin nicht aus dem Lachen heraus. Die meiste Not aber hatten die Hofdamen mit ihr; regnete es und sie konnte nicht auf den Schlosshof hinausreiten, so wollte sie in den Zimmern umherreiten. Die dickste der Hofdamen musste das Pferd vorstellen, sie schwang sich auf ihren Rücken, und die übrigen Hofdamen mussten mit allerliebsten kleinen Peitschen die Dicke antreiben.

Dies alles tat die Prinzessin nicht aus bösem Herzen, sondern aus Langeweile. Wenn man von dem Felsen, auf dem das Schloss lag, herunterstieg und dann noch eine kleine Strecke taleinwärts ging, so gelangte man an ein hübsches kleines Häuschen, das von blühenden Gärten umgeben war. In dem Häuschen wohnte ein Gärtner mit seinem Sohne.

Egbert, so hieß der Letztere, hatte die herrlichen Blumen in seines Vaters Garten alle selber gezogen; er liebte sie über alles. Vom Morgen bis zum Abend sah man ihn im Garten arbeiten; er begoss seine Blumen, befreite sie vom Unkraut und garstigen Käfern, plauderte mit ihnen, und ehe er abends in seine Hütte trat, sagte er jedes Mal zu ihnen: "Gute Nacht! Gute Nacht!"

Eines Tages, als die Prinzessin in ihrem seidenen Blumengarten auf- und abspaziert war, langweilte sie sich noch mehr als gewöhnlich.

"Ich will einmal den Berg herunter laufen", sagte sie zu den Hofdamen. Diese erschraken.

"Eine Prinzessin", sagten sie, "läuft niemals einen Berg hinunter."

"Das wollen wir doch einmal sehen", antwortete Lila und begann zu laufen, immer schneller und schneller, und hielt nicht eher ein, als bis sie vor Egberts Garten stand. Verwundert, betäubt, entzückt schaute sie sich um und atmete in langen Zügen den süßen Duft, der den Blumen entströmte; überall Bäume voll goldiger Früchte, überall lebendige Blumen von nie gesehener Pracht; sie glaubte, in einem Feenlande zu sein.

Egbert hatte durch die Gitterstäbe hindurch Lila bemerkt und glaubte anfangs, sie sei ein Engel, der graden Wegs vom Himmel herunter geflogen käme. Wirklich sah sie unbeschreiblich lieblich aus mit dem schneeweißen Kleidchen, mit den goldenen Schuhen und dem himmelblauen Band, das durch ihre blonden Locken geschlungen war; als sie aber die weißen Händchen nach den roten Kirschen ausstreckte, da merkte Egbert wohl, dass sie kein Engel, sondern nur eine Prinzessin sei.

Endlich gewahrte Lila die schwarzen Augen Egberts, die auf sie gerichtet waren.

"Lass mich in den Garten, Junge!", befahl sie. Egbert öff nete das Gitter, und sie trat ein. Entzückt wandelte sie zwischen den Blumenbeeten auf und ab und konnte sich nicht satt sehen an all den Herrlichkeiten, und Egbert pflückte ihr Erdbeeren, rote Kirschen und goldige Aprikosen, und eben war sie im besten Schmausen begriffen, als die korpulenten Hofdamen atemlos und keuchend sich präsentierten.

Es half kein Bitten, Lila musste den Rückweg antreten. Zum Abschied schenkte ihr Egbert eine volle frische Rose. Das war ihr Trost in dem alten Schloss, das ihr jetzt noch öder und finsterer schien als gewöhnlich; sie betrachtete die Rose, küsste sie, stellte sie nachts vor ihr Bett und träumte von ihr.

Am andern Morgen aber war die Rose verwelkt, die Blätter lagen am Boden und dufteten nicht mehr. Lila weinte.

"Ich will eine andere Rose haben!", rief sie und stampfte mit den kleinen Füßchen. Die Hofdamen, aus Furcht, Lila könne in ihrem Zorn dem König erzählen, was vorgefallen, willigten endlich ein, abermals mit ihr zum Tal hinabzusteigen.

Egbert arbeitete wie gewöhnlich im Garten, doch war er nicht so fröhlich wie sonst, er sang nicht lustige Lieder, sondern dachte an die kleine Prinzessin, und ob sie wohl wiederkommen werde, da stand sie vor ihm und lächelte ihn an. Egbert wurde ganz rot vor Freude.

Von diesem Tage an kam Lila täglich zum Garten; die Hofdamen widersetzten sich nicht mehr, denn seitdem die Prinzessin mit dem kleinen Gärtner verkehrte, war sie das artigste Kind von der Welt geworden und quälte keine Seele mehr.

Während sie mit Egbert spielte, lagen die Hofdamen unter einem Baume und schlummerten. Aber Lila spielte nicht immer, sie arbeitete auch, so dass ihr die hellen Schweißtropfen von der weißen Stirne rannen, gemeinschaftlich mit Egbert, begoss die Blumen, grub, hackte und rupfte Unkraut aus, sie kletterte mit einer großmächtigen Schere auf die höchsten Bäume, schnitt die trockenen Zweige weg, sammelte das Obst; ihre Schokolade aber zu Haus gab sie heimlich dem Miezekätzchen; sie warf, solange sie im Garten war, all ihren Schmuck beiseite und flocht sich Immergrün in die Locken; an die Finger steckte sie Ringe von Gänseblümchen und an die Ohren anstatt der Ohrringe rote Kirschen; wie eine kleine allerliebste Blumenfee sah Lila aus.

Die Blumen kannten sie bald so gut wie Egbert, denn wenn sie Abschied nahm, wendeten sie die Köpfchen nach ihr und flüsterten:

"Auf Wiedersehen! auf Wiedersehen!" Die Kinder gewannen sich sehr lieb, so lieb, dass Egbert der Prinzessin schwor, sie und keine andere solle seine Frau werden, und Lila fiel ihm um den Hals und sagte:

"Du und kein anderer sollst mein Mann werden!" Und die Blumen nickten so leidenschaftlich, dass sie fast vom Stengel fielen, und flüsterten: "Wir gratulieren! wir gratulieren!"

Eines Tages, als Lila mit großem Eifer Unkraut ausrupfte, hatten die Hofdamen die Zeit verschlafen; da die Prinzessin nun in größter Eile den Rückweg antreten musste, vergaß sie, sich am Brunnen die Hände zu waschen. Fröhlich hüpfte sie auf dem Schlosse ihrem grämlichen Vater entgegen und reichte ihm arglos ihre Händchen zum Gruß. Starr blickte der König auf diese sonst so lilienweißen Hände, sie waren schwarz, kohlschwarz.

"Was ist das?", rief er mit donnernder Stimme, "wie kommt mein hohes Kind zu schwarzen Händen?" Schreckensbleich stürzten die Hofdamen dem König zu Füßen und bekannten alles, dann fielen sie in Ohnmacht. Der König schnaubte förmlich vor Wut, und als die Hofdamen wieder zu sich gekommen waren, diktierte er ihnen eine fürchterliche Strafe: Sie mussten sich kohlschwarz anstreichen lassen und durften während einer Woche nichts anderes essen als Rhabarber, Meerrettig und Salz.

Die arme Lila aber wurde im Schlosse eingesperrt, sehnsüchtig sah sie zum Fenster hinaus; ach, sie erblickte nicht mehr den Garten, wo sie Hand in Hand mit Egbert gewandelt war, sie hörte die Vöglein nicht mehr singen, atmete nicht mehr den Duft der Rosen und konnte nicht mehr in Egberts dunkle Augen schauen.

Das war nicht auszuhalten, und die Prinzessin hielt es auch nicht aus. Vor Kummer wurde sie krank und immer kränker, und bald glich sie der weißesten Lilie in Egberts Garten. Es wurden Ärzte gerufen, man hielt mit Zauberern Rat, doch wenn man die Prinzessin fragte, was ihr fehle, da antwortete sie nur immer: "Blumenduft! Blumenduft!"

Nun brachte man wohl aus allen Teilen des Landes Blumen aufs Felsenschloss, wohl verklärte dann ein Lächeln Lilas blasses Gesicht, und sie schien aufzuatmen. Am andern Tage aber waren die Blumen verwelkt und Lilas Lächeln erstorben; zuletzt konnte sie das Bett nicht mehr verlassen, und der König geriet wirklich in große Sorge, denn Lila war die einzige Erbin seines Reiches; starb sie, wo sollte das Volk einen König her bekommen, ein Volk ohne König! Der alte Herr schauderte bei dem Gedanken.

In seiner großen Not erließ er einen Aufruf durch das ganze Land: Wer die Prinzessin durch unvergänglichen Blumenduft heilen würde, der solle sie heiraten und König im Lande sein. Da aber keine einzige Blume sich entschließen konnte, in der rauhen Luft des Felsenschlosses länger als einen Tag zu blühen, so vermochte niemand, die verschmachtende Lila zu heilen.

Indessen war die Kunde von der Prinzessin Krankheit bis zu Egbert gedrungen, er starb fast vor Kummer und wusste doch keine Rettung. Er begoss die Blumen mit seinen Tränen.

"Lila muss sterben um euretwillen", erzählte er ihnen, "süße Blumen, helft ihr und mir, denn wenn Lila stirbt, stirbt auch Egbert!", und die Blumen wuchsen zusehends unter seinen Tränen und dufteten stärker als zuvor. Der Kummer ließ ihn nachts nicht in seiner Hütte schlafen, er trat hinaus in den Garten, sagte den Blumen trübselig gute Nacht und schlief mitten unter ihnen ein.

Kaum aber hatte er die Augen geschlossen, so rauschte es wundersam durch Baum und Strauch. Egbert erwachte; wie erstaunte er: Aus den Kelchen der Blumen schauten kleine Feenköpfchen, die neigten sich hinüber und herüber und flüsterten miteinander, indem sie auf Egbert zeigten.

Zuletzt schwebte aus dem Rosenkelch eine Fee, die hatte einen goldenen Stern auf ihren wehenden Locken und purpurne Schmetterlingsflügel an den Schultern, damit kam sie geradewegs auf Egbert zugeflogen und winkte ihm, ihr zu folgen. Staunend erhob er sich und folgte der lieblichen Erscheinung; sie führte ihn zu einer Rose, schlang den Arm um seinen Hals und sprach:

"Blick in den Kelch!" Er tat es. Ein zauberhafter Anblick bot sich seinen Blicken dar. An der innern Seite der Rosenblätter standen kleine goldene Leitern gelehnt; liebliche, ganz kleine Elfengestalten stiegen in geschäftiger Eile die Leitern auf und ab; in ihren Händchen hielten sie zierliche Schalen von rosenrotem Alabaster.

Was trieben sie auf den Leitern? Warum arbeiteten sie so rastlos? Im ersten Augenblick konnte es Egbert nicht unterscheiden, erst nach einiger Zeit gewahrte er, dass sie mit den zarten Fingern die Blätter der Rose auspressten und dass unter diesem Druck Tropfen auf Tropfen aus den Blättern in die alabasternen Schalen rann, und den Schalen entströmte ein unvergleichlicher Wohlgeruch.

„Siehst du“, sagte die Rosenfee, „dieser Saft in den Schalen, das ist unvergänglicher Blumenduft“, und sie ergriff seine Hand und führte ihn von einer Blume zur andern, und überall sah er in den Kelchen die goldenen Leitern, die Elfen und die rosigen Schalen.

"Ach, hätt’ ich nur eine einzige Schale des duftenden Öls!" rief Egbert schmerzlich aus. Da warf ihm ein Elfchen eine volle Schale ins Gesicht, dass er erschreckt zurücktaumelte; als er wieder hinblickte, da war alles verschwunden, die Elfen, die Rosenfee und der Mondschein, und helles Morgenrot leuchtete über den Blumen und in seine schlaftrunkenen Augen.

Egbert hätte wohl alles für einen Traum gehalten, aber da lag neben ihm die Alabasterschale zerbrochen, seine Kleider waren feucht, und es strömte aus ihnen derselbe Wohlgeruch, den er nachts geatmet. Er sann und sann über die Bedeutung des Traumes, endlich fand er die Lösung.

Mit einem scharfen Messer nahte er zitternd seinen holden Blumen, ihm war zumute, als wolle er einen Mord begehen, doch sieh, sie recken ihm alle die Köpfchen entgegen, beugen die Stengel und flüstern:

"Hab Mut! hab Mut!" Da schnitt er sie ab, trug sie in seine Hütte und presste aus den zarten Blättern das duftende Öl. Tröpfchen auf Tröpfchen ließ er in ein kristallnes Gefäß rinnen, das er wohl verschloss. Dann machte er sich auf den Weg zur Prinzessin. Man wollte den armseligen Gärtnerjungen nicht einlassen.

"Ich bringe unvergänglichen Blumenduft", sagte er. Da öffneten sich vor ihm die Flügeltüren, und er sah Lila, gleich einem Blümchen, das der Sturm geknickt, auf einem weißen Atlaskissen ruhen, ihre Wangen aber waren noch weißer als das Kissen.

Wie sie Egbert erblickte, streckte sie die Arme nach ihm aus und lächelte ihn durch Tränen an. Egbert öffnete das Fläschchen, und ein himmlischer Duft zog durch das Gemach, zog durch das ganze Schloss, zog über die Felsen und über die Gärten, ja, sogar das Meer duftete wie ein Strauß köstlicher Blumen.

Frisch und gesund wie ein Maienröschen sprang Lila aus dem Bett, und der König kam, die Hofdamen kamen, die Minister kamen, und alle atmeten entzückt den Duft, und sie tränkten ihre Kleider und ihre Taschentücher mit der köstlichen Flüssigkeit und salbten damit ihre Häupter; die Hofdamen rochen wie Jasmin, der König wie eine Rose und seine Minister wie Veilchen.

Schmetterlinge und Bienen drangen in das Gemach, das sie für einen üppigen Garten hielten, ein naseweiser Schmetterling setzte sich auf des Premierministers Nase, so dass er höchst unschicklich niesen musste, und eine Biene trieb die Frechheit so weit, den König in sein linkes Bein zu stechen, so dass er mehrere Tage lang hinkend regieren musste.

In dieser allgemeinen Freude hatte man des jungen Gärtners ganz vergessen; endlich trat derselbe vor, beugte ein Knie vor dem König und sprach den bescheidnen Wunsch aus, unverzüglich mit Prinzessin Lila vermählt zu werden.

Alle vom König bis auf den Stalljungen schlugen vor Verwunderung die Hände über dem Kopf zusammen, und der König wäre beinah vor Zorn an einem Stück Kuchen, das er grade im Munde hatte, erstickt, wenn nicht einer der Minister ihn schnell ein wenig auf den Rücken geklopft hätte.

Als er wieder zu Atmen gekommen war, sah er Egbert mit durchbohrendem Blicke an und zeigte majestätisch nach der Tür. Der bestürzte Egbert floh vor diesem schrecklichen Anblick, in der Tür aber rief er noch dem König zu:

"Fürchtet, Majestät, die Rache der Blumengeister!" Wohlweislich hatte der König das Fläschchen behalten, und damit nicht etwa die Hofdamen davon naschen möchten, stellte er es in der Nacht auf ein Tischchen vor sein Bett. Schon ruhte er in tiefem Schlaf, als er plötzlich durch ein seltsames Geräusch erweckt wurde.

Erschreckt rieb er sich die Augen und bemerkte, dass der Propfen von dem Kristallfläschchen gesprungen war; ein feiner, weißer Dunst stieg aus dem Fläschchen empor, derselbe wurde dichter und dichter, seine Umrisse wurden deutlicher, und er gewann eine bestimmte Gestalt; eine Blume nach der andern tauchte aus dem Nebel auf, die Blumen wuchsen und wurden größer, bis sie zuletzt an die Decke des Zimmers reichten, und näher und näher schwebten die Riesenblumen zu des Königs Lager. Der aber fürchtete sich nicht und rief ihnen zu:

"Wartet, ihr windigen Blumen, ich mach euch den Garaus!", und ging beherzt auf die Rose zu. O weh, aus ihrem Stengel fuhr ein ungeheurer Dorn, der drang tief in des Königs Finger; da griff er die Lilie an, aus ihrem Kelche aber zuckte ein blankes Schwert, das schwebte drohend über des Königs Haupt; geschwind nahm er die Nachtmütze ab und setzte sich seine Krone auf; davor wird das Schwert Respekt haben, glaubte er. Dann näherte er sich dem Vergissmeinnicht und wollte es brechen.

'Das Blümchen', dachte er, hat keine Waffen'; wie er aber die Hand darnach ausstreckte, da brannten ihm aus dem Kelch des Vergissmeinnichts zwei Augen entgegen, die wie Feuer seine Brust verzehrten, und wie er genauer hinsah, erkannte er, dass es die Augen seiner längst verstorbenen Frau waren. Zitternd wandte er das Haupt, und als er sich nach einiger Zeit umblickte, da waren die Blumen verschwunden, und an ihrer Stelle schwirrten Bienen, Mücken, Käfer und Fliegen durch das Gemach, sie summten grade auf den König zu, welchem Hören und Sehen verging.

"Summ, summ, brumm, brumm", klang es ihm in den Ohren, und bald war er dermaßen zerstochen, zerkratzt und zerbissen, dass er kaum noch kenntlich war. Erschöpft sank er auf die Knie und bat um Gnade.

"Vermähle Lila dem Egbert", brummte eine dicke Biene. "Das geschieht nimmermehr", rief der König wütend, indem er aufsprang. Da verschwanden die Tiere und das Zimmer ward zu einem See, jede Blume war zu einer Welle geworden, und die Bienen und Mücken zu garstigen Fischen, die ihre Köpfe aus dem See streckten.

Der König stand mit nackten Füßen im Wasser, und das Wasser war eiskalt. Die Wellen hoben sich, und das Wasser schwoll höher und höher.

"Nein, nein", rief der König, "ich tue es doch nicht", und stampfte mit den Füßen, dass das Wasser hoch aufspritzte. Da stieg es immer schneller, stieg ihm bis an den Hals, bis an das Kinn, bis über den Mund, noch einen Augenblick – und er war ertrunken.

"Halt!", rief er, und seine Stirn war in Todesschweiß gebadet, "ich willige in die Vermählung."

Da schwand das Wasser, da schwanden die Fische, und der erste Morgenschein fiel auf das bleiche Gesicht des Königs. In aller Frühe ließ er Egbert aufs Schloss rufen und sprach zu ihm:

"Mein Sohn, ich habe mich über Nacht eines anderen besonnen, der Mensch, wäre er selbst ein König, muss sein Versprechen halten! Mein hohes Kind soll deine Gemahlin werden!“ Voll Entzücken will Egbert Lila in seine Arme schließen, aber der König fährt im höhnischen Tone fort:

"Selbstverständlich, mein lieber Sohn, werdet Ihr zuvor für ein Schloss Sorge tragen, das einer Königstocher würdig ist“, und bei sich dachte er: ‹Woher das Schloss nehmen und nicht stehlen?› Darauf machte er Egbert eine spöttische Verbeugung, nahm die weinende Lila bei der Hand und trollte sich.

Traurig und nachdenklich blieb Egbert zurück, sobald er sich aber wieder in seinem Blumengarten befand, kehrte auch sein Mut zurück. Wieder fielen unter seinem Messer alle Blumen in seinem Garten, und er presste aus ihren Blättern das herrliche Öl; jeden Morgen aber waren die Blumen, die er abends abgeschnitten, schöner und herrlicher erblüht, und er arbeitete den ganzen Tag, nachts halfen ihm die Elfen, und bald hatte er viele hundert Fläschchen mit dem wundersamen Safte gefüllt.

Nun zog er an den verschiednen Fürstenhöfen umher und bot das Blumenöl feil, und man wog es ihm mit Gold auf. Bald war er einer der reichsten Leute im Lande. Nun baute er mit verschwenderischer Pracht mitten unter seinen Blumen ein Schloss. Dann ging er zum König und sprach:

"Ich soll Euch einen schönen Gruß von den Blumengeistern bringen, und mein Schloss wäre fertig.“ Notgedrungen musste der König, der keinen Vorwand mehr hatte, in die Vermählung willigen.

So wurde Lila Egberts Gemahlin, und ihr könnt die Blumen fragen, die wissen, wie glücklich sie geworden sind. Dass ein Gärtner König werden sollte, diesen Kummer überlebte der König nicht lange, er starb am gebrochenen Herzen. Kurz vor seinem Tode aber ließ er sich die Krone auf seinem Kopfe festnageln und das Szepter in die Hand schmieden; man begrub ihn damit.

Egbert aber, der nun König geworden war, besann sich nicht lange, er ließ sich eine Krone von Blumen machen, die hatte noch den Vorteil, dass sie nicht drückte, außerdem aber wohnte dieser Krone eine wundersame Kraft inne, ihre Blumen blühten immerfort und welkten nicht, solange Egbert sein Land gut und weise regierte, hatte er aber unwürdig gehandelt und seinen Untertanen etwas zuleide getan, so welkten die Blumen und erblühten erst von Neuem, wenn er sein Unrecht bereut und gesühnt hatte.

Jeden Abend, ehe Egbert und Lila zu Bett gingen, traten sie in den Garten und sprachen zu den Blumen:

"Gute Nacht, meine lieben Kinder!", und die Blumen wendeten ihre Köpfchen und flüsterten: "Gott behüt’ euch!"

Aus der Märchensammlung "Im Reich der Wünsche - die schönsten Märchen deutscher Dichterinnen", herausgegeben von Shawn C. Jarvis (C. H. Beck, 19.95 €)

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