Gamechanger Olaf Scholz?

Der Kanzler beim EU-Gipfel in Brüssel. Foto: imago images
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Wer gibt den Ton an beim EU-Gipfel in Brüssel? Der forsche Emmanuel Macron - oder der zögernde Olaf Scholz? Bei beiden geht es nicht nur um die Außenpolitik, sondern auch um die Innenpolitik und die WählerInnen. Macron will der rechtspopulistischen Marine Le Pen und dem linkspopulistischen Jean-Luc Mélenchon, die beide für Verhandlungen mit Putin sind, zeigen, was eine Harke und un vrai homme ist. Scholz will seine einst eher pazifistische Partei vor dem Untergang retten und sie im Hauruckverfahren wieder zur Friedenspartei machen, was immerhin der Hälfte der Bevölkerung gefallen würde (und nicht nur den fünf Prozent, die noch SPD wählen wollen).

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Seit zwei Jahren tobt nun der Krieg in der Ukraine, eine halbe Million Menschen sind tot, heißt es. Im Bundestag und in den Medien tobt seitdem die Diskussion über Waffenlieferungen. Ausschließlich. Gebracht sie bislang nichts. Vergangenes Jahr war es der Leopard, jetzt ist es Taurus. Plötzlich sagt der Kanzler entschieden: Nein! Hat er die noch näher rückende Gefahr eines Atomkrieges erkannt? Die Mehrheit (60 Prozent, laut Umfragen von YouGov und ARD Trendbarometer) der Bevölkerung zumindest sieht es so. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich fordert ein „Einfrieren des Krieges“. Die Stimmen in der SPD mit der Forderung nach Verhandlungen, sie werden lauter.

Keine Bodentruppen. Das Sterben, das macht ihr in der Ukraine mal schön allein

Von der realen Lage in der Ukraine völlig unbeeindruckt fordern FDP, Grüne und auch die Union weiterhin mehr Waffen inklusive Taurus - ein Waffensystem, das bis mitten in den Kreml fliegen könnte. Taurus wäre der „Gamechanger“, sind die Befürworter sich sicher. ARD, ZDF, Zeit, SZ, FAZ und Welt sind davon überzeugt und überbieten sich mit Anti-Scholz-Tiraden: der „Defätist“, der Illusionist“, der „Schwächling“ oder „der Friedenskanzler, über den Putin lacht“. Der „Friedenskanzler“… was für ein Schimpfwort.

Und dann auch noch der Papst mit seiner weißen Fahne. Wohl zu viel weißer Rauch, was? „Wenn man sieht (…), dass es nicht gut läuft, muss man den Mut haben, zu verhandeln“, sagte Franziskus I. im Schweizer Fernsehen. Roderich Kiesewetter (CDU) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) schämten sich daraufhin prompt, katholische Christen zu sein. Und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), forderte den 87-Jährigen forsch auf, doch mal selber an die Front zu fahren.

Die ganze Bundesregierung wird von einer Mehrheit der Abgeordneten aufgefordert, „unverbrüchlich“ und „mit ganzer Kraft“ Militärhilfe für die „Verteidigung und Wiederherstellung der vollständigen territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine“ bereitzustellen. Unverbrüchlich? Mit ganzer Kraft? Was bedeutet das? Wie weit wollen wir noch gehen?

Strack-Zimmermanns Outfit bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Foto: X
Strack-Zimmermanns Outfit bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Foto: X

Für Macrons Bodentruppen reicht es ja in Deutschland offensichtlich nicht. Spätestens jetzt ist klar: Das Sterben, das macht ihr in der Ukraine mal schön allein. Die USA hatten das Entsenden von Bodentruppen schon zuvor kategorisch ausgeschlossen. Laut New York Times befinden sich die Amerikaner generell auf dem Rückzug. Falls der nächste Präsident Trump heißt, soll innerhalb von 24 Stunden Schluss sein: „I will not give a penny to Ukraine!“

Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die mit Taurus-T-Shirt bei der Münchner Sicherheitskonferenz posierte, fantasiert seither über eine „EU-Armee“. Mit wem die Supertruppe bestückt werden könnte, ist unklar.

Die deutsche Bundeswehr ist laut aktuellem Bericht der Wehrbeauftragten Eva Högl (SPD) alles anderes als kampfbereit: „Das Material verfällt zusehends, Infrastruktur und Personal fehlen.“ Laut Militärexperten sieht es in Frankreichs und Großbritanniens Armeen auch nicht viel besser aus. In absehbarer Zeit irgendwo „einzumarschieren“, wäre also keine gute Idee. Einen dritten Weltkrieg gegen die größte Atommacht der Welt loszutreten, wäre die wohl denkbar schlechteste.

Für Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) ist es der Moment, Deutschlands SchülerInnen auf einen Krieg vorzubereiten. Bundeswehrsoldaten sollen an den Schulen „Zivilschutzübungen“ veranstalten - und wohl nebenher auch kräftig die Werbetrommel für die Truppe rühren, so wie sie es schon eine ganze Weile tun. 20.000 neue Rekruten werden pro Jahr gebraucht. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hatte am 1. Juni 2023 eine große Anwerbekampagne ab der 8. und 9. Klasse initiiert. Der Vorstoß von Stark-Watzinger hat allerdings nicht gezündet. Von Eltern, Lehrerverbänden und SchülerInnen hagelte es Kritik. Tenor: „Wir müssen unsere Kinder schultüchtig machen und nicht kriegstüchtig!“ Auch wetterten viele Eltern gegen die „Kriegsgeilheit“ der FDP.

Vad: Würde Strack-Zimmermann ihre eigenen Söhne in so einen Krieg schicken?

„Strack-Zimmermann sollte sich mal lieber fragen, was ihre Söhne tun würden. Würde sie ihre Söhne wirklich dort als deutsche Soldaten in den Kampf schicken?“, fragt Erich Vad, ehemaliger militärischer Berater von Angela Merkel und Brigadegeneral a.D., im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung. Er kritisiert sowohl Strack-Zimmermanns als auch Baerbocks „beispiellose Kriegsrhetorik“ wider besseren Wissens. „Strack-Zimmermann ist Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, sie weiß um die militärische Lage in der Ukraine. Baerbock genauso. Es ist wenig verantwortungsvoll, so zu tun, als ginge es dort flott weiter!“, sagt Vad.

Die Lage an den Fronten: Von einer „Rückeroberung der Krim“ sind die Ukrainer weit entfernt. Auch eine „Rückeroberung des Donbass erscheint unrealistisch. Die sogenannten Frühjahrs- und Sommeroffensiven sind gescheitert. Militärs nennen sie in der Rückschau nicht mehr Offensive, sondern Stellungskrieg. Der ukrainische Generalstabschef Saluschnyj sagte dem britischen Economist: Man stehe vor einer Pattsituation, einem Abnutzungskrieg, der keine militärische Lösung in Aussicht stelle. Ein Hilferuf? Auf jeden Fall eine Einschätzung, die ihn den Job kostete. Was sollen noch mehr Waffen also bringen? Was ist das Ziel, wenn doch der Ukraine die Soldaten ausgehen?

Russland wird aktuell nicht nur die „Eskalationsdominanz“ zugeschrieben, deutliche Geländegewinne im Raum Charkiw oder Odessa sollen bevorstehen. Für Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt (Grüne) der Moment, um die volle territoriale Integrität mit den 1991 von Russland anerkannten Grenzen erkämpfen zu wollen. „Das muss der Maßstab sein“, so Göring-Eckardt. Für die Protestantin steht Glaube eben über Realität.

Denn verhandeln, das wolle Putin ja sowieso nicht, sind sich FDP, Grüne und die Leitmedien sicher. Getreideabkommen hin oder her, zahlreiche Gefangenenaustäusche ebenso. Und Putins mehrfachen Verhandlungsangebote - zuletzt in dem Interview mit dem US-Journalisten Tucker Carlson - sicher alles Bluff. Sicher, das ist nur, dass Selenskyj nicht verhandeln will. Er hat dazu sogar ein regelrechtes Dekret verkündet.

Haben wir es denn wirklich versucht? Wir verhandeln sogar mit den Taliban

Und wir, haben wir es denn wirklich versucht? Die BRD verhandelt und dealt zwar mit den Taliban; mit Katar, das die Hamas finanziert; und auch mit den Mullahs im Iran, die allein 2023 über 800 Menschen exekutiert haben. Aber mit Putin? Never.

Aus der Europäischen Union ist bisher keine einzige Friedensinitiative hervorgegangen. Scholz und Macron waren zusammen noch nie bei Putin. „Als Bundeskanzler wäre ich gemeinsam mit Emmanuel Macron nach Moskau gereist. Das wäre ein starkes europäisches Signal gewesen“, sagt Armin Laschet (CDU).

Wie dringend solch ein Besuch wäre, enthüllten jetzt die New York Times und der Sender CNN. Sowohl am 6. Oktober 2022, als auch im Februar 2024, wurden Gespräche russischer Militärs über einen möglichen Atomwaffeneinsatz abgefangen. Die Russen, so die US-Beamten, meinten ihre Atomdrohungen ernst. Bundeskanzler Scholz war von Biden eingeweiht. Er drängte bei seinem Chinabesuch Anfang November wohl auch deshalb auf eine öffentliche Stellungnahme gegen den Einsatz von Atomwaffen. Scholz hält die Atom-Drohung nicht für Bluff. Die Leichtfertigkeit, mit der sie alle seit zwei Jahren unser aller Sicherheit gefährden - Scholz scheint sie verloren zu haben. Heißt der wahre Gamechanger also nicht Taurus – sondern Scholz?

Wie bitter ernst die Lage ist, zeigt doch auch die Ukraine selbst. Das Land blutet aus. Mehrere hunderttausend Soldaten sind gefallen. Ein Vielfaches an Familien ist zerstört. Ausgebildete Soldaten gibt es kaum noch, auf dem Schlachtfeld stehen sich junge Männer und Familienväter gegenüber. Manche von ihnen hatten noch nie eine Waffe in der Hand. Jeden Tag sterben weitere hundert, manchmal tausend an einem Tag. Dazu all die Toten aus der Bevölkerung, die Verletzten und Traumatisierten. Tote, verstümmelte und verwaiste Kinder. Und ja, all die vergewaltigten Frauen.

Obwohl Vergewaltigungen in der deutschen Politik so gut wie nie eine Rolle spielten, kein einziger Politiker, keine einzige Politikerin das jemals thematisiert hätte (dabei werden pro Jahr zwischen 12.000 und 14.000 Vergewaltigungen polizeilich erfasst), gehört es jetzt mit zu den ersten Argumenten pro Waffenlieferungen. Besonders von „Oma Courage“, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, wie die FDP-Werbung die 66-Jährige zu titulieren pflegt. Die Waffennärrin hat sogar Alice Schwarzer vorgeworfen, zu den Kriegsvergewaltigungen zu schweigen. Die hat geantwortet.

Behinderte Frauen sind heiß begehrt. Wer sie pflegen muss, darf verweigern

Ein Drittel der Ukraine ist heute mit Landminen überzogen. Sie werden die Menschen, vor allem Kinder, die oft abseits der Wege unterwegs sind, noch ewig zerfetzen. Ehefrauen von Soldaten demonstrieren dafür, dass ihre Männer auch „ein Recht auf Leben haben“ und von der Front zurückkommen müssen. Selenskyj aber denkt über eine weitere Mobilmachung nach. Er will noch weitere 500.000 Menschen an die Front werfen. Ukrainische Männer verstecken sich, aus Angst vor Zwangsrekrutierung. 650.000 ukrainische Männer im „wehrfähigen Alter“ haben sich bereits in die EU abgesetzt, 200.000 davon allein nach Deutschland.

In der Ukraine sind behinderte Frauen neuerdings heißbegehrte Ehefrauen. Denn wer sie pflegen muss, darf den Kriegsdienst verweigern. Ebenso Männer, die das alleinige Sorgerecht für ihr Kind haben. Die Zahl der Männer, die es vor Gericht erstreiten, hat sich in den letzten zwei Jahren verzehnfacht.

Es ist Zeit, die Lage so zu betrachten, wie sie ist. Und nicht, wie man sie sich wünscht. Die bisherige Strategie des Westens, sie hat nichts gebracht. Es geht nicht um Moral, es geht um Menschenleben. Es muss einen Waffenstillstand geben, mit Kompromissen auf beiden Seiten. So bitter es ist. Es ist Zeit, mit Putin zu verhandeln.

Das wäre es schon vor zwei Jahren gewesen. Da wurden alle verhöhnt, die das forderten und den Offenen Brief von Alice Schwarzer an der Bundeskanzler unterzeichneten. Seitdem hat sich nichts verändert, nur verschlechtert. Für die Ukraine - und ganz Europa. Eine halbe Million Menschen sind tot – und jeden Tag kommen neue Opfer hinzu.

Hier Manifest für Frieden unterzeichnen.

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