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Herta Müller: Die Klarsichtige

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"Und was machst du, wenn der Verlag das Buch nicht annimmt?" Mit diesen Worten kommentierte die Mutter von Herta Müller deren letztes Buch "Atemschaukel". Die Mutter liest die Bücher der Tochter nicht. Und sie spricht auch nicht über ihr Leben: über ihre fünf Jahre im Stalin-Lager als Zwangsarbeiterin zum Beispiel, über die Angst und den Hunger. Der Tochter aber hat sie diese Angst auch ohne Worte weitergegeben. Und als hätte das nicht schon genügt, packte das Schicksal namens Ceaușescu auch noch die eigenen Erfahrungen drauf: Dazu gehörte das Atemanhalten von Herta Müller und LeidensgenossInnen bei jedem Stocken des Aufzugs: Hält der Aufzug etwa auf meiner Etage? Holen sie jetzt mich?

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Es geht um Leben und Tod
Mit Herta Müller, 56, ehrt das Nobelpreiskomitee eine Autorin, in deren Schreiben es um Leben und Tod geht – und das mit einem Maximum an Poesie, Präzision und Wucht in der Sprache. In ihren Romanen und Essays bleibt die Autorin in der Welt des Terrors gefangen, dem sie zwar 1987 entfliehen konnte, deren allmächtiger Geheimdienst aber mit seinen Krakenarmen bis nach Berlin reichte.

Nein, Herta Müller ist zwar von einer überwältigenden Sprachkraft, aber es geht ihr nicht um Formales. Es geht ihr um Existenzielles: um das (Über)Leben in einem totalitären System. Ein System, wie es heute in Iran oder Afghanistan herrscht – oder auch innerhalb von Familien, in denen Wort und Faust des Tyrannen Gesetz sind.

Frauen, zur Zwangsarbeit in Sowjetlager
Rumänien, das Land, aus dem Herta Müller kommt, hat im 20. Jahrhundert im Dienst der beiden mächtigsten Dunkelmänner gestanden: Bis 1944 war das Land faschistisch, danach stalinistisch. Im Januar 1945 verschleppten die neuen Diktatoren alle in Rumänien lebenden Deutschen zwischen 17 und 45, Männer wie Frauen, zur Zwangsarbeit in Sowjetlager. So auch Hertas Mutter und den damals 17-jährigen Oskar Pastior. Sie schwieg, er redete, und mit ihm hatte Herta Müller diesen neuen Roman eigentlich zusammen schreiben wollen. Doch Pastior verstarb plötzlich. Also lässt sie ihn jetzt seine Geschichte in ihren Worten erzählen.

Pastiors Ausgeliefertsein und Fremdsein ist ein doppeltes: als heimlicher Homosexueller aus der Kleinstadt und als Rumäniendeutscher in einem Land, in dem schon diese Herkunft ein Makel war. Das größte Grauen für ihn und alle Lagerinsassen war der "Hungerengel". Der lässt auch Hertas Mutter bis heute die Äpfel so hauchdünn schälen – in einem einzigen, sich kringelnden Streifen – dass kein Gramm verloren geht.

Der dunkle Kern der Willkürherrschaft
Doch wie darüber reden? Wie darüber schreiben? So wie Herta Müller. Sie dringt mit jedem Wort, jedem Satz, jedem Buch tiefer vor in den dunklen Kern der Willkürherrschaft und in die Wunden, die diese schlägt. Und das mit Worten, die uns ergreifen und innehalten lassen.

"Herztier" heißt einer ihrer Romane. Dieses Wort hatte sie als kleines Mädchen in Nitzkydorf aus dem Mund der Großmutter aufgefangen. Und sie verschmolz das altmodische Deutsch der versinkenden Welt der schwäbischen Enklave des Banats mit dem sinnlichen, bilderreichen Rumänisch, das auch die Diktatoren nicht zerstören konnten. Als Herta dann mit 15 vom Dorf in die Stadt ging, stieß sie auf weitere erstaunliche Wörter. Wörter wie "Mundhimmel", wie der Gaumen auf Rumänisch heißt.

Mit dem fremden Blick
Die Kritik entdeckte bei Herta Müller rasch den "fremden Blick". Doch den hat sie nicht nur, weil sie das Deutschen-Kind in Temeswar und die Rumänin in Deutschland ist. Den hat sie auch als Kind einer Mutter, die die Deportation nur knapp überlebte, sowie eines Vaters, der SS-Mann war. Und sie hat ihn als Rechtlose in einem Land, dessen Diktator und seine Helfer alles und alle unterwarfen und kontrollierten. Ihr "fremder Blick" beobachtet die so bedrohliche Welt genauestens.

"Ich sehnte mich nach 'normalem' Umgang und versperrte mir ihn, weil ich nichts auf sich beruhen ließ", schreibt Müller in ihrem Essayband "Der König verneigt sich und tötet". Und sie fährt fort: "Ich glaube, nach außen war mir nichts anzumerken. Darüber zu reden, kam mir gar nicht in den Sinn. (…) Ich hatte für mich selbst keine Worte dafür. Ich habe bis heute keine."

So wissen wir noch lange nicht alles, aber doch viel: über das kleine Mädchen auf der Kuhweide, das sehnsüchtig den Zügen hinterher schaut; über die in Verhören bedrohte und willkürlich schikanierte Studentin und Übersetzerin in Temeswar; über die Tochter einer verstummten Mutter.

Deutschsprachige Literaturnobelpreis-Trägerinnen
Auch die beiden Schriftstellerinnen deutscher Sprache, die vor Herta Müller den Literaturnobelpreis erhielten, sind Überlebende. Nelly Sachs, die 1966 geehrt wurde, floh als deutsche Jüdin ins schwedische Exil. Und der Vater der Wienerin Elfriede Jelinek, die 2004 den Nobelpreis erhielt, entkam als Jude nur dank der Solidarität seiner katholischen Ehefrau, weite Teile seiner Familie wurden im KZ ermordet. Beider Werk ist tief gezeichnet von diesen Schicksalen.

Und auch der jetzt geehrten Autorin geht die so modische Beliebigkeit des Seins ganz und gar ab. Cool sein wird Herta Müller nie. Wer das überlebt hat, schweigt oder redet Klartext. So dürfen wir schon jetzt gespannt sein auf ihre Rede, wenn sie als dritte deutsch schreibende Schriftstellerin am 10. Dezember in Stockholm den Nobelpreis entgegennehmen wird.

Alle Bücher von Herta Müller bei Hanser und im Fischer-Verlag; das Hörbuch "Die Nacht ist aus Tinte gemacht", in dem Müller selbst ihre Kindheit erzählt, bei supposé.

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