Emanzipierte Märchenwelt

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Es begann ganz einfach. Ein simpler Kinderwunsch. Ein schönes Märchenbuch auf der kleinen Buchmesse meiner Grundschule, großformatig mit Dünndruckseiten und Goldschnitt und herrlich schmuckem Einband, auf dem eine schöne lächelnde Prinzessin mit Spitzenhut hinter ihrem Prinzen auf den Palast zureitet. Zwischen den Deckeln waren die beliebtesten Geschichten der Brüder Grimm versammelt. Nichts bereitete mir größere Freude. Damals ahnte ich nicht, dass ich 30 Jahre später in verstaubten Archiven und Bibliotheken eine völlig andere Märchenwelt entdecken sollte: die zauberhaften Kleinode der zu ihrer Zeit beliebtesten und erfolgreichsten, heute aber vergessenen Autorinnen des 19. Jahrhunderts. 

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Unter ihnen berühmte historische Persönlichkeiten wie Katharina die Große oder Elisabeth, Königin von Rumänien; und Schriftstellerinnen wie Bettine von Arnim, Fanny Lewald oder Marie von Ebner-Eschenbach; aber auch radikale Frauenrechtlerinnen wie Louise Dittmar und Hedwig Dohm. 

Jede zweite dieser Märchenerzählerinnen war darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt allein zu bestreiten. Doch alle glaubten an die Chance gesellschaftlicher, sozialer und rechtlicher Verbesserungen, an Emanzipation durch Bildung und weibliche Solidarität. Und sie engagierten sich dafür, auch in ihren Märchen. 

Da es in fast keinem der deutschen Staaten vor 1870 Schulcurricula oder ­höhere Bildung für Mädchen gab, genossen die meisten dieser Märchenerzählerinnen nur eine dürftige Schulausbildung, die selten über die 8. Klasse hinaus ging. ­Damals war der „natürliche“ Beruf für eine Frau der einer aufopferungswilligen Gattin und Mutter. Alleinstehende wurden mit Skepsis betrachtet und hatten kaum Erwerbsmöglichkeiten, außer durch Heimarbeit, als Kindermädchen oder ­Erzieherin, später auch als Lehrerin. 

Die engagierten Frauen gründeten Mädchenschulen oder organisierten Initiativen für Alleinerziehende, Verwitwete und Waisen. Sie richteten Armenschulen und Arbeitsschulen für Mädchen aus den niederen Ständen ein. Und es gab auch großangelegte Projekte, wie die von der Königin von Rumänien geförderte Heimarbeitsindustrie und ihre Handarbeits-vereine, die sich zu Bildungseinrichtungen für Frauen und Mädchen entwickelten. 

Diese Märchenerzählerinnen ließen es jedoch nicht beim gesellschaftlichen Engagement bewenden, sondern wurden auch politisch aktiv: Im Vorfeld der organisierten Frauenbewegungen verfassten sie Texte zur Verbesserung der Mädchenausbildung und hielten Vorträge zur Gleichstellung der Frauen in der Arbeitswelt oder Ehe und plädierten für die höhere Achtung alleinstehender Frauen. Hedwig Dohm (1831–1919) etwa, die radikalste der frühen Frauenrechtlerinnen, kämpfte kühn für das Frauenwahlrecht. 

Für die meisten waren ihre Märchen die Erstlingswerke als Schriftstellerin. Um 1800 gab es nur etwa ein Dutzend Märchenautorinnen im deutschen Sprachraum, bis zum Ende des Jahrhunderts stieg die Zahl auf rund 400 Autorinnen an. Sie veröffentlichten über 700 Märchen und Märchenbücher. 

Doch wie kamen diese Frauen dazu, ausgerechnet Märchen zu schreiben? Im damaligen Literaturverständnis wurden Märchen und Schriften zur Kindererziehung als geeignete Gattungen für „das schöne Geschlecht“ angesehen. Das Märchen war als „kleine Form“ den Frauen überlassen, während die „hohe“ Literatur den Männern vorbehalten blieb. Und so machten die Frauen aus der Not eine ­Tugend. Sie setzten Realität und Sehnsüchte in unscheinbare literarische Texte, in Sinnbilder um, so dass die Leserinnen neue Lebensmuster und Formen des weiblichen Daseins für sich entdecken konnten. Das Märchen eignet sich dazu auf ideale Weise, weil es vordergründig eine Dichtung der Verwandlung ist. 

In den Grimms Märchen meiner Kindheit retteten tapfere Jungs schweigsame und gefügige Mädchen, starke und willenskräftige Frauen spukten durch die Geschichten als böse Hexen, Könige und Väter hatten das Sagen über Volk, Kinder und Frauen. Die Märchen der Erzählerinnen im 19. Jahrhundert sind scheinbar ganz normale Märchen, deren Handlungen und Akteure uns bereits vollständig geläufig sind: das kinderlose Ehepaar, das sich sehnlichst Nachwuchs erhofft; vorwitzige Mädchen, die verbotene Orte aufsuchen; Feen, die magische Geschenke verteilen; Jungen, die in die weite Welt hinaus wollen; Nixen, die durch die Liebe zu einem Menschen eine Seele erringen wollen. Aber in den Märchen der Frauen geht es um Transformation und Herstellung einer Utopie aus weiblicher Sicht. 

Der Akzent liegt auf dem Werdegang und der Transformation der Heldinnen. Märchen weiblicher Autoren enden meist auch positiver als gewohnt. Das neugie-rige Mädchen wird nicht bestraft, sondern letztlich für ihr forsches Handeln sogar belohnt. Die Verzauberte wartet nicht auf männliche Hilfe von außen, sondern entzaubert sich selbst und setzt neue Kräfte zur Bewältigung ihres Lebens frei. Die Mittel und Wege zu dieser Selbstbefreiung liegen im Lernen, im sich selber „die Hände schmutzig machen“. 

Diese Heldinnen auf Selbsterfahrungskurs haben Erfolg, da sie die Unterstützung der weiblichen Gemeinschaft zu nutzen wissen. Starke, selbstbewusste Frauen erscheinen als Patinnen, Hexen oder alte Tanten, die zur Bildung von ­Fähigkeit und Charakter ihrer Schützlinge beitragen und sie den unterschiedlichsten Prüfungen und Erfahrungen aussetzen. Sie belohnen einen erfolgreichen Werdegang dann nicht mit Gold und Silber, sondern mit geistigen Gaben wie Intelligenz, Selbsterkenntnis und Weisheit. Die Märchenfiguren vertrauen auf sich selbst, entwickeln Stehvermögen und Bestimmtheit und schaffen so ihre soziale Unabhängigkeit vom anderen Geschlecht. 

Im Brennpunkt dieser Selbsterfahrung stehen solidarische Frauen, die als selbstbestimmte soziale Wesen ihren eigenen märchenhaften Bildungsgang mit Hilfe ihrer Lehrerinnen und Patinnen gestalten. Die Akteurinnen finden eine eigene Stimme, sprechen sich gegen soziale Ungerechtigkeiten aus, widerstehen den Anord-nungen und Regeln, wie zum Beispiel Hedwig Dohms Prinzessin in „Blumenduft“, als sie dem Vater entgegen tritt und auf ihrem Recht zur Arbeit und eigener Partnerwahl beharrt. Oder die Handelnden lernen Natur und Pflanzen verstehen, statt der Sprache und dem Machtdiskurs der Könige und Mächtigen zu folgen. Hier geht es also um die eigene Stimme. 

Wohl aus eigener Erfahrung betrachten die Autorinnen das typisch märchenhafte Happy End – das Eheglück – mit Skepsis. Für diese Dichterinnen sind nicht mehr die vorgegebenen Konventionen das Happy End, in denen eine Frau gut aufgehoben ist, aber unmündig bleibt. Ihre Heldinnen streben nach Emanzipa-tion. Sie werden alle „Herrin des eigenen Schicksals“ à la Simone de Beauvoir. 

Es waren nicht erst die feministischen Autorinnen der 1980er Jahre, die Dornröschen die Heckenschere in die Hand gaben – die Schriftstellerinnen im 19. Jahrhundert hatten dies längst getan. Den Mut, sich gegen Konventionen zu stellen, zeigen heute immer mehr Frauen, und die Entschlossenheit von Pussy Riot oder den Femen mutet märchenhaft an. Ganz so wie die Geschichten aus der Feder der Märchendichterinnen des 19. Jahrhunderts. 

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"Im Reich der Wünsche. Die schönsten Märchen deutscher Dichterinnen" (C.H. Beck). 

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