"Lehrt Söhne, nicht zu vergewaltigen!"

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Zwei Beamte der Erziehungsbehörde vergewaltigen Mädchen in den Stammesgebieten; 16-Jährige in Delhi mit vorgehaltenem Messer vergewaltigt; Lehrer wegen Vergewaltigung einer Schülerin verhaftet; Massenvergewaltigung einer 32-Jährigen in Bihar, ihr Leichnam wurde anschließend an einem Baum aufgehängt gefunden; versuchte Vergewaltigung einer geistig Behinderten in Haryana; Uttar Pradesh: minderjähriges Mädchen versucht sich nach sexuellem Übergriff durch Selbstverbrennung umzubringen; Delhi: 14-Jährige von zwei Nachbarn vergewaltigt; Punjab: Massen-Vergewaltigung einer 29-Jährigen in einem fahrenden Bus. Also wieder ein Bus. Die Polizei verhaftet sechs angebliche Täter.

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Vor der Vergewaltigung der jungen Studentin in Delhi wäre all das wohl kaum eine Nachricht wert gewesen. Doch die Brutalität der Tat hat in Indien etwas verändert: Man schaut schockiert auf diese Verbrechen. In den großen Städten zumindest, bei Justiz und Polizei, vielleicht sogar in der Politik. Ob das so bleibt, ist freilich eine ganz andere Frage. Aber die jungen Frauen und die vielen jungen Männer, die zum ersten Mal ebenfalls für Frauen-Rechte demonstrieren, sind entschlossen, der Obrigkeit weiter Dampf zu machen.

Zwar sind die täglichen Demonstrationszüge kleiner geworden, aber im nachtkalten Delhi kommen bei Temperaturen von fünf Grad immer noch einige Hundert nach der Vorlesung oder nach Büroschluss zusammen, um Gerechtigkeit für Frauen einzufordern. Twitter, Facebook und Handys haben auch in Indien die Demonstrationskultur verändert.

Das Untersuchungsgericht in Delhi, dem ein 600 Seiten starkes Dossier der Anklage vorliegt, hat am Montag die Untersuchungshaft der fünf Beschuldigten verlängert und wird nun den Fall an eines der fünf neu eingerichteten Schnellgerichte übergeben. Dort soll täglich verhandelt werden, sensationell in diesem Land, wo Vergewaltigungsdelikte meist gar nicht vor Gericht kommen oder jahrzehntelang liegen bleiben, wie im Fall eines minderjährigen Mädchens, das 1996 in Kerala von 42 Männern 40 Tage lang missbraucht wurde, und das immer noch auf ein Urteil wartet…

Ob es nun in Delhi, wie angekündigt, in spätestens drei Monaten zum Abschluss des Verfahrens kommt, ist allerdings fraglich. Denn drei der Beschuldigten wollen auf „nicht schuldig“ plädieren, darunter der als Anführer bezeichnete Busfahrer Ram Singh, der – so die Anklage – „den Bus mit dem Plan entwendete, irgend eine Frau aufzugreifen, um sie mit seinen Genossen zu vergewaltigen“. Die Aussicht, nun bekannt zu werden, hat den mutmaßlichen Tätern aber inzwischen Pflichtverteidiger beschert. Vor allem Anwalt M. L. Sharma ist bekannt für seine Profilierungssucht. Seine letzte Prozesssache wurde vom Obersten Gericht in Delhi als albern und unernst zurückgewiesen. Sharma behauptet, seine Klienten seien unter Folter gezwungen worden, Verbrechen zu gestehen, die sie nicht begangen hätten. Auch sei ihnen zunächst juristischer Beistand vorenthalten worden, ein Vorwurf, der das ganze Verfahren in die Länge ziehen könnte.

Die neuen Schnellgerichte für Sexualdelikte sind nicht unumstritten. Auch Altamas Kabir, der Oberste Richter Indiens, warnt vor Schnellverfahren, wenn sie auf Kosten eines fairen Prozesses durchgezogen würden. Während die Politik sich weiter versteckt und verstummt, ist es aber dieser Richter, übrigens ein Muslim, der für die Frauen handelt. Er war es, der Vergewaltigungen ein Verbrechen nicht nur gegen den Körper, sondern auch an der Seele nannte. Er war es auch, der anordnete, zukünftig weibliche Richter und weibliche Polizei in aufzustockender Zahl bei Verbrechen gegen Frauen einzusetzen, die bislang nicht funktionierenden Hotlines für Frauen erreichbar zu machen, und dunkle Scheiben und Vorhänge in Bussen zu verbieten.

Noch ist nicht klar, wie mit dem sechsten Beschuldigen verfahren wird. Er behauptet, 17 zu sein, und käme, falls das stimmt, mit einer Höchststrafe von drei Jahren davon. Das heizt den Volkszorn auf, und so wollte denn auch das angesehene Magazin India Today von seinen Lesern wissen: „Soll ein 17-Jähriger hängen, weil er alt genug ist, zu vergewaltigen; alt genug, um anderen bei einer Vergewaltigung zu helfen; alt genug, um eine Eisenstange zu benutzen und ein Mädchen zweieinhalb Stunden zu quälen?“

Die Wut gerade bei den jungen Mittelstands-Indern der Städte ist nach wie vor groß; auf dem Land herrscht dagegen ängstliches Schweigen. Aber hier finden die meisten der Vergewaltigungen statt, die bekannt werden, laut Statistik alle 21 Minuten eine. Von Tausenden anderen erfährt die Öffentlichkeit freilich nie etwas.

Dass die westlichen Medien sich in diesen Tagen so ausführlich mit der gegen Frauen gerichteten Gewalt beschäftigen und Indien als ein Land mit verkrusteten archaisch-patriarchalisches Strukturen aussondern, empört viele Intellektuelle. Gewiss, auch hierzulande gibt es jede Menge Vergewaltigungen, auch hier sind Diskriminierung und Verbrechen an Frauen an der Tagesordnung, auch hier wird männliche Gewalt nur unzureichend verfolgt und bestraft. Eines allerdings ist anders. Noch können wir Frauen uns auf den belebten Straßen unserer Innenstädte bewegen, ohne Angst zu haben.

Die Autorin war 20 Jahre lang Asien-Korrespondentin der Zeit. Sie hat im September 2009 "LIFT e.V - Zukunft für indische Mädchen" mitgegründet, ein Verein, der „Anugraha", ein Mädchenheim im indischen Südstaat Karnatataka unterstützt. Dort werden etwa 40 Mädchen zwischen fünf und 16 Jahren ernährt, gekleidet, unterrichtet - und beschützt. Venzky besucht das Heim regelmäßig. Spenden sind mehr als willkommen: LIFT e.V., KTO 1009 300 003, Hamburger Sparkasse, BLZ 200 505 50. 

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