Irmtraud Morgner: Amanda - ein Hexenroman

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Sirene Katharina (die Große) fristet ihr Dasein in Sibirien. Beatriz, die Sirene mit dem Frauenkopf und dem Eulenkörper, das ihre in einer Volière im Ost-Berliner Zoo. Stimmlos und krächzend ritzt sie dort mit ihren Krallen den "Hexenroman" auf's Papier: die zweite Folge der von Morgner angekündigten Triologie, deren erster Teil die "Trobadora" war. Beatriz kennt sie alle: die Frauenwelten, die Männerwelten und die Utopien. Ihr Wissen, Fühlen, Schöpfen ist mächtig. Zu mächtig für diese Zeiten? Ihr Preis: die Einsamkeit.

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Beatriz Stimme ist ausgeschlagen, doch ihre Flügel konnten nicht gestutzt, ihre Krallen nicht gestumpft werden. So gibt sie Zeugnis von der wahren Geschichte der Laura Amanda Salman, gespalten in Laura und Amanda. Laura, Triebwagenführerin und Mutter von Wesselin in Ost-Berlin, gehörend "von Geburt an zu der raren Sorte der weiblichen Querköpfe". So gelang die Spaltung nicht ganz. Laura steht in Kontakt mit Amanda. Amanda, die Anführerin der hexischen Unterwelt-Organisation, die den Raben die Brockenmacht entreißen will.

Hier das 116. Kapitel: "Amanda auf der Flucht".
Laura ließ sich von Isebel auf dem Dach der Berliner Volksbühne absetzen. Nach kurzem Verschnaufen mit Blick auf das Liebknechthaus und das Filmtheater Babylon stieg Laura über Bühnentreppen ab, begab sich zum Luxemburgplatz und fuhr mit der U-Bahn bis Station Stadtmitte.

Auftauchen aus dem Schacht. Kellerluft blieb zurück. Abgasluft und Steinspalier empfingen Laura. Das Spalier wurde vom Deutschen Dom und Hochhäusern gebildet. Die Eröffnungen der elektronischen Nachtmusik hatten Laura befähigt, beim Anblick der Hochhäuser Leipziger Straße wenn nicht Wohlgefallen, so doch Wohlsein zu empfinden. Und sie gedachte ihres Sohnes in Dankbarkeit. Und ihrer Freundin Vilma gedachte sie ebenso. Denn seitdem sie deren Rat befolgt und die Antibabypille in den Müll geworfen hatte - in Erwartung von Abstinenzerscheinungen, aber wenns Laura so schlecht geht, daß es ihr kaum schlechter gehen kann, wagt sie alles - fühlte sie sich rundum wie aufgetaucht. Und jeden Tag ein bißchen aufgetauchter. Und Swing war wieder unter den Sohlen, wenn sie über die Straße lief. Swing wie einst - und Laura hatte schon gedacht, der wäre ihr altershalber und auf Nimmerwiederkehr verloren. Und Wind unter den Armflügeln auch wie einst. Und weg das Korsett der Gleichmaßstimmung, nur enger schnürbar bis zur Depression, nicht zu lockern. Die gefürchtete Abstinenzerscheinung war plötzlicher Zuwachs an: Kraft, Lebenslust, Mut.

Fasziniert von ihrem listigen Plan und voll Tatendrang fuhr Laura ins 21. Stockwerk und ging in ihre Wohnung.

In der Wohnung: Amanda.

Hinter den Fenstern Lärm.

Amanda saß unterm Tisch und verlangte die neun Liter.

Der neuerliche Überraschungsschlag ging über Lauras Empfindungskräfte. Also, daß sie die verließen. Laura stand stumpfsinnig.

Amanda verlangte unverzüglich das bestellte Beschwörungselexier um die Reserven mobilisieren zu können. "Bedaure", lallte Laura in den Lärm, "Tenner hat die Hexenküche demoliert." Laura schleppte den Karton mit den Trümmern als Beweis herbei. Amanda erklärte mit blassem Mund, ihr Verdacht würde von Lauras Aussage und den Beweisstücken bekräftigt. Daß Verrat im Spiele wäre, ahne der Hörselberg längst. Die Verhaftungswelle in Vorbereitung des Hexenprozesses gegen die Oberhexe Asta Ravil drohe die Hörselberg-Hexen ihrer Führung zu berauben. Tenner stehe unter dringendem Verdacht. Amanda verlangte weitere Angaben zur Person.

"Ich kenne keine Person", murmelte Laura.

"Aber du hast doch Konrad Tenner sogar näher kennengelernt", sagte Amanda keuchend und zitternd.

"Mit Vergnügen", sagte Laura, vermutete Eifersucht bei Amanda und spürte selbst welche.

Amanda vermutete Eifersucht bei ihrem Stammkunden Tenner. Von blinder, rasender Eifersucht würden vor allem Menschen geschlagen, die es selbst faustdick hinter den Ohren hätten. Tenner verdächtigte Vilma ständig, weil er von sich auf sie schlösse. Auch hielte er viel zu viel von seiner Art, als daß er glauben könnte, eine Frau erträume nicht immerzu neue Männerbekanntschaften. Und er hielte genug auf Vilma um zu wissen, daß so eine Persönlichkeit ihm nicht treu sein kann allein aus Treue. Warum aber dann?

Laura lauschte stieren Blicks aufs Fensterklirren, das vom Lärm erzeugt wurde.

Amanda sprach: "Wenn man Männern wie Tenner reinen Wein einschenkt, drehen sie durch. Ich konnte ihm also nicht sagen, Vilma geht nicht fremd, weil ihr das derzeitige Männerangebot langweilig erscheint. Oder, daß nur jugendlicher Hormondruck ihr kurzzeitig hatte begehrenswert erscheinen lassen, was von Kultur fade ist - nicht von Natur. Oder, daß ihr die Zeit für Männer zu schade ist, weil sie interessantere Beschäftigungen kennt. Durchdrehende, Raben sind nämlich noch unerträglicher als drohende. Tenners ständige Drohung: ,Wenn du mich bei Vilma verpfeifst, verpfeif ich dich auch.' Ich hielt das Gerede bislang für eine leere Drohung und Tenners Panik für echt. Er kann ohne Mutter nicht leben. Zu kühnen Abenteuern mit großen Geistern und Mätressen kann er nur vom sicheren Port aus starten. Wer ihm die mütterliche Höhle als stete Zuflucht nimmt, verletzt ihn tödlich. Vilma hat diese Höhle darzustellen. Ist die Frau irgendwie gehindert an dieser Aufgabe?" „Sie war", schrie Laura gegen den anschwellenden Lärm. „Isebel hat aber alles zu richten versprochen."

Als Amanda den Namen Isebel hörte, erbleichten auch ihre Hände. Und sie machte den Sexismus der HUU für die derzeitige Verhaftungswelle und Rabenhysterie indirekt verantwortlich. Aber die HUU-Bewegung übernähme ja nicht nur den Sexismus der Durchschnittsraben einfach mit anderem Vorzeichen. Sie übernähme auch deren instrumentales Denken und deren Machtvorstellungen. Und was das Schlimmste wäre und geradezu katastrophal für die bevorstehende Schlacht: Isebel könnte sich unter Schlacht nur eine Feldschlacht vorstellen. Statt jahrtausendealte weibliche Erfahrungen nutzbar zu machen, hinge die HUU-Leitung männlichen ,Kriegskünsten' an, die Machtapparate voraussetzten. Gegen diese ,Kriegskünste' - das Wort schon ginge nur widerwillig über die Zunge - könnten Hexen nur etwas ausrichten, wenn sie aus ihr ausstiegen.

Isebels Strategie aber unterschiede sich nicht prinzipiell von der des Oberteufels. Der Oberteufel Kolbuk hätte den Wachen Order gegeben, im Falle einer drohenden Erstürmung des Gralmagazins den Stein der Weisen erster und zweiter Ordnung zusammenzuwerfen und zu entzünden. Trinkgold und Trinksilber unter Feuer gemischt aber explodiert mit solcher Wucht, daß die totale Vernichtung der Eroberer, der Eroberten und des gesamten Blocksbergs garantiert wäre. Isebels Strategie sähe im Falle einer drohenden Niederlage des Hexenaufstands die gleiche Perversion vor. Ohne den Verbrauch radikaler Lebensschätze für den radikalen Tod als Perversion zu empfinden. Gewohnheiten im Denken wirkten derart verdummend, daß sogar viele Hexen den teuflischsten Wein nicht erschmecken könnten und ihn in ihre revolutionären Schläuche füllten. „Wir beide müssen den Blocksberg vor Wahnwitzigen retten", sagte Amanda.
„Ich brauch keinen Blocksberg für Utopien", entgegnete Laura. „Eine einzige Insel als Hinterland für mich reicht mir vollkommen..."

„Oh Blödheit, ist dein Name auch Weib", fragte Amanda verzweifelt und stemmte die Tischplatte mit den Händen. „Wenn die Geschichte nur bewiesen hätte, daß die Männer, solange sie Geschichte machten, alle Künste beherrschten bis auf die, die Welt zu regieren, könnte das stete Kriegführen ja noch eine Weile fortgehen. Aber leider ist der historische Punkt erreicht, da der Mangel der Regierer nicht nur ihre Existenz oder die der von ihnen Regierten vernichten kann, sondern alles was kreucht und fleucht auf Erden samt ihr. Die Unfähigkeit zu Hegen - eine durch Kultur erworbene Männereigenschaft - kann plötzlich nicht mehr als Kavaliersdelikt hingenommen werden wie gewohnt. Plötzlich kann an dieser Unfähigkeit die Erdenwelt zerscheitern. Plötzlich wird die Fähigkeit zu Hegen - eine durch die Spezialisierungskultur bisher allein bei Frauen hochentwickelte Eigenschaft für private Zwecke -für die größten öffentlichen Zwecke unentbehrlich.

Wie aber die Eigenschaft ohne Wachstumszeit und Streitgelegenheit als großes Denken in die Welt bringen, da Politik Experimente ausschließt? Ausschließen muß: nach Fehlversuchen in der Politik kann nicht wie im Labor neu angefangen werden. Deshalb lassen, sich die für die Weltgeschichte nicht länger entbehrlichen weiblichen Erfahrungswerte nur auf dem Blocksberg schnell experimentell in nutzbare Formen bringen. Nur mit Eule könnte diese Schwerarbeit geleistet werden. Nur sie könnten den Ort der doppelten Moral zum Ort der dringlichen Utopie modeln. Der Brocken Blocksberg als alte Heimat der Seher könnte zur neuen Heimat der Retter werden: das heißt zur Heimat der Friedensforscher. Und die wenigen Rabenausnahmen-, die jetzt belächelt nach alter Seherweise fortwirken, könnten dann endlich wieder undiskriminiert spekulieren und durch ihr Beispiel auch Mitläufer der Puffkultur mitreißen. Die jetzt diskriminierten Kolkraben werden die ersten Verbündeten der Eulen sein. Und was die Puffhexen gegenwärtig zur Erhaltung des heilen Moralbilds der DDR leisten, könnte genausogut von Heiratsschwindlerinnen erledigt werden. Bist du also bereit?"

„Wozu", fragte Laura.

„Hörst du nicht, daß die Razzia hinter mir her ist. Wir müssen uns zusammentun und die Führung übernehmen, bevor sie uns kriegen und aburteilen, verstehst du das? Der Umsturz ist nicht länger aufschiebbar. Er muß jetzt stattfinden, wenn er siegreich werden soll. Jetzt oder nie!"

„Isebel hat mir jeglichen Umgang mit dir verboten und gedroht, bei Ungehorsam Kolbuk den Beatrizroman zur Lektüre zu empfehlen", schrie Laura gegen den Lärm.

Die Schimpfworte prasselten jetzt wie Platzregen.

Amanda beschwor Laura, sich nicht erpressen zu lassen.

„Von wem", entgegnete Laura. Der Erpressertrinität Kolbuk -Zacharias - Isebel könnte nur durch List entkommen werden. Laura brauche für sich und Wes-selin kein Orplid auf dem Blocksberg oder anderswo, sondern ein eigenes Orplid. Endlich eine eigene Insel, die Sicherheit gibt vor Bedrohung und Vertreibung. . . „Ich will mich nicht strafbar machen", zeterte Laura, „ich will nicht und ich kann nicht. Ich' muß an Wesselin denken. Und du solltest auch an ihn denken und sofort meine Wohnung verlassen, bevor du bei mir entdeckt wirst und mich mit reinreißt. - Raus!" „Zu spät", zischte Amanda, "hörst du die Herren fluchen? Sie sind mir auf der Spur. Da nützt der Besen einen Dreck. Unmöglich, aus der Falle hier zu starten. Eulen-Orplid ade, wenn ich gefangen zum Blocksberg zurückkehre. Er verfügt inzwischen über gute Morseexperten. Fachleute von der Zacharias-Oberwelt, wird gemunkelt. Die Zusammenarbeit der beiden Jenseitsmächte scheint immer besser zu funktionieren. Das Schimpfwortduett von Oberteufel und Oberengel läßt auch an Perfektion nichts zu wünschen übrig - hörst dus gut, verstehst dus gut?"

Laura hörte die Schimpfworte in folgenderReihenfolge: "Schlampe - Dreckamsel -Heulsuse - Schnecke - Schrulle - Ziege - Großmutter - Tunte -Schreckschraube - Kuh - Quatschliese - Klatschbase - Quasselstrippe - Waschweib - Dreckschleuder - Mistkrücke - Schmeißfliege - Rattengewitter - Säuferin - Hündin - Stute - Kuppelmutter - Fettel - Lustgreisin - geile Mumie - Hure -Schnalle - Möse - Fickdrossel - Spagatscheißerin - Schwanzleckerin - Masochistin - Sadistin - Fotze - Nymphomanin - Libertinistin - Lesbe - Klugscheißerin - Schreibtischnutte - Logikbestie - Denksau - Intellektuelle - Schlange - Krähe - Weibsbild - Hexe - Eule."

Während die Schimpfwortarie wiederholt wurde, kroch Amanda unterm Tisch hervor, erhob sich gefaßt und sprach: "Ein Zufluchtsort der doppelten Moral muß auch dem Sozialismus mehr als schaden. Schloß Blocksberg mit Dependance Hörselberg besorgen nämlich, daß patriarchalische Gewohnheiten nicht aussterben. Ein Sozialismus aber, der die Männervorherrschaft nicht abschafft, kann keinen Kommunismus aufbaun. - Die Entschiedenheit meiner Häscher zwingt mich, dir entschieden mitzuteilen, daß ich - wenn mir die Flucht aus der Falle gelingt - Wesselin als Adjutanten aushebe. Er kann meine andere Hälfte nicht ersetzen, aber er ist ein Stück von dir. Was würdest du dazu sagen?" "Ich würde mich aus dem Fenster stürzen", antwortete Laura.

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